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Wladimir I. Lenin 19020914 Der Entwurf zu einem neuen Streikgesetz

Wladimir I. Lenin: Der Entwurf zu einem neuen Streikgesetz

[Iskra" Nr. 24, 1. September 1902. Nach Sämtliche Werke, Band 5, Wien-Berlin 1930, S. 237-247]

Uns ist ein neues Geheimdokument zugestellt worden: eine Denkschrift des Finanzministeriums „Über die Revision der Gesetzesartikel, die Streik und vorzeitiges Lösen der Lohnverhältnisse unter Strafe stellen, sowie über die wünschenswerte Errichtung von Arbeiterorganisationen zu Zwecken der Selbsthilfe".1 Angesichts des Umfanges dieser Denkschrift und der Notwendigkeit, dass möglichst breite Schichten der Arbeiterklasse sie kennenlernen, geben wir sie als besondere Broschüre heraus. Jetzt wollen wir nur kurz den Inhalt dieser sehr beachtenswerten Schrift darlegen und auf ihre Bedeutung hinweisen.

Die Denkschrift beginnt mit einem kurzen Abriss der Geschichte unserer Fabrikgesetzgebung, mit einem Hinweis auf die Gesetze vom 3. Juni 1886 und vom 2. Juni 1897 und geht dann über zur Frage der Abschaffung der strafrechtlichen Verfolgung wegen Verlassen der Arbeit und wegen Streiks. Das Finanzministerium vertritt die Ansicht, dass die Bedrohung eines Arbeiters, der seine Arbeit eigenmächtig verlässt, oder mehrerer Arbeiter, die sich verabreden, die Arbeit niederzulegen, mit Haft oder Gefängnis ihren Zweck nicht erreicht. Die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung wird, wie die Erfahrung gezeigt hat, dadurch nicht gesichert; diese Drohung erbittert die Arbeiter nur und überzeugt sie von der Ungerechtigkeit des Gesetzes. Die Anwendung dieser Gesetze ist sehr schwierig „angesichts der außerordentlichen Belastung, die die Hunderte, mitunter auch Tausende von Prozessen" darstellen würden, wollte man gegen jeden einzelnen Arbeiter, der seine Arbeit niederlegt, vorgehen, außerdem weil es für den Fabrikanten unvorteilhaft wäre, ohne Arbeiter zu bleiben, wenn man diese wegen Streiks ins Gefängnis setzt. Die Behandlung des Streiks als Verbrechen ruft das übermäßig eifrige Eingreifen der Polizei hervor, das mehr Schaden als Nutzen mit sich bringt, mehr Schwierigkeiten und Unannehmlichkeiten als Erleichterungen für die Fabrikbesitzer. Die Denkschrift schlägt vor, alle Strafen für eigenmächtiges Verlassen der Fabrik durch den einzelnen Arbeiter und für friedliche Streiks (die weder von Gewalttätigkeit noch von Störung der öffentlichen Ordnung u. dgl. begleitet sind) abzuschaffen. Strafen sollen, nach dem Muster der ausländischen Gesetze nur „für Gewalttaten, Drohungen oder Verunglimpfungen (!) festgesetzt werden, begangen von einem Unternehmer oder einem Arbeiter gegen die Person oder das Eigentum eines andern, um diesen – gegen seine freien und gesetzmäßigen Absichten – zu zwingen oder zu behindern", die Arbeit zu diesen oder jenen Bedingungen zu verrichten. Mit anderen Worten, an Stelle der strafrechtlichen Verfolgung des Streiks wird die strafrechtliche Verfolgung wegen Behinderung der „Arbeitswilligen" in Aussicht genommen.

Was die Selbsthilfevereine anbelangt, so beschwert sich das Finanzministerium über die Willkür der Verwaltungsbehörden auf diesem Gebiete (die sich namentlich in Moskau gezeigt habe, wo der Verein der Mechaniker sogar Anspruch auf eine „Vermittlerrolle" zwischen den Arbeitern und den Verwaltungsbehörden erhoben hat), und es fordert die Festlegung eines normalen Statuts für diese Vereine auf gesetzgeberischem Wege, ferner Erleichterungen für ihre Gründung.

