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Wladimir I. Lenin 19050200 Die ersten Lehren

Wladimir I. Lenin: Die ersten Lehren1

[Geschrieben Anfang Februar 1905 Zum ersten Mal veröffentlicht 1926 im „Lenin-Sammelbuch" Nr. 5. Nach Sämtliche Werke, Band 7, 1929, S. 148-153]

Die erste Welle des revolutionären Sturmes ist im Abebben. Wir stehen am Vorabend der unvermeidlichen und unabwendbaren zweiten Welle. Die proletarische Bewegung breitet sich immer mehr aus und hat sich jetzt über die fernsten Randgebiete ergossen. Die Gärung und Unzufriedenheit ergreift die verschiedenartigsten und rückständigsten Schichten der Gesellschaft. Handel und Industrie sind lahmgelegt, die Lehranstalten geschlossen, die Semstwoleute streiken, dem Beispiele der Arbeiter folgend. In der Zwischenzeit, zwischen den Massenbewegungen, häufen sich, wie immer, die individuellen terroristischen Akte: ein Attentat auf den Odessaer Polizeipräsidenten, ein Mord im Kaukasus, Ermordung des Senatsprokureurs in Helsingfors. Die Regierung wirft sich von der Politik der blutigen Knute auf die Politik der Versprechungen. Sie versucht, wenigstens einige Arbeiter durch die Komödie des Empfanges einer Arbeiterabordnung durch den Zaren zu betrügen. Sie sucht die öffentliche Aufmerksamkeit durch Neuigkeiten vom Kriegsschauplatz abzulenken und befiehlt Kuropatkin, am Hun-ho eine Offensive zu beginnen. Am 9. Januar war das Blutbad in Petersburg, am 12. begann diese vom militärischen Standpunkt sinnloseste Offensive, die mit einer neuen ernsten Niederlage der zarischen Generale endete. Die Russen wurden zurückgeschlagen und verloren selbst nach den Meldungen des Korrespondenten des „Nowoje Wremja" rund 13.000 Menschen, d. h. doppelt soviel wie die Japaner. Auf dem Gebiet der Militärverwaltung herrscht in der Mandschurei die gleiche Zersetzung und Demoralisierung wie in Petersburg. In der Auslandspresse werden die Telegramme, die den Zwist zwischen Kuropatkin und Grippenberg bald bestätigten bald dementierten, durch Telegramme abgelöst, die die Nachricht bald bestätigen bald wieder dementieren, dass die Großfürstenpartei die Gefahr des Krieges für den Absolutismus erkannt habe und so schnell wie möglich einen Friedensschluss herbeizuführen trachte.

Kein Wunder, dass unter solchen Bedingungen selbst die nüchternsten bürgerlichen Organe Europas nicht aufhören, von einer Revolution in Russland zu sprechen. Die Revolution wächst und reift mit einer vor dem 9. Januar nie gekannten Schnelligkeit. Ob die zweite Welle morgen, übermorgen oder in Monaten heran fluten wird, das hängt von einer Unmenge Umstände ab, die man nicht vorausberechnen kann. Um so dringlicher ist die Aufgabe, eine gewisse Bilanz der Revolutionstage zu ziehen und zu versuchen, die Lehren festzustellen, die uns viel früher zustatten kommen können, als manche anzunehmen geneigt sind.

Um die Revolutionstage richtig würdigen zu können, muss man einen allgemeinen Blick auf die neueste Geschichte unserer Arbeiterbewegung werfen. Vor fast zwanzig Jahren, 1885, erfolgten die ersten großen Arbeiterstreiks im zentralen Industriebezirk, bei Morosow und andern. Damals schrieb Katkow von der in Russland aufgetauchten Arbeiterfrage. Und wie erstaunlich schnell hat sich das Proletariat entwickelt, indem es vom ökonomischen Kampf zu politischen Demonstrationen, von den Demonstrationen zum revolutionären Ansturm überging. Rufen wir uns die wichtigsten Marksteine des zurückgelegten Weges ins Gedächtnis. 1885: große Streiks unter verschwindender Mitwirkung ganz vereinzelter, durch keine Organisation zusammengeschlossener Sozialisten. Die Gärung in der Gesellschaft infolge der Streiks veranlasst Katkow, den treuen Hund des Absolutismus, anlässlich der Gerichtsverhandlung von „101 Salutschüssen zu Ehren der in Russland aufgetauchten Arbeiterfrage" zu sprechen2. Die Regierung macht ökonomische Zugeständnisse. 1891: Beteiligung der Petersburger Arbeiter an der Demonstration bei der Beisetzung Schelgunows, politische Reden bei einer Petersburger Maifeier. Es war eine sozialdemokratische Demonstration der vorgeschrittenen Arbeiter bei Fehlen einer Massenbewegung.

