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Wladimir I. Lenin 19021214 Neue Ereignisse und alte Fragen

Wladimir I. Lenin: Neue Ereignisse und alte Fragen

[Iskra" Nr. 29 1. Dezember 1902. Nach Sämtliche Werke, Band 5, Wien-Berlin 1930, S. 292-298]

Der kurze „Stillstand", der unsere revolutionäre Bewegung während der letzten zwei oder drei Vierteljahre von der vorangegangenen Zeit ihrer raschen und stürmischen Entwicklung unterschied, geht anscheinend seinem Ende entgegen. Wie kurz dieser „Stillstand" auch gewesen ist und wie klar jeder aufmerksame und erfahrene Beobachter auch sehen konnte, dass das Fehlen (für so beschränkte Zeit) offener Äußerungen der Empörung der Arbeitermassen keineswegs bedeutete, dass diese Empörung aufgehört habe, in die Breite und in die Tiefe zu wachsen, so ertönten doch in unserer Intelligenz, die zwar revolutionär gestimmt ist, aber häufig weder eine ständige Verbindung mit der Arbeiterklasse noch die feste Grundlage bestimmter sozialistischer Überzeugungen hat, einerseits zahlreiche Stimmen des Kleinmuts und des Zweifels an der proletarischen Massenbewegung, andererseits Stimmen für eine Wiederholung der alten Taktik politischer Attentate Einzelner, als eines jetzt notwendigen und nicht zu umgehenden Mittels des politischen Kampfes. In den wenigen Monaten, die seit den Demonstrationen der vorjährigen Saison vergangen sind, hat sich bei uns bereits eine „Partei" der „Sozialrevolutionäre" bilden können, die von dem entmutigenden Eindruck der Demonstrationen laut zu reden begonnen hat, die sagt, „das Volk würde leider noch nicht so bald", es sei natürlich leicht, von der Bewaffnung der Massen zu reden und zu schreiben, jetzt aber sei es notwendig, an den „Widerstand des Einzelnen" heranzugehen und sich nicht der dringenden Notwendigkeit des gegen einen Einzelnen gerichteten Terrors zu entziehen mit dem abgedroschenen Hinweis immer auf dieselbe, ein und dieselbe (für den Intellektuellen, der frei ist vom „dogmatischen" Glauben an die Arbeiterbewegung, „reizlose" und langweilige) Aufgabe der Agitation in den Massen des Proletariats und der Vorbereitung des Massenansturms.

Da aber bricht in Rostow am Don einer der – auf den ersten Blick – gewöhnlichsten und „alltäglichsten" Streiks aus und führt zu Ereignissen, die deutlich die Sinnlosigkeit und die ganze Schädlichkeit des von den Sozialrevolutionären unternommenen Versuches aufzeigen, die Narodnaja-Wolja-Richtung mit allen ihren Fehlern im Denken und im Handeln wieder auferstehen zu lassen. Der Streik, der viele Tausende von Arbeitern erfasst und mit rein wirtschaftlichen Forderungen begonnen hat, entwickelt sich rasch zu einem politischen Ereignis, obgleich organisierte revolutionäre Kräfte in äußerst ungenügendem Maße an ihm teilnehmen. Volksmengen, die, wie verschiedene Teilnehmer bezeugen, die Zahl von 20–30.000 erreichten, veranstalten politische Versammlungen, die durch ihren Ernst und ihre Ordnung Erstaunen erregen und in denen sozialdemokratische Flugblätter verlesen und leidenschaftlich erörtert, in denen politische Reden gehalten und ganz zufälligen und unvorbereiteten Vertretern des werktätigen Volkes die Abc-Wahrheiten des Sozialismus und des politischen Kampfes auseinandergesetzt, praktische und „anschauliche" Lehren im Umgang mit den Soldaten und im Herantreten an die Soldaten erteilt werden. Verwaltungsbehörden und Polizei verlieren den Kopf (vielleicht zum Teil infolge der Unzuverlässigkeit der Truppen?) und sind nicht imstande, zu verhindern, dass im Verlauf mehrerer Tage politische Massenversammlungen unter freiem Himmel veranstaltet werden, wie sie das Russenreich noch nie gesehen hat. Schließlich setzt die Menge der aufgebotenen militärischen Macht einen verzweifelten Widerstand entgegen, und die Ermordung eines Genossen wird am nächsten Tage zum Anlass einer politischen Demonstration an seinem Sarge Im übrigen sehen die Sozialrevolutionäre die Sache wahrscheinlich in einem anderen Lichte, und von ihrem Standpunkte wäre es wohl „zweckmäßiger" gewesen, wenn die sechs in Rostow getöteten Genossen ihr Leben für einen Anschlag gegen diese oder jene Polizeischergen hergegeben hätten?

