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Wladimir I. Lenin 19020102 Der Beginn der Demonstrationen

Wladimir I. Lenin: Der Beginn der Demonstrationen

[Iskra", Nr. 13, 20. Dezember 1901/2. Januar 1902. Nach Sämtliche Werke, Band 4.2, Wien-Berlin 1929, S. 104-107]

Vor zwei Wochen vermerkten wir, dass seit der ersten sozialrevolutionären Demonstration in Russland, die am 6. Dezember 1876 auf dem Kasaner Platze in Petersburg stattfand, 25 Jahre vergangen waren, und wiesen auf den gewaltigen Aufschwung der Demonstrationsbewegung zu Beginn des laufenden Jahres hin.1 Wir sagten, dass die Demonstranten eine konkretere politische Losung aufstellen müssen als „Land und Freiheit" (1876), eine umfassendere Forderung als die „Aufhebung der Provisorischen Bestimmungen" (1901). Eine solche Losung muss die politische Freiheit sein, eine solche Forderung des gesamten Volkes – die Forderung der Einberufung der Volksvertreter.

Nun sehen wir bereits, dass die Demonstrationen sich aus den verschiedensten Anlässen wiederholen, sowohl in Nischni als auch in Moskau und in Charkow. Die Erregung wächst überall und immer dringender wird die Notwendigkeit, sie zu einem einzigen Strom zusammenzufassen und gegen den Absolutismus, der überall Willkür, Unterdrückung und Gewalt sät, zu lenken. In Nischni war eine kleine, aber gut verlaufene Demonstration am 7. November durch das Abschiedsgeleit für Maxim Gorki hervorgerufen worden. Der Schriftsteller von europäischem Ruf, dessen einzige Waffe – wie der Redner der Nischni-Nowgoroder Demonstration richtig bemerkte – im freien Wort bestand, wird von der absolutistischen Regierung ohne Untersuchung und Gerichtsverfahren aus seiner Vaterstadt ausgewiesen. „Die Baschi-Bosuks beschuldigen ihn eines schlechten Einflusses auf uns" – sagte der Redner im Namen aller Russen, in denen auch nur ein Funken von Streben nach Freiheit und Licht lebendig ist – „wir aber erklären, dass das ein guter Einfluss war." Die Zarenknechte verüben ihre Untaten im Geheimen, wir aber werden sie aufdecken und der Öffentlichkeit preisgeben. Man misshandelt bei uns Arbeiter, die ihr Recht auf ein besseres Leben verteidigen, man prügelt bei uns Studenten, die gegen die Willkür protestieren, man unterdrückt bei uns jedes ehrliche und mutige Wort! Die Demonstration, an der sich auch Arbeiter beteiligten, schloss mit dem feierlichen Vortrag eines Studenten: „Die Gewalt wird gestürzt, es erhebt sich das Volk, das machtvolle, starke und freie."

In Moskau wurde Gorki von Hunderten von Studenten auf dem Bahnhof erwartet, und die erschreckte Polizei verhaftete ihn unterwegs im Eisenbahnwagen, verbot ihm (trotz der vorher speziell erteilten Erlaubnis) die Einreise nach Moskau und zwang ihn, sich direkt von der Nischni-Nowgoroder Bahn auf die Kursker Bahn zu begeben. Die Demonstration gegen die Ausweisung Gorkis ist nicht gelungen, aber aus Anlass des Verbotes einer Gedächtnisfeier für N. A. Dobroljubow, dessen Todestag am 17. November sich zum 40. Male jährte, fand am 18. ohne jede Vorbereitung eine kleine Demonstration von Studenten und „außenstehenden Personen" (wie sich unsere Minister auszudrücken pflegen) vor dem Hause des Generalgouverneurs statt. Der Vertreter der absolutistischen Regierung in Moskau wurde von Leuten ausgepfiffen, denen, wie allen gebildeten und denkenden Menschen in Russland, der Schriftsteller teuer ist, der die Willkür leidenschaftlich hasste und den Volksaufstand gegen die „inneren Türken" – gegen die absolutistische Regierung – leidenschaftlich erwartete. Das Exekutivkomitee der Moskauer Studentenorganisationen hat in seinem Bulletin vom 23. November mit Recht darauf hingewiesen, dass diese unvorbereitete Demonstration ein deutliches Anzeichen der Unzufriedenheit und des Protestes sei.