1896: Streik Zehntausender von Arbeitern in Petersburg. Massenbewegung und Anfänge der Straßenagitation, diesmal schon unter Mitwirkung einer ganzen sozialdemokratischen Organisation. So gering, verglichen mit unserer jetzigen Partei, diese fast ausschließlich aus Studenten bestehende Organisation noch ist, ihr bewusstes und planmäßiges sozialdemokratisches Eingreifen und ihre Führung bewirken dennoch, dass die Bewegung im Vergleich zum Morosow-Streik gigantischen Schwung und Bedeutung gewinnt. Die Regierung macht wieder ökonomische Zugeständnisse3. Die Streikbewegung erhält in ganz Russland eine feste Grundlage. Die revolutionäre Intelligenz wird allgemein sozialdemokratisch. Die sozialdemokratische Partei wird gegründet. 1901: der Arbeiter eilt dem Studenten zu Hilfe. Eine Demonstrationsbewegung beginnt. Das Proletariat trägt seinen Ruf auf die Straße – nieder mit dem Absolutismus! Die radikale Intelligenz zerfällt endgültig in eine liberale, eine revolutionär-bürgerliche und eine sozialdemokratische. Die Beteiligung von Organisationen der revolutionären Sozialdemokratie an den Demonstrationen wird immer breiter, aktiver, unmittelbarer. 1902: der gewaltige Streik in Rostow verwandelt sich in eine hervorragende Demonstration. Die politische Bewegung des Proletariats schließt sich nicht mehr an die der Intellektuellen, der Studenten an, sondern wächst selbst unmittelbar aus dem Streik hervor. Die Beteiligung der organisierten revolutionären Sozialdemokratie ist eine noch aktivere. Das Proletariat erkämpft für sich und für die revolutionären Sozialdemokraten ihres Komitees die Freiheit von Massenversammlungen auf den Straßen. Das Proletariat steht sich zum ersten Mal allen anderen Klassen und dem Absolutismus als Klasse gegenüber. 1903: wieder gehen die Streiks Hand in Hand mit politischen Demonstrationen, aber auf einer noch breiteren Grundlage. Die Streiks erfassen einen ganzen Rayon, an ihnen beteiligen sich mehr als hunderttausend Arbeiter, politische Massenversammlungen wiederholen sich während der Streiks in einer ganzen Reihe von Städten. Man spürt, dass man am Vorabend von Barrikadenkämpfen steht (Äußerung Kiewer Sozialdemokraten über die Bewegung in Kiew4 vom Jahre 1903). Der Vorabend erweist sich jedoch als verhältnismäßig lang, als wollte er uns daran gewöhnen, dass mächtige Klassen ihre Kräfte mitunter monate- und jahrelang sammeln, als wollte er die kleingläubigen Intellektuellen, die sich der Sozialdemokratie angeschlossen halben, auf die Probe stellen. Und tatsächlich, der intelligenzlerische Flügel unserer Partei, die Anhänger der neuen ,,Iskra" oder (was dasselbe ist) die neuen Rabotschedjelzen, begannen bereits nach Demonstrationen von „höherem Typus" Ausschau zu halten in Form einer Übereinkunft der Arbeiter mit den Semstwoleuten, keinen panischen Schrecken hervorzurufen. Mit der allen Opportunisten eigenen Prinzipienlosigkeit verstiegen sich die Anhänger der neuen „Iskra" zu der unglaublichen, ganz unglaublichen These, dass in der politischen Arena nur zwei (!!) Kräfte vorhanden seien: Bürokratie und Bourgeoisie (siehe das zweite Schreiben der „Iskra"-Redaktion anlässlich der Semstwokampagne). Die Opportunisten der neuen „Iskra" vergaßen, nach Augenblickserfolgen haschend, die selbständige Kraft des Proletariats. Da kam das Jahr 1905, und der 9. Januar stellte wieder einmal alle vergesslichen Intelligenzler bloß. Die proletarische Bewegung erhob sich mit einem Schlag auf eine höhere Stufe. Der Generalstreik mobilisierte in ganz Russland sicherlich nicht weniger als eine Million Arbeiter. Die politischen Forderungen der Sozialdemokratie sickerten sogar bis zu den noch zarengläubigen Schichten der Arbeiterklasse durch. Das Proletariat durchbrach den Rahmen der polizeilichen Subatowiade, und die ganze Mitgliedermasse des legalen Arbeitervereins, der zum Kampf gegen die Revolution gegründet worden war, beschritt zusammen mit Gapon den revolutionären Weg. Der Streik und die Demonstration begannen vor unseren Augen sich in den Aufstand zu verwandeln. Die Beteiligung der organisierten revolutionären Sozialdemokratie war unvergleichlich bedeutender als in den vorhergegangenen Stadien der Bewegung, aber immer noch schwach, und zwar schwach im Vergleich zu der gigantischen Nachfrage der aktiven proletarischen Masse nach sozialdemokratischer Führung.

