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Wladimir I. Lenin 19051031 Ein Ultimatum des revolutionären Riga

Wladimir I. Lenin: Ein Ultimatum des revolutionären Riga

[Proletarij", Nr. 23, 18./31. Oktober 1905. Nach Sämtliche Werke, Band 8, S. 462 f.]

Die deutschen Zeitungen, die den Ereignissen in den Ostseeprovinzen gewöhnlich besondere Aufmerksamkeit zu widmen pflegen, berichten über den folgenden lehrreichen Fall. An der Rigaer Technischen Hochschule geht es ebenso zu wie an den anderen Hochschulen: die Studentenversammlungen verwandeln sich in politische Meetings. Die Studenten organisieren sich zu einer Streitmacht der Revolution. Die liberalen Protzen rümpfen die Nasen und brummen über die Schwäche der Regierung. Aber in Livland wurde die Lage für die Herren Gutsbesitzer so sehr gespannt, dass sie sich entschlossen an die Organisierung eines bewaffneten Schutzes ihrer Güter machten, ohne sich auf die Regierung zu verlassen, die weder mit den Bauern noch mit den Arbeitern noch mit den Studenten fertig werden kann. Die baltischen Barone organisieren allen Ernstes den Bürgerkrieg: sie mieten direkt ganze Truppenteile, rüsten sie mit guten Magazingewehren aus und verteilen sie auf ihre weitläufigen Güter. Und nun stellt sich heraus, dass in den Ostseeprovinzen ein Teil der deutschen Verbindungsstudenten in diese Truppenteile eingetreten ist! Die russische und die lettische Studentenschaft erklärte natürlich nicht nur den Boykott gegen diese Schwarzhunderter in Studentenuniform, sondern sie setzte eine besondere Kommission zur Untersuchung der Teilnahme der Studenten an den von den Gutsbesitzern organisierten Schwarzen Hunderten ein. Zwei Mitglieder dieser Kommission wurden in die Dörfer geschickt, um bei den Bauern Berichte zu sammeln. Die Regierung verhaftete die beiden Delegierten und brachte sie in das Rigaer Gefängnis.

Da erhoben sich die lettischen und die russischen Studenten. Es kam eine gewaltige Versammlung zustande. Eine energische Resolution wurde angenommen. Von dem herbeigerufenen Rektor der Technischen Hochschule forderte man sofortige Maßnahmen zur Befreiung der Verhafteten. Die Resolution schloss mit einem direkten Ultimatum: wenn die Verhafteten nicht in drei Tagen zur festgesetzten Stunde frei gelassen werden, so werden die Studenten ihre Befreiung mit Hilfe der Rigaer Arbeiter und mit allen erdenklichen Mitteln erzwingen.

Der Gouverneur war zu jener Zeit nicht in Riga, er war nach Petersburg gereist, um sich die Vollmachten eines Generalgouverneurs zu verschaffen. Der Stellvertreter des Gouverneurs bekam es mit der Angst zu tun und „zog sich" diplomatisch „aus der Affäre". Er ließ (so berichtet die „Vossische Zeitung" vom 20. Oktober n. St.1) den Rektor und die beiden Verhafteten zu sich kommen und fragte diese, ob sie sich der Ungesetzlichkeit ihrer Handlungen bewusst seien. Die Studenten antworteten natürlich, dass sie in ihren Handlungen nichts Ungesetzliches sehen. Darauf soll der Stellvertreter des Gouverneurs nach dem Bericht einer Rigaer Zeitung ihnen dringend empfohlen haben, sich derartiger gesetzwidriger Handlungen zu enthalten, und – die beiden in Freiheit gesetzt haben.

In den Augen der Studentenschaft", fügt der den baltischen Baronen zugetane Korrespondent betrübt hinzu, „und der hinter ihnen stehenden Masse hat die Regierung sich dem Ultimatum gebeugt. Auch der Unparteiische hat diesen Eindruck."

1 Die zitierten Worte stammen aus einem vom 13. Oktober datierten Bericht aus Riga „Die Zustände auf den baltischen Hochschulen", der in der „Vossischen Zeitung" vom 20. Oktober abgedruckt war.

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