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Wladimir I. Lenin 19040415 Der 1. Mai

Wladimir I. Lenin: Der 1. Mai1

[Geschrieben im April 1904. Veröffentlicht als Flugblatt im April 1904. Nach Sämtliche Werke, Band 6, Wien-Berlin 1930, S. 449-453]

Genossen, Arbeiter! Es naht der Tag des 1. Mai, an dem die Arbeiter aller Länder ihr Erwachen zum bewussten Leben, ihre Vereinigung im Kampf gegen jede Bedrückung und jede Knechtung des Menschen durch den Menschen, im Kampf für die Befreiung der Millionen Werktätiger von Hunger, Elend und Erniedrigung feiern. Zwei Welten stehen in diesem gewaltigen Kampf einander gegenüber: die Welt des Kapitals und die Welt der Arbeit, die Welt der Ausbeutung und Versklavung und die Welt der Brüderlichkeit und der Freiheit.

Auf der einen Seite – ein Häuflein reicher Räuber. Sie haben Millionen Desjatinen des Grund und Bodens an sich gerissen, haben Fabriken und Betriebe, Werkzeuge und Maschinen in ihr Privateigentum verwandelt. Sie haben die Regierung und das Heer gezwungen, ihre Diener, die treuen Wächter des von ihnen angehäuften Reichtums zu sein.

Auf der anderen Seite – Millionen Enterbter. Sie müssen sich bei den Reichen die Erlaubnis erbitten, für sie arbeiten zu dürfen. Sie schaffen durch ihre Arbeit alle Reichtümer, selber aber plagen sie sich ihr ganzes Leben lang für ein Stückchen Brot ab; sie betteln um Arbeit, wie um ein Almosen, schädigen ihre Kraft und ihre Gesundheit durch unerträgliche Arbeit, hungern in armseligen Dorfhütten, in den Kellern und in den Dachstuben der großen Städte.

Und nun haben diese Enterbten und Werktätigen den Reichen und Ausbeutern den Krieg erklärt. Die Arbeiter aller Länder kämpfen für die Befreiung der Arbeit von der Lohnsklaverei, von Elend und Not. Sie kämpfen für einen Aufbau der Gesellschaft, bei dem die durch gemeinsame Arbeit erzeugten Reichtümer allen Werktätigen und nicht einem Häuflein Reicher zugute kämen. Sie wollen die Verwandlung des Grund und Bodens, der Fabriken, der Betriebe, der Maschinen in das Gemeingut aller Werktätigen erkämpfen. Sie wollen, dass es keine Reichen und keine Armen gebe, dass die Früchte der Arbeit denen zufallen, die arbeiten, dass alle Errungenschaften des menschlichen Geistes, alle Verbesserungen in der Arbeit das Leben des Arbeitenden erleichtern und nicht als Werkzeug zur Unterdrückung der Arbeiter dienen.

Der gewaltige Kampf der Arbeit gegen das Kapital hat den Arbeitern aller Länder gewaltige Opfer gekostet. Viel Blut haben sie bei der Verteidigung ihres Rechts auf ein besseres Leben und auf die wirkliche Freiheit vergossen. Nicht zu zählen sind die Verfolgungen, denen die Regierungen die Kämpfer für die Sache der Arbeiter aussetzen. Aber das Bündnis der Arbeiter der ganzen Welt wächst und erstarkt – allen Verfolgungen zum Trotz. Die Arbeiter schließen sich immer fester in sozialistischen Parteien zusammen. Die Zahl der Anhänger der sozialistischen Parteien steigt auf Millionen, und Schritt um Schritt schreiten sie unbeirrt vorwärts, dem vollständigen Sieg über die Klasse der Kapitalisten und Ausbeuter entgegen.

Auch das russische Proletariat ist zu neuem Leben erwacht und hat sich diesem gewaltigen Kampf angeschlossen. Vorbei sind jene Zeiten, wo der Arbeiter demütig seinen Rücken beugte, aus seinem unterjochten Dasein keinen Ausweg, in seinem Zuchthausleben keinen Lichtstrahl sah. Der Sozialismus hat diesen Ausweg gezeigt, und dem roten Banner folgten wie einem wegweisenden Stern Tausende und Abertausende von Kämpfern. Der Streik hat die Arbeiter gelehrt, Widerstand zu leisten, er hat gezeigt, welche Gefahr für das Kapital der organisierte Arbeiter ist. Der Arbeiter hat sich anschaulich überzeugt, dass die Kapitalisten und die Regierung von seiner Arbeit leben und sich an ihr bereichern. In den Arbeitern erwachte die Sehnsucht nach gemeinsamem Kampf, das Streben nach Freiheit und Sozialismus. Die Arbeiter haben begriffen, welch böse und finstere Kraft der zaristische Absolutismus ist. Die Arbeiter brauchen Bewegungsfreiheit für den Kampf, die zaristische Regierung aber bindet sie an Händen und Füßen. Die Arbeiter brauchen freie Versammlungen, freie Verbände, freie Broschüren und Zeitungen, die zaristische Regierung aber unterdrückt jede freiheitliche Bestrebung durch Gefängnis, Knute und Bajonett. Der Ruf „Nieder mit der Selbstherrschaft!" erscholl in ganz Russland. Immer häufiger ertönte dieser Ruf auf den Straßen, in von vielen Tausenden besuchten Arbeiterversammlungen. Im Sommer des vorigen Jahres erhoben sich in ganz Südrussland Zehntausende von Arbeitern, sie erhoben sich zum Kampf für ein besseres Leben, für die Befreiung vom polizeilichen Joch. Bourgeoisie und Regierung erzitterten beim Anblick der drohenden Arbeiterarmee, die mit einem Schlage die ganze Industrie gewaltiger Städte zum Stillstand brachte. Dutzende von Kämpfern für die Sache der Arbeiter fielen unter den Kugeln des zaristischen Heeres, das gegen den inneren Feind ins Feld geschickt wurde.