Somit ist der allgemeine Charakter der neuen Denkschrift des Finanzministeriums zweifellos liberal, und ihren Mittelpunkt bildet der Vorschlag, die strafrechtliche Verfolgung wegen Streiks abzuschaffen. Wir wollen hier nicht den Inhalt des ganzen „Gesetzentwurfes" eingehend untersuchen (es wird besser sein, es nach Veröffentlichung der ganzen Denkschrift zu tun), sondern wir wollen die Aufmerksamkeit des Lesers auf den Charakter und die Bedeutung dieses Liberalismus lenken. Der Vorschlag, den Arbeitern eine gewisse Streik- und Organisationsfreiheit zu gewähren, ist – nicht nur in unserer liberalen Publizistik, sondern auch in den Plänen der offiziellen Regierungskommissionen nicht neu. Zu Beginn der 60er Jahre schlug die Stakelberg-Kommission, die die Fabrik- und Handwerksordnungen revidierte, vor, Gewerbegerichte aus gewählten Vertretern der Arbeiter und der Unternehmer zu errichten und den Arbeitern eine gewisse Organisationsfreiheit zu gewähren. In den 80er Jahren stellte die mit der Ausarbeitung eines neuen Strafgesetzentwurfes beauftragte Kommission die Aufhebung der strafrechtlichen Verfolgung wegen Streiks in Aussicht. Aber der jetzige Entwurf des Finanzministeriums unterscheidet sich wesentlich von den ihm Vorangegangenen, und dieser Unterschied bleibt selbst dann noch ein äußerst wichtiges Zeichen der Zeit, wenn die Vorschläge des neuen Entwurfes, wie alle früheren, unter den Tisch fallen sollten. Der wesentliche Unterschied besteht darin, dass für den neuen Entwurf eine unvergleichlich größere „Bodenwüchsigkeit" charakteristisch ist: man spürt darin nicht nur die Stimme einiger weniger fortschrittlicher Theoretiker und Ideologen der Bourgeoisie, sondern die Stimme einer ganzen Schicht von Industrie-Praktikern. Das ist schon nicht mehr der Liberalismus einzelner „humaner" Beamten und Professoren, sondern es ist der bodenwüchsige, einheimische Liberalismus der Moskauer Kaufleute und Industriellen. Diese Tatsache erfüllt mein Herz, ich sage es ganz offen, mit hohem patriotischen Stolz: der Sechser-Liberalismus des Kaufmanns bedeutet viel mehr als der Taler-Liberalismus des Beamten. Und das Bemerkenswerte in der Denkschrift sind nicht die Übelkeit erregenden Schwätzereien über die Freiheit der Verträge und über den Nutzen des Staates, sondern jene praktischen Erwägungen der Fabrikanten, die durch die traditionell-juridische Begründung durchscheinen.

Es ist unerträglich! Wir haben es satt! Misch dich nicht ein! – das ist es, was der russische Fabrikant der russischen Polizei durch den Mund des Verfassers der Ministerialdenkschrift sagt. Man höre, in der Tat, folgende Darlegung:

Nach Ansicht der Polizeiorgane, die in der Unklarheit und Verworrenheit des bestehenden Gesetzes eine Stütze finden, ist jeder Streik nicht eine natürliche wirtschaftliche Erscheinung, sondern unbedingt eine Verletzung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit. Wenn jedoch eine ruhigere Auffassung von Arbeitsniederlegungen in den Fabriken und Betrieben Platz griffe und man Streiks nicht der Verletzung der öffentlichen Ordnung gleichsetzen wollte, so wäre es viel leichter, deren wirkliche Ursachen aufzuklären, die gesetzmäßigen und berechtigten Anlässe von den ungesetzmäßigen und unbegründeten zu trennen und die entsprechenden Maßnahmen für eine friedliche Verständigung der beiden Parteien zu treffen. Bei einer solchen normaleren Ordnung kämen Vorbeugungs- und Unterdrückungsmaßnahmen nur dann zur Anwendung, wenn Tatsachen vorlägen, die das Vorhandensein von Unruhen bestätigen."

