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Wladimir I. Lenin 19051016 Brief an den Kampfausschuss des St. Petersburger Parteikomitees

Wladimir I. Lenin: Brief an den Kampfausschuss des St. Petersburger

Parteikomitees1

Geschrieben 3./16. Oktober 1905 Zum ersten Mal veröffentlicht 1926 im „Leninski Sbornik", Nr. 5. Nach Sämtliche Werke, Band 8, S. 437-439]

3./16. X. 1905

Werte Genossen!

Ich danke Euch sehr für die Zusendung 1. des Berichtes des Kampfausschusses, 2. der Notizen zur Frage der organisatorischen Vorbereitung des Aufstandes und 3. des Schemas der Organisation. Ich hielt es nach dem Durchlesen dieser Dokumente für meine Pflicht, mich unmittelbar an den Kampfausschuss zu wenden, um einen kameradschaftlichen Meinungsaustausch herbeizuführen. Über die praktische Gestaltung der Sache kann ich natürlich nicht urteilen; dass alles geschieht, was unter den schwierigen russischen Verhältnissen möglich ist, darüber kann kein Zweifel herrschen. Aber aus den Dokumenten geht hervor, dass sich die ganze Sache in eine bürokratische Angelegenheit zu verwandeln droht. Alle diese Schemas, alle diese Pläne der Organisierung des Kampfausschusses machen auf mich den Eindruck einer papiernen Schwerfälligkeit – ich bitte meine Offenheit zu entschuldigen, aber ich hoffe, dass Ihr mich nicht der Nörgelei bezichtigen werdet. In einer solchen Sache sind Schemas und weitläufige Erörterungen über die Funktionen des Kampfkomitees und seine Rechte am allerwenigsten angebracht. Hier braucht man wilde Energie und nochmals Energie. Ich sehe mit Entsetzen, wahrhaftig mit Entsetzen, dass man schon mehr als ein halbes Jahr von Bomben spricht und noch keine einzige hergestellt hat! Und die da sprechen, sind die gelehrtesten Leute … Geht zur Jugend, Herrschaften, das ist der einzige Rettungsweg. Sonst werdet Ihr, weiß Gott, zu spät kommen (ich ersehe das aus allem) und mit allen Euren „gelehrten" Entwürfen, Plänen, Zeichnungen, Schemas und großartigen Rezepten, aber ohne Organisation, ohne lebendige Tat dasitzen. Geht zur Jugend. Organisiert sofort Kampftrupps überall, wo Ihr nur könnt, besonders sowohl bei den Studenten als auch bei den Arbeitern usw. usw. Gruppen von 3 bis 10, bis 30 und mehr Menschen müssen sich sofort formieren. Sie müssen sich unverzüglich, so gut sie können, selber bewaffnen mit Revolvern, Messern, mit Petroleum getränkten Lappen, um Feuer anzulegen, usw. Diese Kampfabteilungen müssen sofort ihre Führer wählen und sich, so weit es nur möglich ist, mit dem Kampfausschuss des Petersburger Komitees in Verbindung setzen. Verlangt keinerlei Formalitäten, pfeift um Gottes willen auf alle Schemas, schickt alle „Funktionen, Rechte und Privilegien" zum Teufel. Verlangt nicht unbedingten Beitritt zur SDAPR – das wäre bei einem bewaffneten Aufstande eine absurde Forderung. Weigert Euch nicht, mit jedem Zirkel in Verbindung zu treten, auch wenn es nur drei Personen sind, unter der einzigen Bedingung, dass er gegenüber der Polizei verlässlich und bereit ist, gegen die Truppen des Zaren zu kämpfen. Mögen die Gruppen, die das verlangen, der SDAPR beitreten oder sich ihr angliedern, das wäre ausgezeichnet; aber ich würde es unbedingt für einen Fehler halten, wenn man das von ihnen forderte.