In Wirklichkeit kann der innere Feind durch keine Macht besiegt werden, denn nur dank seiner Arbeit können sich die herrschenden Klassen und die Regierung halten, Es gibt keine Macht auf Erden, die die Millionen der Arbeiter niederringen könnte, die immer klassenbewusster werden, sich immer fester zusammenschließen und organisieren. Jede Niederlage der Arbeiter erzeugt neue Kämpferreihen, zwingt breitere Massen, zu neuem Leben zu erwachen und sich zu neuem Kampf vorzubereiten.

Der von der Selbstherrschaft verbrecherisch begonnene Krieg gegen Japan wird die Stunde ihres Unterganges nur beschleunigen. Er wird den rückständigen Arbeitern die Augen öffnen über das Wesen der heutigen Staatsordnung. Er hat schon die innere Morschheit der bei uns herrschenden Zustände aufgedeckt, und die Zeit ist nicht fern, da Millionen russischer Bürger die Notwendigkeit des entscheidenden Kampfes für die Vernichtung der Selbstherrschaft begriffen haben werden.

Unser Volk verelendet und stirbt bei sich zu Hause vor Hunger, man hat es aber in einen verheerenden Krieg um neue Länder hinein gezerrt, die tausende Kilometer entfernt liegen und von fremden Völkerschaften bewohnt sind. Unser Volk stöhnt unter dem Joch der politischen Sklaverei, man hat es aber in einen Krieg um die Versklavung neuer Völker hinein gezerrt. Unser Volk fordert die Umgestaltung der inneren politischen Zustände, man will aber seine Aufmerksamkeit durch das Donnern der Kanonen am andern Ende der Welt ablenken.

Alle klassenbewussten Proletarier Russlands müssen gegen diesen verbrecherischen und verheerenden Krieg protestieren. Sie müssen am Tag des 1. Mai – am internationalen Feiertag der Arbeiterklasse – zeigen, dass das Proletariat keine nationale Feindschaft kennt, dass die russischen und die japanischen Arbeiter, die durch ihre Regierungen gezwungen werden, in feindlichen Reihen zu kämpfen, sich als Mitglieder einer Klasse, verbunden durch brüderliche Solidarität, fühlen. Dieselbe Ausbeutung des Kapitals unterdrückt auch die japanischen Arbeiter, in derselben Lage einer niederen Klasse befinden sie sich im eigenen Land. Ebenso wie die russischen Arbeiter haben sie bereits den Kampf für ihre Befreiung begonnen. Und während an den Küsten des Stillen Ozeans um der Interessen der Regierungen und Ausbeuter willen Tausende von Menschenleben vernichtet werden, fordern die russischen und die japanischen klassenbewussten Arbeiter den Frieden, treten sie als die einzigen Verteidiger der Sache der Menschheit, der Sache der Zivilisation auf. Und im Namen dieser Sache fordern die russischen Arbeiter die Vernichtung des Selbstherrschertums, dieses Henkers der freien Völker, der sein eigenes Volk ruiniert und alle Arten der Ausbeutung der Unterdrückung und Versklavung schützt.

Das alte Russland stirbt ab. An seine Stelle tritt ein freies Russland. Die dunklen Kräfte, die den zaristischen Absolutismus schützten, gehen unter. Aber nur das klassenbewusste und organisierte Proletariat ist imstande, diesen dunklen Kräften den Todesstoß zu versetzen. Nur das klassenbewusste und organisierte Proletariat ist imstande, dem Volke die wahre, unverfälschte Freiheit zu erkämpfen. Nur das klassenbewusste und organisierte Proletariat ist imstande, jedem Versuch, das Volk zu betrügen, seine Rechte zu beschneiden, es zu einem bloßen Werkzeug in den Händen der Bourgeoisie zu machen, Widerstand entgegenzusetzen.

Genossen, Arbeiter! Lasst uns darum mit verzehnfachter Tatkraft den nahenden entschiedenen Kampf vorbereiten! Mögen sich die Reihen der sozialdemokratischen Proletarier fester zusammenschließen! Möge ihre Propaganda immer breitere Schichten erfassen! Möge die Agitation für die Forderungen der Arbeiter immer kühner erschallen! Möge der Feiertag des 1. Mai uns Tausende neuer Kämpfer zuführen und unsere Kräfte für den gewaltigen Kampf um die Freiheit des ganzen Volkes, um die Befreiung aller Werktätigen vom Joch des Kapitals verdoppeln!

Nieder mit dem Krieg!

Es lebe der achtstündige Arbeitstag!

Es lebe die internationale revolutionäre Sozialdemokratie!

Nieder mit dem verbrecherischen und räuberischen zaristischen Absolutismus!

Das Zentralkomitee, die Redaktion des Zentralorgans der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands

1 Dieser im Auslande erschienene Aufruf war in der Druckerei des Moskauer Komitees der SDAPR nachgedruckt worden, wobei der Titel „Der erste Mai" in „Die Maifeier" abgeändert wurde. Im Wortlaut der Moskauer Ausgabe waren im Vergleich zu der im Auslande erschienenen Ausgabe einige Änderungen vorgenommen worden, außerdem enthielt sie eine Reihe von Druckfehlern. Am Schluss des Aufrufs ist die Losung weggefallen: „Fort mit dem verbrecherischen und räuberischen Zarenabsolutismus!" Der Moskauer Aufruf trägt das Datum des 23. April 1904.

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