Die Polizei untersucht nicht die Ursachen des Streiks, sie sorgt nur für einen Abbruch des Streiks, wozu sie eine ihrer beiden Methoden anwendet: entweder sie zwingt die Arbeiter (durch Verhaftungen, Ausweisungen und andere Maßnahmen „bis zur Anwendung militärischer Gewalt") die Arbeit wieder aufzunehmen oder sie veranlasst die Unternehmer, Zugeständnisse zu machen. „Man kann nicht sagen, dass auch nur eine von diesen Methoden zweckmäßig wäre" für die Herren Fabrikanten: die erste „sät Erbitterung in den Kreisen der Arbeiter", die zweite „festigt in den Arbeitern die äußerst schädliche Überzeugung, dass der Streik das sicherste Mittel sei, die Erfüllung ihrer Wünsche auf jeden Fall durchzusetzen."

Die Geschichte der Streiks, die im Verlaufe des letzten Jahrzehnts stattgefunden haben, liefert zahlreiche Beispiele für den angerichteten Schaden, der das Ergebnis des Bestrebens ist, aller entstehenden Schwierigkeiten um jeden Preis rasch Herr zu werden. Voreilig vorgenommene Verhaftungen haben mitunter eine solche Verbitterung unter den bis dahin vollkommen ruhigen Arbeitern hervorgerufen, dass Kosaken eingreifen mussten, wonach natürlich keine Rede mehr von der Befriedigung selbst der berechtigten Forderungen der Streikenden sein konnte. Andererseits haben die Fälle einer raschen Befriedigung der unberechtigten Forderungen der Arbeiter durch die Einwirkung auf die Fabrikanten unbedingt ähnliche Streiks in anderen Industrieunternehmungen hervorgerufen, so dass man das Mittel der Zugeständnisse nicht mehr anwenden konnte, sondern zur militärischen Gewalt greifen musste, was den Arbeitern völlig unbegreiflich zu sein pflegt und ihnen die Überzeugung einflößt, dass das Verhalten der Behörden ihnen gegenüber ungerecht und willkürlich sei…"

Dass die Polizei irgendwann sogar unberechtigte Forderungen der Arbeiter durch Einwirkung auf die Fabrikanten befriedigt hätte, ist natürlich eine Einbildung der Herren Kapitalisten, die damit sagen wollen, dass sie manchmal, wenn sie selbst mit den Streikenden verhandelt hätten, ihnen weniger gegeben haben würden, als sie unter dem Druck des drohenden Gespenstes „einer Störung der staatlichen Ordnung und Ruhe" zu geben gezwungen waren. Die Denkschrift enthält eine bissige Anspielung auf das Innenministerium, das in dem „ohne das Einverständnis des Finanzministeriums" (hier also liegt der Hund begraben!) herausgegebenen Zirkular vom 12. August 1897 bei jedem Streik sowohl Verhaftungen und Ausweisungen als auch die Durchführung der Streikprozesse im Polizeiverfahren vorschreibt.

Die obersten Verwaltungsbehörden – fährt die Vorlage fort, die Klagen der Fabrikanten darzulegen – gehen noch weiter (über das Gesetz hinaus) und legen allen (gesperrt im Original) Streikfällen geradezu staatliche Bedeutung bei… Indessen ist im Grunde jeder Streik (natürlich wenn er nicht von Gewalttätigkeiten begleitet ist) eine rein wirtschaftliche Erscheinung, die durchaus natürlich ist und die öffentliche Ordnung und Ruhe in keiner Weise bedroht. Die Aufrechterhaltung der Ruhe muss in diesen Fällen in Formen zum Ausdruck kommen, wie sie bei Volksvergnügungen, Festveranstaltungen, Schauspielen und ähnlichen Ereignissen üblich sind."

