Lenin‎ > ‎1903‎ > ‎

Wladimir I. Lenin 19031208 Brief an die Redaktion der „Iskra"

Wladimir I. Lenin: Brief an die Redaktion der „Iskra"1

[Iskra" Nr. 53, 8. Dezember (25. November) 1903. Nach Sämtliche Werke, Band 6, Wien-Berlin 1930, S. 155-159]

Der Aufsatz „Was sollen wir nicht tun?" wirft so wichtige, gerade im gegenwärtigen Augenblick so dringende Fragen unseres Parteilebens auf, dass man schwer auf den Wunsch verzichten kann, auf die liebenswürdige Einladung der Redaktion, die die Spalten ihres Blattes gastfreundlich öffnen will, sofort einzugehen, – besonders schwer für einen ständigen Mitarbeiter der „Iskra", besonders schwer in einem solchen Augenblick, wo die Verspätung um eine Woche vielleicht bedeutet, auf die Abgabe seiner Stimme ganz zu verzichten.

Ich möchte aber meine beratende Stimme abgeben, um gewisse mögliche und vielleicht sogar unvermeidliche Missverständnisse zu beseitigen.

Vor allem stelle ich fest, dass der Verfasser des Aufsatzes meines Erachtens tausendmal Recht hat, wenn er auf der Notwendigkeit besteht, die Einheit der Partei zu schützen und neue Spaltungen zu vermeiden, – insbesondere aus Anlass von Meinungsverschiedenheiten, die man nicht als erheblich bezeichnen kann. Es ist überhaupt und besonders im gegenwärtigen Augenblick höchst lobenswert, wenn ein Führer zur Friedensliebe, Milde und Nachgiebigkeit aufruft. Den Bannfluch nicht nur über frühere Ökonomisten, sondern auch über Grüppchen von Sozialdemokraten, die an einer „gewissen Inkonsequenz" leiden, zu verhängen oder sie aus der Partei auszuschließen, wäre zweifellos ganz unklug, in so hohem Maße unklug, dass uns der gereizte Ton des Verfassers des Aufsatzes gegen die Sobakewitsche, die es fertig bringen, für den Ausschluss zu sein, und die ihm geradlinig, eigensinnig und dumm erscheinen, durchaus verständlich ist. Ja, wir glauben sogar mehr: wenn wir erst ein Parteiprogramm und eine Parteiorganisation haben, werden wir die Spalten unseres Parteiorgans nicht nur für den Meinungsaustausch gastfreundlich öffnen, sondern auch den Gruppen oder, wie der Verfasser sich ausdrückt, Grüppchen, die infolge ihrer Inkonsequenz einige Dogmen des Revisionismus verteidigen und aus den einen oder anderen Gründen auf ihrer besonderen Gruppeneigenart und Individualität bestehen, die Möglichkeit geben müssen, systematisch ihre, sei es auch ganz geringfügigen abweichenden Meinungen darzulegen. Unseres Erachtens ist es, gerade um dem „anarchistischen Individualismus" gegenüber nicht à la Sobakewitsch zu gradlinig und zu schroff zu sein, notwendig, alles zu tun – mit Einschluss einiger Abweichungen von den schönen Schemata des Zentralismus und von der unbedingten Unterordnung unter die Disziplin –, um diesen Grüppchen die Freiheit zu lassen, ihre Ansichten zu vertreten, um der gesamten Partei die Möglichkeit zu geben, sich über die Tiefe oder die Bedeutungslosigkeit der Meinungsverschiedenheiten klarzuwerden und festzustellen, wo, worin und auf wessen Seite eine Inkonsequenz zu beobachten ist.

