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Petersburger Streikende 19050100 Petition an den Zaren

Die Petition der Petersburger Streikenden an den Zaren

[Nach Lenin, Sämtliche Werke, Band 7, 1929, S. 557-559]

Herrscher!

Wir, die Arbeiter der Stadt Petersburg, unsere Frauen, Kinder und hilflosen greisen Eltern sind zu Dir, Herrscher, gekommen, Wahrheit und Schutz zu suchen.

Wir sind verelendet, wir werden unterdrückt, mit schwerer Arbeit überlastet, man beschimpft uns, man sieht in uns keine Menschen, man verhält sich uns gegenüber wie zu Feinden.

Wir haben geduldig alles ertragen, aber wir werden immer tiefer und tiefer in den Abgrund des Elends, der Rechtlosigkeit und Unwissenheit gestoßen; uns würgen Despotismus und Willkür, und wir ersticken. Wir haben keine Kraft mehr, Herrscher. Die Geduld hat ihre Grenze erreicht.

Für uns ist jener furchtbare Augenblick eingetreten, wo der Tod besser ist als die Fortsetzung der unerträglichen Leiden.

Und nun haben wir die Arbeit niedergelegt und unseren Unternehmern erklärt, dass wir nicht eher die Arbeit wieder aufnehmen werden, bis sie unsere Forderungen erfüllt haben. Wir haben nicht viel verlangt. Wir wollen etwas, ohne das das Leben kein Leben, sondern ein Zuchthaus, eine ewige Qual ist.

Unsere erste Bitte war, dass die Unternehmer zusammen mit uns unsere Nöte besprechen, aber auch das – das Recht, über unsere Nöte zu sprechen – wurde abgelehnt, weil sie fanden, dass das Gesetz uns ein solches Recht nicht zuerkennt. Als ungesetzlich erwiesen sich auch unsere Bitten, die Zahl der täglichen Arbeitsstunden auf acht zu verkürzen und die Preisfestsetzung für unsere Arbeit zusammen und im Einvernehmen mit uns vorzunehmen, unsere Missverständnisse mit der unteren Administration des Betriebes zu prüfen, den ungelernten Arbeitern und den Frauen ihren Arbeitslohn auf einen Rubel täglich zu erhöhen, die Überstunden abzuschaffen, uns sorgsam und ohne Beleidigungen zu heilen, die Werkstätten so einzurichten, dass man in ihnen arbeiten kann und nicht, dass man dort den Tod findet infolge von schrecklichen Zugwinden, von Regen und Schnee.

Alles das erwies sich, nach der Meinung unserer Unternehmer, als gesetzwidrig. Jede Bitte von uns ist ein Verbrechen, und unser Wunsch, unsere Lage zu verbessern, eine Frechheit, die für unsere Unternehmer beleidigend ist. Herrscher, wir sind hier mehr als 300.000, und sie alle sind nur dem Aussehen nach, nur ihrem Äußeren nach Menschen, in Wirklichkeit erkennt man uns kein menschliches Recht zu, wir dürfen nicht einmal sprechen, denken, uns versammeln, unsere Nöte besprechen, Maßnahmen zur Verbesserung unserer Lage ergreifen.

Jeden von uns, der es wagt, seine Stimme für die Verteidigung der Interessen der Arbeiterklasse zu erheben, wirft man ins Gefängnis, schickt man in die Verbannung, das gute Herz und die fühlende Seele wird wie ein Verbrechen bestraft. Einen Arbeiter, einen rechtlosen, gequälten Menschen zu bemitleiden, bedeutet ein schweres Verbrechen begehen. Herrscher, steht das im Einklang mit den göttlichen Gesetzen, durch deren Gnade Du herrschest? Ist es nicht besser, dass wir sterben, dass wir alle, die werktätigen Männer ganz Russlands, sterben? Mögen die Kapitalisten und die Beamten leben und sich ergötzen. Das ist es, was vor uns steht, Herrscher!

Und das eben führte uns an die Mauern Deines Palastes. Hier suchen wir die letzte Rettung. Verweigere Deinem Volke die Hilfe nicht, führe es heraus aus dem Grab der Rechtlosigkeit, des Elends und der Unwissenheit, gib ihm die Möglichkeit, selbst sein Schicksal zu bestimmen, nimm von ihm das unerträgliche Joch der Beamten, reiße nieder die Scheidewand zwischen Dir und Deinem Volke, und mag es das Land zusammen mit Dir regieren. Bist Du doch zum Glück für das Volk bestellt, dieses Glück aber reißen uns die Beamten aus den Händen, es gelangt nicht zu uns, wir bekommen nur Leid und Demütigungen.

