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Wladimir I. Lenin 19051031 Die Zuspitzung der Lage in Russland

Wladimir I. Lenin: Die Zuspitzung der Lage in Russland

[Proletarij", Nr. 23, 18./31. Oktober 1905. Nach Sämtliche Werke, Band 8, S. 465 f.]

Unter dieser Überschrift veröffentlicht das liberale Berliner Blatt „Vossische Zeitung" den folgenden bemerkenswerten Bericht:

Mit unaufhaltsamer Gewalt schreiten die Ereignisse im Zarenreiche fort. Jedem unbefangenen Beobachter muss es klar sein, dass weder die Regierung noch irgendeine oppositionelle oder revolutionäre Partei die Zügel in der Hand hat. Vergeblich hat der so jäh vom Tode hinweggeraffte Fürst Trubezkoi, vergeblich haben die Lehrer der russischen Hochschulen versucht, die russische Studentenschaft von dem gefährlichen Wege abzulenken, auf den sie der Beschluss geführt hat, die Universitäten in Plätze für politische Versammlungen zu verwandeln. Die Studenten feiern enthusiastisch das Andenken des Fürsten Trubezkoi, geben ihm in Massen das Geleit und gestalten die Trauerfeierlichkeiten zu einer großen politischen Kundgebung, seinen Rat aber, die fremden Elemente von der Universität fernzuhalten, befolgen sie nicht. In der Petersburger Universität, in der Bergakademie finden bereits riesige Volksversammlungen statt, in denen die Studenten oft nur die Minderheit bilden und die vom frühen Morgen bis zum späten Abend dauern. Es werden dabei zündende, leidenschaftliche Reden gehalten und revolutionäre Lieder gesungen. Außerdem wird ab und zu tüchtig auf die Liberalen geschimpft, wegen ihrer „Halbheit" nämlich, die dem russischen Liberalismus nicht etwa zufällig anhaftet, sondern durch eherne historische Gesetze bedingt sein soll.

Es liegt eine tiefe Tragik in diesen Vorwürfen, die trotz ihrer historischen Begründung schon deshalb völlig unhistorisch sind, weil die Liberalen in Russland ja überhaupt noch nicht Gelegenheit hatten, irgendwelche Halbheiten zu offenbaren, die das für alle Parteien so wichtige Befreiungswerk irgendwie gefährden könnten. Nicht ihre Taten, sondern nur ihre Leiden hemmen ihres Lebens Gang. Die Regierung ist allen diesen Vorgängen gegenüber ebenso ratlos (gesperrt im Original), wie sie es den Arbeiterunruhen und der allgemeinen Gärung gegenüber ist. Es ist wohl möglich, dass sie wieder einen starken Aderlass plant und nur auf den Moment wartet, wenn die Bewegung zu Kosakenattacken reif geworden ist. Aber selbst, wenn das nicht der Fall wäre, so weiß doch keiner der Gewalthaber, ob das nicht zu einem noch stürmischeren Aufbrausen der Unzufriedenheit führen wird. Nicht einmal General Trepow ist seiner Sache sicher. Seinen Freunden gegenüber verhehlt er sich nicht, dass er sich als dem Tode geweiht betrachtet und dass er keinerlei positives Ergebnis seines Waltens erwartet. ,Ich tue nur', sagt er, ,was ich für meine Pflicht halte, und ich werde diese Pflicht bis zum Ende erfüllen.'

Es muss sehr traurig um den Zarenthron bestellt sein, wenn der Leiter des Polizeiressorts zu derartigen Schlüssen gelangt ist. In der Tat kann man nicht umhin, anzuerkennen, dass trotz aller Bemühungen Trepows, trotz aller fieberhaften Tätigkeit der zahllosen Kommissionen und Konferenzen die Spannung seit dem vorigen Jahr nicht nur nicht abgenommen, sondern sich vielmehr verstärkt hat. Wohin man auch blickt, überall ist die Lage schlimmer und gefährlicher geworden, überall haben sich die Zustände merklich zugespitzt."

Diese Einschätzung der Lage enthält viel Wahres, aber auch viel liberale Beschränktheit. „Weil die Liberalen … noch nicht Gelegenheit hatten, … Halbheiten zu offenbaren, die das … Befreiungswerk … gefährden könnten." So steht es also? Warum konnten sich denn diese armen Liberalen dennoch offener und freier äußern als andere Parteien? Nein! Die Studenten sind von einem gesunden, revolutionären, durch ihren Verkehr mit dem Proletariat geschärften Instinkt geleitet, wenn sie sich von den Konstitutionellen Demokraten eifrig abgrenzen und diese Konstitutionellen Demokraten in den Augen des Volkes diskreditieren. Der morgige Tag bringt uns große, welthistorische Freiheitskämpfe. Es ist möglich, dass die Kämpfer für die Freiheit noch mehr als eine Niederlage erleiden werden. Aber diese Niederlagen werden die Arbeiter und Bauern nur noch tiefer aufrütteln, die Krisis nur noch mehr zuspitzen, den unvermeidlichen endgültigen Sieg der Sache der Freiheit nur noch machtvoller gestalten. Und wir werden alle Kräfte einsetzen, damit sich die bürgerlichen Blutegel des monarchistischen, gutsherrlichen Liberalismus nicht an diesem Siege festsaugen, damit dieser Sieg nicht vor allem von den Herren Großbourgeois ausgenutzt wird, wie es schon so oft in Europa der Fall war. Wir werden alle Kräfte aufbieten, damit dieser Sieg der Arbeiter und Bauern zu Ende geführt werde, bis zur restlosen Vernichtung aller verhassten Institutionen des Absolutismus, der Monarchie, der Bürokratie, des Militarismus und der Leibeigenschaft. Nur ein solcher Sieg wird dem Proletariat wirkliche Waffen in die Hand legen – und dann werden wir Europa in Brand setzen, um aus der russischen demokratischen Revolution ein Vorspiel für den europäischen sozialistischen Umsturz zu machen.

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