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Wladimir I. Lenin 19050131 Revolutionstage

Wladimir I. Lenin: Revolutionstage

[„Wperjod" Nr. 4 18./31. Januar 1905. Nach Sämtliche Werke, Band 7, 1929, S. 116-118]

Revolte oder Revolution? Diese Frage stellen sich die europäischen Journalisten und Reporter, die der ganzen Welt über die Petersburger Ereignisse berichten und sie zu würdigen versuchen. Sind sie, diese Zehntausende von Proletariern, gegen die die Truppen des Zaren siegreich vorgegangen sind, Rebellen oder Insurgenten? Und die ausländischen Zeitungen, die am ehesten die Möglichkeit haben, „als Zuschauer", mit der Unparteilichkeit des Chronisten, die Ereignisse zu betrachten, tragen Bedenken, auf diese Frage zu antworten. Sie gebrauchen fortwährend bald den einen, bald den anderen Ausdruck. Und das ist nicht verwunderlich. Nicht umsonst sagt man, dass eine Revolution eine gelungene Revolte und eine Revolte eine misslungene Revolution sei. Wer am Beginn großer und grandioser Ereignisse steht, wer nur die Möglichkeit hat, sehr unvollständig, ungenau, aus dritter Hand einiges über die Vorgänge zu erfahren, der getraut sich selbstverständlich zunächst nicht, bestimmt Stellung zu nehmen. Die bürgerlichen Zeitungen, die nach wie vor von Revolte, Aufruhr, Ruhestörungen reden, können indessen nicht umhin, ihre nationale und sogar internationale Bedeutung einzusehen. Aber gerade das verleiht ja den Ereignissen den Charakter der Revolution. Auch diejenigen, die über die letzten Tage des Aufruhrs schreiben, beginnen unwillkürlich von den ersten Tagen der Revolution zu sprechen. In der Geschichte Russlands ist ein Wendepunkt eingetreten. Das leugnet selbst der eingefleischteste europäische Konservative nicht, der von der kraftvollen, keiner Kontrolle unterworfenen Macht des allrussischen Absolutismus ganz entzückt und gerührt ist. Von einem Frieden zwischen dem Absolutismus und dem Volke kann gar nicht die Rede sein. Von der Revolution sprechen nicht nur irgendwelche Tollköpfe, nicht allein die „Nihilisten", wie Europa immer noch die russischen Revolutionäre bezeichnet, sondern jedermann, der halbwegs fähig ist, sich für die Weltpolitik zu interessieren.

Die russische Arbeiterbewegung hat sich in wenigen Tagen auf eine höhere Stufe erhoben. Vor unseren Augen wächst sie sich zum Aufstand des ganzen Volkes aus. Natürlich ist es uns von hier, von Genf aus, aus der verfluchten Ferne, unvergleichlich schwerer, mit den Ereignissen Schritt zu halten. Doch müssen wir, solange wir noch dazu verdammt sind, in dieser verfluchten Ferne zu schmachten, versuchen, Schritt zu halten, die Ergebnisse festzustellen, Schlüsse zu ziehen, aus der Erfahrung der Geschichte von heute die Lehren zu schöpfen, die morgen von Nutzen sein können an anderer Stelle, wo heute noch „das Volk stumm ist" und wo in nächster Zukunft in dieser oder jener Form die Flammen der Revolution auflodern werden. Wir müssen das ständige Werk der Publizisten verrichten – die Geschichte der Gegenwart schreiben und versuchen, sie so zu schreiben, dass unsere Zeitgeschichte den unmittelbaren Teilnehmern der Bewegung und den heldenhaften Proletariern dort, am Orte der Aktionen, nach Kräften Hilfe bringt –, so zu schreiben, dass es dazu beiträgt, die Bewegung zu verbreitern, die Mittel, Wege und Kampfmethoden bewusst auszuwählen, die geeignet sind, bei geringstem Kraftaufwand die größten und sichersten Resultate zu zeitigen.

In der Geschichte der Revolutionen kommen jahrzehnte- und jahrhundertelang reifende Widersprüche zum Vorschein. Das Leben wird ungewöhnlich reich. Die Masse, die immer im Schatten steht und daher oft von den oberflächlichen Beobachtern ignoriert oder gar verachtet wird, betritt die politische Buhne als aktiver Kämpfer. Diese Masse lernt aus der Praxis indem sie vor aller Augen ihre Gehversuche macht, den Weg abtastet, die Aufgaben feststellt und sich selbst wie die Theorien aller ihrer Ideologen überprüft. Diese Masse macht heroische Anstrengungen, sich zur Höhe der ihr von der Geschichte aufgezwungenen gigantischen Weltaufgaben zu erheben, und mögen die einzelnen Niederlagen noch so groß sein, mögen die Ströme von Blut und die Tausende von Opfern uns noch so sehr betäuben – nichts kann und nichts wird seiner Bedeutung nach verglichen werden können mit dieser unmittelbaren Erziehung der Massen und Klassen im Verlaufe des revolutionären Kampfes selbst. Die Geschichte dieses Kampfes ist nach Tagen zu messen. Und nicht umsonst haben einige ausländische Zeitungen bereits ein „Tagebuch der russischen Revolution" eingeführt. Auch wir wollen solch ein Tagebuch führen.

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