In Charkow wurde die Demonstration, die durch Studentenangelegenheiten hervorgerufen worden war, zu einer richtigen Schlägerei, an der nicht nur Studenten teilnahmen. Die Erfahrung des vergangenen Jahres ist für die Studenten nicht ohne Nutzen gewesen. Sie haben begriffen, dass nur die Unterstützung durch das Volk und hauptsächlich die Unterstützung durch die Arbeiter ihnen den Erfolg sichern kann, und dass sie, um diese Unterstützung zu erhalten, nicht nur für die akademische Freiheit (der Studenten), sondern für die Freiheit des ganzen Volkes, für die politische Freiheit kämpfen müssen. Der Charkower Bundesrat der Studentenorganisationen hat das in seinem Oktoberaufruf bereits offen zum Ausdruck gebracht. Aber auch die Studenten von Petersburg, Moskau, Kiew, Riga und Odessa haben begonnen zu verstehen – das geht aus ihren Flugblättern und Aufrufen hervor –, wie sinnlos es ist, angesichts der hoffnungslosen Sklaverei des Volkes von akademischer Freiheit zu träumen. Die niederträchtige Rede des Generals Wannowski in Moskau, der die „Gerüchte" widerlegte, dass er jemals irgend etwas versprochen habe; die unerhörte Frechheit eines Spitzels in Petersburg (der einen Studenten im Elektrotechnischen Institut packte, um ihm einen durch einen Boten zugestellten Brief abzunehmen); die barbarische Misshandlung der Jaroslawer Studenten durch die Polizei auf der Straße und im Polizeirevier – all dies und tausend andere Tatsachen schreien nach Kampf, Kampf und nochmals Kampf gegen die gesamte absolutistische Staatsordnung. Der Vorfall mit den Charkower Veterinären brachte den Becher der Geduld zum Überlaufen. Die Studenten des ersten Lehrganges machten eine Eingabe, in der sie die Entlassung des Professors Lagermark forderten, über dessen rein bürokratisches Verhalten zur Arbeit und unerträgliche Grobheit – die soweit ging, dass er Studenten das Programm ins Gesicht warf – sie sich beklagten! Ohne die Sache zu untersuchen, beantwortete die Regierung die Eingabe damit, dass sie sämtliche Studenten dieses Lehrganges aus dem Institut hinauswarf, außerdem aber noch in ihrem Berichte die lügnerische Anklage gegen sie richtete, sie verlangten für sich das Recht, die Professoren zu ernennen. Da erhob sich die gesamte Charkower Studentenschaft, es wurde beschlossen, in den Streik zu treten und eine Demonstration zu veranstalten. Vom 28. November bis zum 2. Dezember wurde Charkow zum zweiten Mal in diesem Jahre in ein Schlachtfeld verwandelt, auf dem die „inneren Türken" gegen das Volk kämpften, das gegen die absolutistische Willkür protestierte. Rufe wie „Nieder mit der Selbstherrschaft! Es lebe die Freiheit!" – auf der einen Seite, Säbelhiebe und Knüppelschläge, Niedertrampeln des Volkes durch Pferdehufe – auf der anderen. Polizei und Kosaken, die alles und jeden ohne Rücksicht auf Alter und Geschlecht, erbarmungslos niederschlugen, siegten über Wehrlose und triumphierten …

Werden wir sie triumphieren lassen?

Arbeiter! Ihr kennt nur zu gut die feindliche Macht, die das russische Volk quält. Diese feindliche Macht fesselt euch an Händen und Füßen in eurem täglichen Kampfe gegen die Unternehmer, in eurem Kampfe für bessere Lebensbedingungen und Menschenwürde. Diese feindliche Macht reißt Hunderte und Tausende eurer besten Genossen aus euren Reihen, wirft sie ins Gefängnis, schickt sie in die Verbannung und erklärt sie, wie zum Hohn, für „Personen lasterhaften Lebenswandels". Diese feindliche Macht ließ am 7. Mai auf die Arbeiter der Obuchow-Werke in Petersburg schießen, die sich erhoben hatten mit dem Rufe: „Wir wollen Freiheit!" – und dann veranstaltete sie eine Gerichtskomödie, um die Helden, die die Kugel verschont hatte, ins Zuchthaus zu schicken. Diese feindliche Macht, die heute Studenten misshandelt, wird sich morgen mit noch größerer Wut auf euch Arbeiter stürzen. Verliert keine Zeit! Vergesst nicht, dass ihr jeden Protest und jeden Kampf gegen die wilden Horden der absolutistischen Regierung unterstützen müsst! Seid bemüht, um jeden Preis eine Verständigung mit den demonstrierenden Studenten herzustellen, organisiert Zirkel zur raschen Übermittlung von Nachrichten und zur Verbreitung von Aufrufen; klärt alle und jeden darüber auf, dass ihr euch zum Kampfe um die Freiheit des ganzen Volkes erhebt.

Wenn hier und dort kleine Flammen der Volksempörung und des offenen Kampfes aufzulodern beginnen, dann bedarf es vor allem und in erster Linie eines Zustroms frischer Luft, damit diese Flammen sich zu einem gewaltigen Brand vereinigen!

1 Aus Anlass der fünfundzwanzigsten Wiederkehr des Tages, an dem die bekannte Petersburger Demonstration vom 6. Dezember 1876 stattfand (bei dieser Demonstration spielte G. V. Plechanow, der damals noch ein Mitglied der „Semlja i Wolja" war, eine hervorragende Rolle), veröffentlichte die „Iskra" einen Leitartikel Martows „Der Jahrestag der Ereignisse auf dem Kasaner Platz in St. Petersburg" – in Nr. 15, die das Datum vom 6. Dezember 1901 trägt (was übrigens ein Beweis dafür ist, dass die „Iskra" nach altem Stil datiert wurde). Der Artikel schildert die weitere Geschichte der revolutionären Bewegung und beschäftigt sich ausführlich mit der Demonstration vom 4. März 1901, die ebenfalls auf dem Kasaner Platz stattfand.

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