Das ist die Sprache echter liberaler Manchester-Leute, die den Kampf des Kapitals und der Arbeit für eine rein natürliche Erscheinung erklären und (an einer anderen Stelle der Denkschrift) mit bemerkenswerter Offenheit den „Handel mit Waren" und den „Handel mit Arbeitskraft" gleichsetzen und die Nichteinmischung des Staates fordern, dem sie die Rolle eines Nacht- (und Tag-) Wächters einräumen. Und was besonders wichtig ist, – es war niemand anders als unsere Arbeiter, die die russischen Fabrikanten zu diesem liberalen Standpunkt gezwungen haben. Die Arbeiterbewegung ist so machtvoll angewachsen, dass Streiks tatsächlich eine „natürliche wirtschaftliche Erscheinung" geworden sind. Der Kampf der Arbeiter hat so hartnäckige Formen angenommen, dass die Einmischung des Polizeistaates, der jede Äußerung dieses Kampfes verbietet, sich wirklich nicht nur für die Arbeiter als schädlich erwiesen hat (ihnen ist daraus nie etwas anderes als Schaden erwachsen), sondern auch für die Fabrikbesitzer selbst, zu deren Gunsten die Einmischung erfolgte. Die Arbeiter haben die polizeilichen Verbote praktisch wirkungslos gemacht, – aber die Polizei mischte sich auch weiterhin ein (weil sie eben in einem absolutistischen Staate nicht anders kann) und im Gefühl ihrer Ohnmacht fiel sie aus einem Extrem in das andere: bald militärische Gewalt, bald Zugeständnisse, bald viehisch rohes Vorgehen, bald Liebäugeln. Je wirkungsloser die polizeiliche Einmischung wurde, desto peinlicher empfanden die Fabrikanten die Willkür der Polizei, desto mehr neigten sie zu der Überzeugung, dass es für sie unvorteilhaft sei, diese Willkür zu unterstützen. Der Konflikt zwischen einem gewissen Teil der Großindustriellen und der Polizei-Allmacht spitzte sich immer mehr zu und nahm vor allem in Moskau scharfe Formen an, wo das System des Liebäugelns mit den Arbeitern besonders üppige Blüten trieb. Die Denkschrift beschwert sich ausdrücklich über die Moskauer Verwaltungsbehörden, die ein gefährliches Spiel mit Arbeiterbesprechungen und mit dem Arbeiterhilfsverein in der Maschinenindustrie treibe. Um die Arbeiter anzulocken, war man gezwungen, dem Rat dieses Vereins ein gewisses Vermittlerrecht einzuräumen, – und die Fabrikbesitzer lehnten sich sofort dagegen auf.

Zunächst hat sich dieser Rat – schreibt auf ihren Befehl die Denkschrift – an die Beamten der Fabrikinspektion gewandt, dann aber, als er sah, dass diese seine Zuständigkeit für die eigenmächtig übernommene Vermittlerrolle nicht anerkannten, wandte er sich an den Oberpolizeimeister, der die erhaltenen Eingaben nicht nur entgegennimmt, sondern sie auch auf dem gesetzlichen Wege weiterleitet, wodurch er den Befugnissen, die der Rat sich anmaßt, die rechtliche Weihe gibt."

Die Fabrikbesitzer protestieren gegen administrative Einzelverfügungen und fordern die Festlegung einer neuen Ordnung durch ein Gesetz.