Im Großen und Ganzen vereinigten sich die Streik- und die Demonstrationsbewegung miteinander in verschiedenen Formen und aus verschiedenen Anlässen, sie wuchsen in die Breite und in die Tiefe, wurden immer revolutionärer und näherten sich in der Praxis immer mehr und mehr dem allgemeinen bewaffneten Volksaufstand, von dem die revolutionäre Sozialdemokratie seit langem gesprochen hatte. Diese Schlussfolgerung aus den Ereignissen des 9. Januar zogen wir bereits in den Nummern 4 und 5 des „Wperjod"5. Diese Schlussfolgerung zogen sofort und unmittelbar auch die Petersburger Arbeiter selbst. Am 10. Januar stürmten sie eine legale Druckerei, setzten das nachstehende, uns von den Petersburger Genossen zugesandte Flugblatt, druckten davon mehr als 10.000 Exemplare und verbreiteten es in Petersburg. Dieses bemerkenswerte Flugblatt hat folgenden Wortlaut:

Proletarier aller Länder, vereinigt euch!

Bürger! Ihr habt gestern die Bestialitäten der absolutistischen Regierung gesehen! Ihr habt das Blut in den Straßen fließen sehen. Ihr habt Hunderte von ermordeten Kämpfern für die Arbeitersache gesehen, ihr habt den Tod gesehen und das Stöhnen verwundeter Frauen und wehrloser Kinder gehört! Arbeiterblut und Arbeitermark haben das von Arbeiterhänden gelegte Pflaster bespritzt. Wer aber hat die Truppen, die Gewehre und die Kugeln gegen die Arbeiterbrust gerichtet? Der Zar, die Großfürsten, die Minister, die Generale und das Hofgesindel.

Sie sind die Mörder! Tod ihnen! Zu den Waffen, Genossen, besetzt die Arsenale, die Waffenlager und die Waffenläden! Zertrümmert die Gefängnisse, Genossen, befreit die Freiheitskämpfer! Zerschmettert die Polizei- und Gendarmerieämter und alle amtlichen Institutionen. Wir wollen die Zarenregierung stürzen und unsere eigene Regierung einsetzen. Es lebe die Revolution, es lebe die Konstituierende Versammlung der Volksvertreter!

Sozialdemokratische Arbeiterpartei Russlands."6

Dieser Aufruf bedarf keiner Erläuterungen. Die Selbsttätigkeit des revolutionären Proletariats ist hier vollauf zum Ausdruck gekommen. Die Aufforderung der Petersburger Arbeiter hat sich nicht so rasch verwirklicht, wie sie es wünschten, sie wird noch mehr als einmal wiederholt werden; die Versuche, sie zu verwirklichen, werden noch mehr als einmal zu Misserfolgen führen, aber die gigantische Bedeutung dessen, dass die Arbeiter selbst diese Aufgabe stellen, ist unbestreitbar. Die Errungenschaft der revolutionären Bewegung, die zur Erkenntnis der praktischen Dringlichkeit dieser Aufgabe geführt hat und sie bei jeder Volksbewegung als nächstliegende stellen wird, diese Errungenschaft kann bereits dem Proletariat durch nichts mehr genommen werden.

Es verlohnt sich, bei der Geschichte der Idee des Aufstandes zu verweilen. Die neue „Iskra" hat, angefangen von dem ewig denkwürdigen Leitartikel in der Nummer 62, über diese Frage so viele nebelhafte Plattheiten zusammen geredet, soviel opportunistische Konfusion, die unseres alten Bekannten, Martynow, durchaus würdig ist, dass die genaue Rekonstruktion der alten Fragestellung besonders wichtig ist. Allen Plattheiten und der ganzen Konfusion der neuen „Iskra" nachzugehen, ist sowieso unmöglich. Viel zweckmäßiger dürfte es sein, öfter der alten ,,Iskra" zu gedenken und ihre alten positiven Losungen zu entwickeln.