Es wäre wirklich an der Zeit, die Überlieferungen des sektiererischen Zirkelwesens von sich zu werfen und – in einer Partei, die sich auf Massen stützt – entschlossen die Losung aufzustellen: mehr Licht, die Partei soll alles wissen, der Partei soll das gesamte, unbedingt das gesamte Material zur Bewertung aller Meinungsverschiedenheiten, der Rückfälle in den Revisionismus, der Verstöße gegen die Disziplin usw. zur Verfügung gestellt werden. Mehr Vertrauen zu der selbständigen Urteilskraft der ganzen Masse der Parteiarbeiter: sie und nur sie allein werden es verstehen, dem übermäßigen Eifer der Grüppchen, die zur Spaltung neigen, Zügel anzulegen; sie werden es verstehen, ihnen durch ihre allmähliche, unmerkliche, dafür aber hartnäckige Einwirkung den „guten Willen" zur Wahrung der Parteidisziplin einzuflößen; sie werden es verstehen, die Glut des anarchistischen Individualismus abzukühlen; sie werden es verstehen, allein durch die Tatsache ihres Gleichmutes zu dokumentieren, zu beweisen und aufzuzeigen, wie geringfügig die Bedeutung der Meinungsverschiedenheiten ist, die von den zur Spaltung neigenden Leuten übertrieben werden.

Auf die Frage: „Was sollen wir nicht tun?" (was man im Allgemeinen nicht tun soll und was man nicht tun soll, um nicht eine Spaltung hervorzurufen), würde ich vor allem antworten: der Partei die entstehenden und heranreifenden Anlässe zur Spaltung nicht verhehlen, nichts von den Umständen und Ereignissen verhehlen, die solche Anlässe sind. Ja mehr als das, sie nicht nur der Partei, sondern nach Möglichkeit auch dem außenstehenden Publikum nicht verhehlen. Ich sage „nach Möglichkeit", weil ich das im Auge habe, was aus Gründen der Konspiration geheim bleiben muss, – aber bei unseren Spaltungen spielen Umstände solcher Art die geringste Rolle. Breite Öffentlichkeit – das ist das sicherste und das einzig zuverlässige Mittel, um Spaltungen, die vermieden werden können, zu vermeiden, und um den Schaden der Spaltungen, die bereits unvermeidlich geworden sind, auf ein Minimum herabzusetzen.

Man überlege sich doch wirklich einmal, welche Verpflichtungen der Partei durch den Umstand auferlegt werden, dass sie es bereits mit einer Masse und nicht nur mit Zirkeln zu tun hat. Um nicht nur in Worten eine Massenpartei zu werden, müssen wir immer breitere Massen zur Teilnahme an allen Parteiangelegenheiten heranziehen, sie ständig heben – von politischer Indifferenz zum Protest und Kampf, von allgemeinem Protestgeist zur bewussten Annahme der sozialdemokratischen Auffassungen, von der Annahme dieser Auffassungen zur Unterstützung der Bewegung, von der Unterstützung der Bewegung zur organisierten Mitarbeit in der Partei. Kann man dieses Ergebnis erreichen, ohne in breitester Öffentlichkeit die Angelegenheiten zu behandeln, von deren Entscheidung die eine oder andere Einwirkung auf die Massen abhängig ist? Die Arbeiter werden aufhören, uns zu verstehen, und werden uns verlassen, wir werden ein Stab ohne Armee sein, wenn wir uns wegen geringfügiger Meinungsverschiedenheiten spalten, sagt der Verfasser des Aufsatzes, und mit vollem Recht. Damit aber die Arbeiter nicht aufhören können, uns zu verstehen, damit ihre Erfahrung im Kampfe und ihr proletarischer Instinkt auch uns, die „Führer" manches lehrt, – dazu ist es erforderlich, dass die organisierten Arbeiter lernen, die entstehenden Anlässe zur Spaltung zu verfolgen (solche Anlässe hat es in jeder Massenpartei stets gegeben und wird es stets geben), dass sie es lernen, sich diesen Anlässen gegenüber bewusst zu verhalten und die Geschehnisse in irgendeinem russischen oder ausländischen Krähwinkel vom Standpunkt der Interessen der Gesamtpartei, der Interessen der Bewegung in ihrer Gesamtheit zu bewerten.