Der Liberalismus der Fabrikbesitzer geht allerdings vorläufig über den sehr engen Berufsrahmen noch nicht hinaus, ihre Feindschaft gegen die Polizeiwillkür beschränkt sich auf einzelne, für sie unvorteilhafte extreme Fälle, ohne sich gegen die Grundlagen der bürokratischen Willkürherrschaft zu wenden. Aber für das Anwachsen dieser Feindschaft, für die Mehrung ihrer Anlässe, für ihre Vertiefung wird die wirtschaftliche Entwicklung Russlands und der ganzen Welt sorgen, die die Klassengegensätze in den kapitalistischen Ländern verschärft. Die Macht des Proletariats besteht gerade darin, dass sich seine zahlenmäßige Stärke und Geschlossenheit kraft der wirtschaftlichen Entwicklung selbst vergrößert, während in der Groß- und Kleinbourgeoisie die Zersplitterung der Interessen stets zunimmt. Um diesem „natürlichen" Vorzug des Proletariats Rechnung tragen zu können, muss die Sozialdemokratie jeden Widerstreit der Interessen in den herrschenden Klassen aufmerksam verfolgen und ausnutzen, nicht nur um greifbare Vorteile für diese oder jene Schicht der Arbeiterklasse herauszuschlagen, sondern auch um die gesamte Arbeiterklasse aufzuklären, um aus jedem neuen sozialpolitischen Vorfall eine nützliche Lehre zu ziehen.

Der praktische Vorteil der von den liberalen Fabrikbesitzern vorgeschlagenen Gesetzesänderung für die Arbeiter ist zu offensichtlich, als dass man darauf näher einzugehen brauchte. Sie ist zweifellos ein Zugeständnis an die wachsende Macht, der Verzicht des Gegners auf eine seiner Stellungen, die das revolutionäre Proletariat tatsächlich bereits fast erobert hat und die die weitsichtigen Führer der feindlichen Armee nicht weiter verteidigen wollen. Dieses Zugeständnis ist, das muss man sagen, nicht sehr groß; erstens, ist es lächerlich, an die Möglichkeit einer wirklichen Freiheit – an Streikfreiheit – auch nur zu denken, solange keine politische Freiheit herrscht. Das Recht der Verhaftungen und der Ausweisungen ohne Gerichtsurteil bleibt der Polizei und wird ihr verbleiben, solange der Absolutismus besteht. Aber die Aufrechterhaltung dieses Rechtes bedeutet die Aufrechterhaltung von neun Zehnteln aller Polizeischliche, der Schamlosigkeiten und der Willkür, die jetzt sogar die Fabrikbesitzer anzuwidern beginnt. Zweitens macht das Finanzministerium auch auf dem eng begrenzten Gebiet der eigentlichen Fabrikgesetzgebung nur einen sehr schüchternen Schritt vorwärts, wobei es jenen deutschen Gesetzentwurf nachahmt, den die deutschen Arbeiter den Entwurf zu einem „Zuchthausgesetz" genannt haben, und die besonderen Strafen für „Gewalttätigkeiten, Drohungen und Verunglimpfungen", die mit den Lohnverträgen in Verbindung stehen, aufrechterhält, als gäbe es nicht allgemeine Strafgesetze, die diese Verbrechen ahnden. Aber die russischen Arbeiter werden es verstehen, auch das kleine Zugeständnis für die Festigung ihrer Stellung, für die Stärkung und Ausdehnung ihres großen Kampfes um die Befreiung der arbeitenden Menschheit von der Lohnsklaverei auszunutzen.

Was die nützliche Lehre anbelangt, die die neue Denkschrift uns erteilt, so müssen wir vor allem bemerken, dass der Protest der Fabrikbesitzer gegen das mittelalterliche Streikgesetz uns an einem kleinen Einzelbeispiel das allgemeine Missverhältnis aufzeigt, das zwischen den Bedürfnissen der sich entwickelnden Bourgeoisie und den Bedürfnissen des absterbenden Absolutismus besteht. Das müsste alle jene Leute zum Nachdenken zwingen, die (wie die Sozialrevolutionäre) bis heute noch gegenüber der bürgerlichen Opposition in Russland ängstlich die Augen verschließen und immer noch behaupten, die „Bedürfnisse" der russischen Bourgeoisie seien (im Allgemeinen!) befriedigt. Es erweist sich, dass die Polizeiwillkür bald mit diesen, bald mit jenen Interessen selbst solcher bürgerlicher Schichten in Widerspruch gerät, die von der zaristischen Polizei am unmittelbarsten geschützt werden, die jedes Lockerlassen der dem Proletariat angelegten Zügel unmittelbar materiell zu schädigen droht.