Die Rolle des Kampfausschusses beim Petersburger Parteikomitee muss darin bestehen, diesen Abteilungen der revolutionären Armee zu helfen, ihnen als Verbindungs-„Büro" zu dienen usw. Eure Dienste wird jede dieser Gruppen gern annehmen, aber wenn Ihr in einer solchen Sache mit Schemas und mit Reden über die „Rechte" des Kampfausschusses kommt, werdet Ihr die ganze Sache zugrunde richten, endgültig zugrunde richten, dessen versichere ich Euch!

Hier muss man mit breiter Propaganda wirken. Mögen 5 bis 10 Menschen wöchentlich Hunderte von Arbeitern und Studentengruppen aufsuchen, überall, wo nur irgend möglich, hinein dringen und den klaren, kurzen, direkten und einfachen Plan vorlegen: organisiert sofort eine Kampfabteilung, bewaffnet euch so gut ihr könnt, arbeitet mit allen Kräften, wir werden euch, so weit es uns möglich ist, helfen, aber wartet nicht auf uns, macht eure Sache allein.

Der Schwerpunkt bei einer solchen Sache liegt in der Initiative der Masse der kleinen Gruppen. Sie schaffen alles. Ohne sie ist Euer ganzer Kampfausschuss nichts. Ich bin bereit, die Produktivität eines Kampfausschusses nach der Anzahl der mit ihm verbundenen Gruppen zu bemessen. Wenn der Kampfausschuss in ein bis zwei Monaten nicht wenigstens seine 200–300 Abteilungen hat, dann ist er ein toter Kampfausschuss. Dann muss man ihn begraben. Bei dem gegenwärtigen Brodeln keine hundert Kampfabteilungen auf die Beine stellen können, heißt außerhalb des Lebens stehen.

Die Propagandisten müssen jeder Abteilung kurze und einfache Bombenrezepte und eine elementare Darstellung der ganzen Arbeitsart geben und dann die ganze Tätigkeit ihnen selbst überlassen. Die Abteilungen müssen ihre militärische Ausbildung sofort, unverzüglich mit praktischen Kampfhandlungen beginnen. Die einen werden sofort einen Spitzel töten oder ein Polizeirevier in die Luft sprengen, andere werden den Angriff auf eine Bank organisieren, um Geldmittel für den Aufstand zu konfiszieren, wieder andere veranstalten eine Übung oder fertigen Planskizzen an usw. Jedenfalls muss man gleich von Anfang an in der praktischen Arbeit lernen. Fürchtet Euch nicht vor diesen versuchsweisen Überfällen. Sie können natürlich in Extreme ausarten, aber das ist eine Gefahr von morgen und übermorgen, die Gefahr von heute besteht jedoch in unserer Trägheit, in unserem Doktrinarismus, in der „gelehrten" Schwerfälligkeit und senilen Angst vor der Initiative Jede Abteilung soll selbst, gegebenenfalls z. B. an Überfällen auf Polizisten lernen: die Dutzende von Opfern werden reichlich aufgewogen durch die Hunderte erfahrener Kämpfer, die morgen Hunderttausende in den Kampf führen werden.

Ich drücke Euch fest die Hände, Genossen, und wünsche Euch Erfolg. Ich will meine Ansicht keineswegs aufzwingen, aber ich halte es für meine Pflicht, eine beratende Stimme abzugeben.

Euer Lenin

1 Alle drei Dokumente, von denen in diesem Briefe die Rede ist, stammen aus der Feder von N. A. Skrypnik, der im Herbst 1905 in seiner Eigenschaft als Mitglied des Petersburger Komitees im Petersburger Kampfausschuss arbeitete. Der Bericht des Kampfausschusses ist in Nr. 5 des „Leninski Sbornik" abgedruckt. Die von Lenin angeführte „Notiz" ist „G. Schtschenski" unterschrieben (Deckname Skrypniks auf dem 3. Parteitag der SDAPR) und trägt die Überschrift „Zur Frage der Organisation der Vorbereitung des bewaffneten Aufstandes (Bericht des Petersburger Komitees der SDAPR)".

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