Wir aber meinen, dass nur solche Massenbewegungen, die mit dem allen klar sichtbaren Wachstum des politischen Bewusstseins und der revolutionären Aktivität der Arbeiterklasse verbunden sind, die Bezeichnung wahrhaft-revolutionärer Handlungen verdienen und imstande sind, wirklich ermutigend auf alle einzuwirken, die für die russische Revolution kämpfen. Wir sehen hier nicht den berüchtigten „Widerstand des Einzelnen", dessen Verbindung mit den Massen lediglich in mündlichen Erklärungen, in gedruckten Urteilsverkündigungen usw. besteht. Wir sehen den wirklichen Widerstand der Masse, und die Planlosigkeit, die schlechte Vorbereitung, die Spontaneität dieses Widerstandes erinnern daran, wie töricht es ist, seine revolutionären Kräfte zu überschätzen, wie verbrecherisch, die Aufgabe zu vernachlässigen, diese, tatsächlich vor unseren Augen kämpfende Masse immer besser zu organisieren und vorzubereiten. Nicht durch Schüsse Anlass zur Empörung, Stoff für die Agitation und das politische Denken schaffen, sondern den Stoff, den das russische Leben im Überfluss liefert, bearbeiten, ausnutzen, in die eigenen Hände nehmen lernen, – das ist die eines Revolutionärs einzig würdige Aufgabe. Die Sozialrevolutionäre können nicht genug rühmen, wie groß die „agitatorische" Wirkung der politischen Morde sei, von denen sowohl in den liberalen Salons als auch in den Volkskneipen so viel getuschelt wird. Ihnen macht es nichts aus (sind sie doch nicht belastet mit irgendwelchen engen Dogmen einer halbwegs bestimmten sozialistischen Theorie!), die politische Erziehung des Proletariats zu ersetzen (oder auch zu ergänzen) durch das Hervorrufen einer politischen Sensation. Wir jedoch halten nur solche Ereignisse für geeignet, eine wirklich und ernstlich „agitatorische" (aufreizende) und nicht nur aufreizende, sondern auch (und das ist viel wichtiger) erzieherische Wirkung auszuüben, in denen die Masse selbst handelnd auftritt, Ereignisse, die durch die Stimmung der Masse hervorgerufen, nicht aber zu einem „besonderen Zweck" von dieser oder jener Organisation veranstaltet werden. Wir meinen, dass ein ganzes Hundert Zarenmorde nie eine so aufreizende und erzieherische Wirkung ausüben kann, wie diese eine Beteiligung von zehntausenden Arbeitern an Versammlungen, in denen ihre dringendsten Interessen und der Zusammenhang der Politik mit diesen Interessen besprochen werden, – wie diese Teilnahme am Kampfe, durch den wirklich neue und noch „unberührte" Schichten des Proletariats zu bewussterem Leben, zu breiterem revolutionären Kampfe erweckt werden. Man spricht uns von der Zerrüttung der Regierung (die gezwungen ist, die Herren Sipjagin durch die Herren Plehwe zu ersetzen und sich die niederträchtigsten Schurken für ihren Dienst „auszusuchen"), wir aber sind überzeugt, dass man, wenn man einen einzigen Revolutionär, sei es auch für zehn Schurken hergibt, nur in die eigenen Reihen Verwirrung trägt, die ohnehin schwach sind, so schwach, dass sie nicht mit der ganzen Arbeit fertig werden, die die Arbeiter von ihnen „verlangen". Wir meinen, dass als wirkliche Zerrüttung der Regierung solche und nur solche Fälle gelten können, in denen die tatsächlich durch den Kampf selbst zusammengefassten breiten Massen die Regierung zwingen, den Kopf zu verlieren; in denen die Berechtigung der von den Führern der Arbeiterklasse erhobenen Forderungen den Massen auf der Straße klar wird und sogar den Truppenteilen klar zu werden beginnt, die zur „Bändigung" herangezogen werden; in denen dem militärischen Vorgehen gegen Volksmassen von Zehntausenden ein Schwanken der Behörden vorangeht, die keine Möglichkeit haben, klar zu erkennen, wozu dieses militärische Vorgehen führen wird; in denen die Masse in den auf dem Felde des Bürgerkrieges Gefallenen ihre eigenen Genossen, einen Teil von sich selbst sieht und erkennt, in sich neuen Hass anhäuft und den Wunsch nach entschlossenerem Ringen mit dem Feinde empfindet. Und nicht der einzelne Schurke, sondern das ganze gegenwärtige Regime tritt schon hier als Feind des Volkes auf, gegen das die örtlichen und die Petersburger Behörden, die Polizei, die Kosaken und das Militär zum Kampfe rüsten, ganz zu schweigen von den Gendarmen und Gerichten, die, wie immer, alle Volksaufstände ergänzen und vollenden.