Es zeigt sich, dass eine wirklich revolutionäre Bewegung die Regierung nicht nur dadurch unmittelbar zerrüttet, dass sie die ausgebeuteten Massen aufklärt, aufpeitscht und zusammenfasst, sondern auch mittelbar dadurch, dass sie den veralteten Gesetzen den Boden nimmt, dass sie den Glauben an den Absolutismus selbst den Leuten raubt, die man als seine Blutsverwandten bezeichnen kann, dass sie die „Familienstreitigkeiten" dieser Verwandten immer häufiger macht und die Festigkeit und Geschlossenheit im Lager der Feinde durch Zwist und Schwankungen ersetzt. Aber zur Erzielung solcher Ergebnisse ist eine Bedingung notwendig, die unsere Sozialrevolutionäre nie begreifen konnten: dazu ist es notwendig, dass die Bewegung wirklich revolutionär ist. d. h., dass sie immer breitere Schichten der wirklich revolutionären Klasse zu neuem Leben erweckt, dass sie das geistige und politische Angesicht dieser Klasse wirklich umgestaltet und mit ihrer Hilfe auch das Angesicht aller, die mit ihr in Berührung kommen. Hätten die Sozialrevolutionäre diese Wahrheit erkannt, so würden sie begreifen, welchen praktischen Schaden ihre Gedanken- und Grundsatzlosigkeit in allen Grundfragen des Sozialismus mit sich bringt, sie würden begreifen, dass nicht die Kräfte der Regierung, sondern die der Revolution von den Leuten zerrüttet werden, die predigen, gegen die Menge habe der Absolutismus Soldaten, gegen die Organisationen die Polizei, und nur die einzelnen Terroristen, die Minister und Gouverneure absetzen, seien tatsächlich nicht zu fassen. –

Der neue „Schritt" der Fabrikantenbehörde gibt noch eine weitere nützliche Lehre. Diese Lehre besteht darin, dass man es verstehen muss, jeden, und selbst einen Sechser-Liberalismus, wirklich auszunutzen, dass man aber dabei gut aufpassen muss, damit dieser Liberalismus durch seine verlogene Art der Fragestellung die Massen nicht korrumpiere. Ein Beispiel dafür ist Herr Struve; die Diskussion mit ihm möchten wir betiteln: „Wie die Liberalen die Arbeiter belehren wollen und wie die Arbeiter die Liberalen belehren müssen." Herr Struve, der in Nr. 4 des „Oswoboschdenije"2 die von uns besprochene Denkschrift zu veröffentlichen begonnen hat, sagt dort unter anderem, der neue Entwurf sei ein Ausdruck der „Staatsklugheit", der es aber wohl kaum gelingen werde, die Mauer der Willkür und Gedankenlosigkeit zu durchbrechen. Nicht so steht es, Herr Struve. Nicht die „Staatsklugheit" hat den Entwurf des neuen Streikgesetzes hervorgebracht, sondern die Fabrikbesitzer. Nicht darum ist der Entwurf erschienen, weil der Staat die Hauptgrundsätze des bürgerlichen Rechtes (die bürgerliche „Freiheit und Gleichheit" der Unternehmer und der Arbeiter) „anerkannt" hätte, sondern weil die Aufhebung der Strafen wegen Streiks für die Fabrikbesitzer vorteilhaft geworden ist. Die juridischen Fassungen und die durchaus beweiskräftigen Begründungen, die nunmehr das Finanzministerium „selber" gibt („Oswoboshdenije" Nr. 4, S. 50) sind seit langem nicht nur in der russischen Literatur, sondern sogar in den Arbeiten der Regierungskommissionen zu finden – aber das alles blieb versteckt, solange nicht die Industrieherren ihre Stimmen erhoben, denen die Arbeiter die Sinnlosigkeit der alten Gesetze handgreiflich klargemacht hatten. Wir betonen diese entscheidende Bedeutung der Fabrikantenvorteile und der Fabrikanteninteressen, nicht weil das nach unserer Meinung die Bedeutung der Regierungspläne abschwächt – im Gegenteil, wir haben bereits gesagt, dass wir darin eine Erhöhung ihrer Bedeutung erblicken. Aber das Proletariat muss in seinem Kampf gegen die gesamte gegenwärtige Gesellschaftsordnung vor allem lernen, die Dinge gerade und nüchtern zu betrachten, die wahren Triebkräfte und Ursachen der „hohen Staatshandlungen" aufzudecken und jene verlogenen, hochtrabenden Redensarten von „Staatsklugheit" usw. zu entlarven, die von geschickten Polizeibeamten aus Berechnung, von gelehrten Liberalen aber aus Kurzsichtigkeit in die Welt gesetzt werden.