Der Verfasser des Aufsatzes hat dreimal recht, wenn er betont, dass unsere zentrale Körperschaft viel Rechte, aber auch viel Pflichten haben wird. Ja, so ist es. Und gerade aus diesem Grunde ist es notwendig, dass die gesamte Partei sich die geeigneten Leute für die Parteileitung systematisch, ohne Übereilung und unbeirrt, erzieht, dass sie die gesamte Tätigkeit jedes einzelnen Kandidaten für diesen hohen Posten wie auf der flachen Hand vor sich sehe, dass sie sogar ihre individuellen Eigenarten, ihre starken und schwachen Seiten und ihre Siege und „Niederlagen" kennenlerne. Der Verfasser macht außerordentlich scharfsinnige und augenscheinlich auf einer reichen Erfahrung beruhende Bemerkungen über einige Ursachen solcher Niederlagen. Und gerade weil diese Bemerkungen so scharfsinnig sind, muss die gesamte Partei sie sich zunutze machen, muss sie stets jede einzelne, wenn auch nur teilweise „Niederlage" des einen oder anderen ihrer „Führer" sehen. Kein einziger Politiker hat seine Laufbahn ohne die eine oder die andere Niederlage durchgemacht. Und wenn wir ernstlich davon reden, dass wir die Massen beeinflussen wollen, dass wir den „guten Willen" der Massen für uns gewinnen wollen, so müssen wir aus allen Kräften danach streben, dass diese Niederlagen nicht in der dumpfen Luft der Zirkel und Grüppchen verheimlicht werden, sondern dass sie dem Urteil der breiten Öffentlichkeit unterbreitet werden. Das scheint auf den ersten Blick unangenehm zu sein, das muss manchmal dem einen oder anderen einzelnen Führer „kränkend" erscheinen, – wir sind aber verpflichtet, dieses falsche Gefühl des Unangenehmen zu überwinden, das ist unsere Pflicht vor der Partei und vor der Arbeiterklasse. So und nur so werden wir der ganzen Masse der einflussreichen Parteiarbeiter (und nicht nur der zufällig zusammengesetzten Zirkel oder Grüppchen) die Möglichkeit geben, ihre Führer kennenzulernen und jeden Einzelnen von ihnen auf den richtigen Platz zu stellen. Nur die breite Öffentlichkeit kann alle gradlinigen, einseitigen und launenhaften Abweichungen korrigieren, nur sie wird die manchmal unsinnigen und lächerlichen Streitigkeiten von „Grüppchen" in nützliche und notwendige Unterlagen für die Selbsterziehung der Partei verwandeln.

Licht, mehr Licht! Wir brauchen ein riesengroßes Orchester; wir müssen Erfahrung sammeln, um in diesem Orchester die Rollen richtig zu verteilen, um dem einen die sentimentale Geige, dem andern die grimmige Bassgeige, dem dritten den Dirigentenstab zu geben. Möge der ausgezeichnete Aufruf des Verfassers zur Gastfreundschaft für alle Meinungen in den Spalten unseres Parteiorgans und aller Parteiveröffentlichungen ins Leben umgesetzt werden, mögen alle und jeder Enzelne urteilen über unsere „Meinungsverschiedenheiten und Streitigkeiten", veranlasst durch irgendeine „Note", die nach der Meinung der einen zu laut, nach der Meinung der anderen falsch, nach der Meinung der dritten nicht im Takt gespielt wurde. Erst nach einer Reihe solcher öffentlicher Erörterungen wird bei uns ein wirklich gut aufeinander abgestimmtes Führerkollegium gebildet werden können, nur unter dieser Bedingung werden die Arbeiter nicht aufhören können, uns zu verstehen, nur dann wird unser „Stab" sich wirklich auf den guten und bewussten Willen der Armee stützen, die dem Stab folgt und gleichzeitig diesen Stab lenkt!

1 Der „Brief an die Redaktion der ,Iskra'" ist eine Antwort auf den in Nr. 52 der „Iskra" vom 7. November 1903 veröffentlichten Artikel Plechanows „Was sollen wir nicht tun?" (über den Artikel siehe „Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück“). Der „Brief" erschien mit einer ebenfalls von Plechanow geschriebenen Anmerkung der Redaktion, in der die Hauptthesen des Artikels „Was sollen wir nicht tun?" entwickelt werden und gegen Lenin in maskierter Form die Anklage erhoben wird, er wolle der russische Schweitzer werden.

Kommentare