Am Schluss der Broschüre „Was tun?" von Lenin, auf Seite 1367, wurde die Losung des allgemeinen bewaffneten Volksaufstandes aufgestellt. Folgendes wurde darüber ganz zu Anfang des Jahres 1902, also vor drei Jahren, gesagt: „Man stelle sich einen Volksaufstand vor. In der heutigen Zeit werden wohl alle damit einverstanden sein, dass wir an ihn denken und uns auf ihn vorbereiten müssen …"8

1 Der Artikel „Die ersten Lehren" bildet den Vorentwurf zum nächsten Aufsatz „Zwei Taktiken". Der Artikel ist unbeendet geblieben, oder der Schluss ist möglicherweise abhanden gekommen.

2 Die Streiks im zentralen Industriebezirk im Jahre 1885, bei denen es zu schweren Zusammenstößen mit der Polizei und herbeigerufenem Militär gekommen war, führten zu zahlreichen Verhaftungen und zu einer Anklage wegen Aufruhrs. Im Mai 1886 fand in Wladimir die Gerichtsverhandlung vor einem Geschworenengericht statt. Den Geschworenen wurden hundertundeine Frage vorgelegt, die sie sämtlich verneinten, die Angeklagten wurden also freigesprochen. Dieser Ausgang des Prozesses veranlasste Кatkоw zu einem Hetzartikel in den „Moskowskije Wjedomosti" (Nr. 146 vom 29. Mai 1886). Der Artikel begann mit den Worten: „Gestern wurden in der alten, frommen Stadt Wladimir 101 Salutschüsse zu Ehren der in Russland aufgetauchten Arbeiterfrage abgegeben".

3 Unter dem Druck der großen Streikbewegungen sah sich die Regierung zum Erlass einiger Arbeiterschutzbestimmungen gezwungen, so wurde Juni 1885 ein Gesetz erlassen über Verbot von Nachtarbeit für jugendliche Arbeiter und Frauen in der Textilindustrie; Juni 1886 ein Gesetz, durch welches der schrankenlosen Willkür der Unternehmer bei Einstellung und Entlassung etwas Einhalt geboten wurde; Juni 1897 ein Gesetz, durch welches der elfeinhalbstündige Arbeitstag als Maximalarbeitstag festgesetzt wurde.

4 Der Generalstreik in Kiew vom 17.–26. (4.–13.) Juli 1903; er begann als Solidaritätsstreik für die streikenden Arbeiter in Odessa und Baku. Zur Bekämpfung der Streikenden wurde über die Stadt der Kriegszustand verhängt und Militär gegen die Arbeiter eingesetzt.

5 In Nr. 4 des „Wperjod" in einem Artikel von Lenin: „Der Beginn der Revolution"; in Nr. 5 im Leitartikel, überschrieben: „Fester Kurs", geschrieben von A. Lunatscharski.

6 Das Flugblatt: „Zu den Waffen, Genossen" wurde von Arbeitern des Wassiljewski Ostrow (Stadtteil von Petersburg) hergestellt. Das geht aus einer Korrespondenz in Nr. 85 der „Iskra" hervor, worin der Verfasser, ein Teilnehmer, berichtet: „Am Sonntag bemächtigten sich die Arbeiter des Wassiljewski Ostrow einer legalen Druckerei und druckten dort Flugblätter mit dem Ruf: ,Zu den Waffen, Genossen' ". Zweifellos ist es das Flugblatt, das Lenin hier anführt. Allerdings heißt es in der Korrespondenz, dass die Besetzung der Druckerei am Sonntag (also am 22. [9.] Januar) erfolgt sei, während es im Flugblatt heißt: „Ihr habt gestern die Bestialitäten gesehen", was zu der Annahme verleitet, dass die Besetzung erst am nächsten Tag, am Montag, erfolgt ist. Vielleicht ist die Angabe des Berichterstatters „am Sonntag" ein Schreibfehler, oder aber der Ausdruck im Flugblatt „Ihr habt gestern" ist absichtlich gewählt worden mit Rücksicht darauf, dass die Verteilung des Flugblattes erst am Montag möglich sein würde.

7 Die hier angegebene Seitenzahl bezieht sich auf die erste russische Auflage der Broschüre „Was tun?" – siehe Sämtliche Werke, Bd. IV 2 S 330 Die Red.

8 Hier bricht das Manuskript ab. Die Red.

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