Ferner rät Herr Struve den Arbeitern, in der Agitation für die Aufhebung der Strafen wegen Streiks „zurückhaltend" zu sein. „Je zurückhaltender sie (diese Agitation) der Form nach sein wird – predigt Herr Struve –, desto größer wird ihre Bedeutung sein." Der Arbeiter wird sich bei dem ehemaligen Sozialisten für diese Ratschläge bestens bedanken. Es ist das die traditionelle Lakaienweisheit der Liberalen – gerade dann Zurückhaltung zu predigen, wenn die Regierung (in irgendeiner Teilfrage) zu schwanken begonnen hat. Man müsse zurückhaltender sein, um die Durchführung der begonnenen Reform nicht zu stören, um keinen Schrecken zu erregen, um den günstigen Augenblick auszunützen, wenn der erste Schritt bereits getan ist (die Denkschrift verfasst ist!) und wenn die Anerkennung der Notwendigkeit von Reformen durch irgendeine Behörde „sowohl der Regierung als auch der Gesellschaft (!) den unwiderlegbaren (?) Beweis dafür gibt," dass diese Reformen „berechtigt" und zeitgemäß" (?) sind. So urteilt Herr Struve über den von uns untersuchten Entwurf, so haben die russischen Liberalen stets geurteilt. Nicht so urteilt die Sozialdemokratie. Seht nur, wird sie sagen, selbst der eine oder der andere Fabrikant beginnt zu begreifen, dass die europäischen Formen des Klassenkampfes besser sind als die asiatische Polizeiwillkür. Selbst die Fabrikanten haben wir durch unseren hartnäckigen Kampf gezwungen, an der Allmacht der absolutistischen Schergen zu zweifeln. Darum mutig vorwärts! Verbreitet möglichst weit die erfreuliche Kunde von der Unsicherheit in den Reihen des Feindes, nutzt das geringste Schwanken in seinem Lager aus, nicht um lakaienhafte „Zurückhaltung" in euren Forderungen zu üben, sondern um diese Forderungen stärker zu betonen. Auf Rechnung der Schuld, die die Regierung dem Volke gegenüber trägt, will man euch eine Kopeke pro hundert Rubel geben. Nutzt die erhaltene Kopeke aus, um immer lauter die ganze Schuldsumme zu fordern, um die Regierung endgültig zu diskreditieren, um unsere Kräfte für den entscheidenden Schlag gegen sie vorzubereiten.

1 Die Denkschrift des Finanzministeriums über die Revision der Gesetzesartikel, die Streiks und vorzeitiges Lösen des Lohnvertrages unter Strafe stellen, sowie über die wünschenswerte Errichtung von Arbeiterorganisationen zu Zwecken der Selbsthilfe wurde im September 1902 in Genf von der Liga der russischen revolutionären Sozialdemokratie als Broschüre herausgegeben („Selbstherrschaft und Streik"), der ein Artikel L. Martows: „Ein neuer Sieg der russischen Arbeiter", beigefügt war.

2 Lenin meint den Leitartikel in Nr. 4 des „Oswoboschdenije" (15. August n. St. 1902), ohne Titel, der sich mit derselben Denkschrift des Finanzministeriums befasst, die Lenin in seinem Artikel „Der Entwurf zu einem neuen Streikgesetz" analysiert. Gleich nach dem Artikel begann auch die Veröffentlichung der oben erwähnten Denkschrift.

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