Ja, die Aufstände. Wie entfernt der Anfang dieser Streikbewegung in einer entlegenen Provinzstadt von einem „wirklichen" Aufstand auch war, so lassen doch ihre Fortsetzung und ihr Ende unwillkürlich gerade den Gedanken an einen Aufstand aufkommen. Die Alltäglichkeit des Streikanlasses, die Bedeutungslosigkeit der von den Arbeitern aufgestellten Forderungen beleuchten besonders grell sowohl die gewaltige Kraft der Solidarität des Proletariats, das sofort erkannte, dass der Kampf der Eisenbahnarbeiter alle Arbeiter angeht, als auch seine Empfänglichkeit für politische Gedanken, für die politische Propaganda und seine Bereitschaft, in offener Schlacht gegen die Truppen durch Einsatz des eigenen Lebens jene Rechte auf ein freies Leben, auf freie Entwicklung zu verteidigen, die bereits Gemeingut aller denkenden Arbeiter geworden sind. Und tausendmal hatte das Don-Komitee Recht, wenn es in seinem Flugblatt1, das wir weiter unten vollständig abdrucken, „allen Bürgern" vom Rostower Streik sprach als von einem der Schritte zur allgemeinen Erhebung der russischen Arbeiter für die Forderung der politischen Freiheit. Bei solchen Ereignissen beobachten wir tatsächlich mit eigenen Augen, wie der allgemeine bewaffnete Volksaufstand gegen die absolutistische Regierung nicht nur als Gedanke in den Köpfen und Programmen der Revolutionäre heranreift, sondern auch als unvermeidlicher, praktisch-natürlicher, nächster Schritt der Bewegung selber, als Ergebnis der wachsenden Empörung, der wachsenden Erfahrung, der wachsenden Kühnheit der Massen, die von der russischen Wirklichkeit so wertvolle Lehren, eine so ausgezeichnete Erziehung erhalten.

Der unvermeidliche und natürliche Schritt, sagte ich – und ich beeile mich, einen Vorbehalt zu machen: Wenn wir uns nur nicht erlauben, auch nur einen Fuß breit abzuweichen von der sich uns aufzwingenden, unabwendbar vor uns stehenden Aufgabe, diesen sich bereits erhebenden Massen zu helfen, sich kühner und einmütiger zu erheben, ihnen nicht zwei, sondern Dutzende von Straßenrednern und Führern zu geben, eine wirkliche Kampforganisation zu schaffen, die fähig wäre, die Massen zu lenken, und nicht eine sogenannte „Kampforganisation", die nur einzelne unauffindbare Leute lenkt (wenn sie lenkt). Schwer ist diese Aufgabe, das ist wahr, aber wir können mit vollem Rechte die in der letzten Zeit so oft und so unglücklich wiederholten Worte von Marx abwandeln und sagen: „Jeder Schritt einer wirklichen Bewegung ist wichtiger" als Dutzende individueller Attentate und Aktionen, ist wichtiger als hundert Organisationen und „Parteien", die nur aus Intellektuellen bestehen.