Siehe ohne Zorn und aufmerksam unsere Bitten an – sie sind nicht zum Übel, sondern zum Guten, für uns ebenso wie für Dich, Herrscher. Nicht Frechheit spricht aus uns, sondern das Bewusstsein der Notwendigkeit eines Ausweges aus der für alle unerträglichen Lage. Russland ist viel zu groß, seine Nöte sind viel zu mannigfach und zahlreich, als dass die Beamten allein es verwalten könnten. Es ist notwendig, dass das Volk selbst sich helfe – kennt es doch allein seine Nöte. Stoße seine Hilfe nicht von Dir: nimm sie an, befiehlt sofort, gleich, die Vertreter aller Klassen und Stände der russischen Erde einzuberufen. Mögen da der Kapitalist und der Arbeiter und der Geistliche und der Doktor und der Lehrer vertreten sein; mögen alle, wer sie auch seien, ihre Vertreter wählen, möge jeder im Rechte zu wählen gleich und frei sein, – und zu diesem Zwecke sollst Du befehlen, dass die Wahlen zur konstituierenden Versammlung unter der Bedingung der allgemeinen, geheimen und gleichen Stimmabgabe stattfinden. Das ist unsere Hauptbitte; in ihr und auf ihr beruht alles; das ist das wichtigste und einzige Heilpflaster für unsere Wunden, ohne das unsere Wunden ewig bluten und rasch unseren Tod herbeiführen werden.

Aber eine einzige Maßnahme ist dennoch nicht imstande, alle unsere Wunden zu heilen; notwendig sind auch noch andere Maßnahmen, und wir sprechen zu Dir, Herrscher, darüber fest und offen, wie zu einem Vater. Notwendig sind:

I. Maßnahmen gegen die Unwissenheit und Rechtlosigkeit des russischen Volkes:

1. Freiheit und Unantastbarkeit der Person, Redefreiheit, Presse- und Versammlungsfreiheit, Gewissensfreiheit in Angelegenheiten der Religion.

2. Allgemeine und obligatorische Volksbildung auf Kosten des Staates.

3. Verantwortlichkeit der Minister vor dem Volke und Garantien der Gesetzlichkeit der Verwaltung.

4. Gleichheit aller ohne Ausnahme vor dem Gesetz.

5. Sofortige Rückkehr aller, die für ihre Überzeugungen gelitten haben.

II. Maßnahmen gegen die Armut des Volkes:

1. Abschaffung der indirekten Steuern und ihre Ersetzung durch eine direkte progressive Einkommensteuer.

2. Abschaffung der Ablösungszahlungen; billiger Kredit und allmähliche Übergabe des Grund und Bodens an das Volk.

III. Maßnahmen gegen den Druck des Kapitals über die Arbeit:

1. Schutz der Arbeit durch das Gesetz.

2. Freiheit der konsum- und produktivgenossenschaftlichen gewerkschaftlichen Verbände.

3. Achtstündiger Arbeitstag und Regelung der Überstunden.

4. Freiheit des Kampfes zwischen Arbeit und Kapital.

5. Mitwirkung der Arbeiter an der Ausarbeitung eines Gesetzentwurfes über die staatliche Versicherung der Arbeiter.

6. Mindestarbeitslohn.

Dies, Herrscher, sind unsere Hauptnöte, mit denen wir zu Dir gekommen sind. Befiehl und schwöre, sie zu erfüllen, und Du wirst Russland glücklich und ruhmreich machen, und wir werden Deinen Namen in unsere Herzen und in die unserer Nachkommen für ewige Zeiten einprägen; befiehlst Du es aber nicht, so wollen wir hier auf diesem Platz vor Deinem Palais sterben. Wir haben keinen Ort, wohin wir uns wenden sollen, und es hat auch keinen Zweck. Wir haben nur zwei Wege: entweder zur Freiheit und zum Glück, oder in das Grab. Zeige, Herrscher, einen dieser Wege – wir werden ihn ohne Murren beschreiten, und sei es auch der Weg des Todes. Mag unser Leben ein Opfer sein für das gepeinigte Russland. Es ist uns um dieses Opfer nicht schade, wir bringen es gern dar.

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