Neben den Rostower Kämpfen treten von den politischen Tatsachen der letzten Zeit die Zuchthausurteile gegen Demonstranten in den Vordergrund. Die Regierung hat beschlossen, auf jede Weise einzuschüchtern, beginnend mit Rutenzüchtigungen und endend mit Zuchthausstrafen. Und welch ausgezeichnete Antwort haben ihr die Arbeiter gegeben, deren Reden vor Gericht wir weiter unten wiedergeben2, – wie lehrreich ist diese Antwort für alle jene, die einen solchen Heidenlärm machten über die entmutigende Wirkung der Demonstrationen, nicht um zu derselben Arbeit auf demselben Wege aufzumuntern, sondern um die viel gerühmte individuelle Aktion zu propagieren! Diese Reden sind eine ausgezeichnete, aus den tiefsten Tiefen des Proletariats hervorkommende Erläuterung zu Ereignissen, wie denen in Rostow, sie sind gleichzeitig bemerkenswerte Erklärungen („öffentliche Aussagen" würde ich sagen, wenn dies nicht ein spezifischer Polizeiausdruck wäre), die in die langwierige und schwierige Arbeit für die „wirklichen" Schritte der Bewegung ungeheuer viel Ermutigung hinein tragen. Bemerkenswert ist in diesen Reden die einfache, vollkommen wahrheitsgetreue Schilderung, wie sich der Übergang von den alltäglichen, sich millionenfach wiederholenden Tatsachen „des Druckes, des Elends, der Knechtschaft, der Entartung, der Ausbeutung" der Arbeiter in der modernen Gesellschaft zum Erwachen ihres Bewusstseins, zum Anwachsen ihrer „Empörung" und zur revolutionären Offenbarung dieser Empörung vollzieht (ich habe die Ausdrücke in Anführungszeichen gesetzt, die ich zur Kennzeichnung der Reden der Nischni-Nowgoroder Arbeiter anführen musste, denn es sind dieselben berühmten Worte von Marx auf den letzten Seiten des ersten Bandes des „Kapital", die bei den „Kritikern", den Opportunisten, Revisionisten usw. so viele geräuschvolle und erfolglose Versuche, die Sozialdemokraten zu widerlegen und sie der Lüge zu überführen, hervorgerufen haben).

Gerade weil einfache Arbeiter, der Stufe ihrer Entwicklung nach durchaus nicht vorgeschrittene Arbeiter diese Reden gehalten haben, weil sie sie nicht einmal als Mitglieder irgendeiner Organisation gehalten haben, sondern als Leute aus der Masse, gerade weil sie nicht auf ihre persönliche Überzeugung Gewicht legten, sondern auf Tatsachen aus dem Leben jedes beliebigen Proletariers oder Halbproletariers in Russland, – gerade darum üben ihre Schlussfolgerungen: „darum sind wir zielbewusst zur Demonstration gegen die absolutistische Regierung gegangen" – eine so ermutigende Wirkung aus. Die Alltäglichkeit und die „Massenhaftigkeit" der Tatsachen, aus denen sie diesen Schluss zogen, geben die Gewähr dafür, dass zu diesem Schluss Tausende, Zehntausende und Hunderttausende gelangen können und unbedingt gelangen werden, wenn wir es verstehen, die planmäßige, unter strenger Wahrung unserer Grundsätze durchgeführte und durchaus revolutionäre (sozialdemokratische) Einwirkung auf sie fortzusetzen, zu erweitern und zu festigen. Wir sind bereit, für den Kampf gegen die politische und wirtschaftliche Versklavung ins Zuchthaus zu gehen, seitdem wir den Hauch der Freiheit verspürt haben – sagten vier Nischni-Nowgoroder Arbeiter. Und es war so, als hätten ihnen die Tausende von Rostow, die sich für einige Tage die Freiheit der politischen Versammlungen erkämpft, die eine ganze Reihe militärischer Überfälle auf die unbewaffnete Volksmenge abgeschlagen hatten, – geantwortet: wir sind bereit, in den Tod zu gehen.

In diesem Zeichen wirst du siegen! – bleibt uns übrig, allen denen zu sagen, die Augen haben zu sehen und Ohren zu hören.

1 Das Flugblatt des Don-Komitees der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands „An alle Bürger", das das Datum des 6. November 1902 trägt, wurde in Nr. 29 der „Iskra" (1. Dezember 1902) in der Rubrik „Der Kampf der Rostower Arbeiter" abgedruckt.

2 Lenin meint die vor dem Moskauer Gericht am 28. bis 31. Oktober 1902 gehaltenen Reden der wegen ihrer Beteiligung an den Demonstrationen des 1. und des 5. Mai angeklagten Arbeiter von Nischni-Nowgorod: Salomow, Bykow, Samylin und Michailow. Diese Reden hatte zunächst das Komitee von Nischni-Nowgorod als Sonderdruck herausgegeben, dann wurden sie von der „Iskra" (Nr. 29 vom 1. Dezember 1902) als Feuilleton „Die Arbeiter von Nischni-Nowgorod vor Gericht" abgedruckt.

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