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Wladimir I. Lenin 19050926 Von der Verteidigung zum Angriff

Wladimir I. Lenin: Von der Verteidigung zum Angriff

[Proletarij", Nr. 18. 13./26. September 1905. Nach Sämtliche Werke, Band 8, Wien-Berlin 1931, S. 310-313]

Der Spezialkorrespondent der soliden konservativen Zeitung „Temps" telegraphierte dieser Zeitung am 8./21. September aus Petersburg:

In der vorgestrigen Nacht überfiel eine Gruppe von 70 Personen das Rigaer Zentralgefängnis, durchschnitt die Telefonlinien und drang mittels Strickleitern in den Gefängnishof ein, wo nach heißem Handgemenge zwei Gefängniswärter getötet und drei schwer verletzt wurden. Die Manifestanten befreiten dann zwei politische Gefangene, die vor dem Kriegsgericht standen und das Todesurteil erwarteten. Während der Verfolgung der Manifestanten, denen es – mit Ausnahme von zweien, die verhaftet wurden – zu entkommen gelang, wurden ein Polizeiagent getötet und einige Polizisten verwundet."1

Es geht also immerhin vorwärts! Die Bewaffnung macht, ungeachtet der unsagbaren, aller Beschreibung spottenden Schwierigkeiten, immerhin Fortschritte. Der individuelle Terror, dieses Produkt der Schwäche der Intellektuellen, versinkt ins Reich der Vergangenheit. Anstelle der Aufwendung Zehntausender von Rubeln und einer Unmenge revolutionärer Kräfte für die Ermordung irgendeines Sergej (der Moskau kaum schlechter revolutionierte als viele Revolutionäre), für einen Mord „im Namen des Volkes", beginnen jetzt Kampfhandlungen zusammen mit dem Volke. Und das ist der Augenblick, wo die Pioniere des bewaffneten Kampfes nicht nur in Worten, sondern in der Tat mit der Masse verschmelzen, an die Spitze der Kampfgruppen und Abteilungen des Proletariats treten und mit dem Feuer und dem Schwert des Bürgerkrieges Dutzende von Führern des Volkes erziehen, die morgen, am Tage des Aufstandes der Arbeiter, mit ihrer Erfahrung und ihrer heroischen Kühnheit Tausenden und Zehntausenden von Arbeitern zu helfen vermögen.

Den Helden der revolutionären Rigaer Kampfabteilung gilt unser Gruß! Möge ihr Erfolg den sozialdemokratischen Arbeitern ganz Russlands zur Ermutigung und als Vorbild dienen. Hoch die Vorkämpfer der revolutionären Volksarmee!

Man sieht, mit welchem Erfolge, sogar vom rein militärischen Gesichtspunkt, das Unternehmen der Rigaer gekrönt war. Der Feind hat drei Tote und wahrscheinlich fünf bis zehn Verwundete. Unsere Verluste: im ganzen zwei Mann, wahrscheinlich verwundet und deshalb vom Feinde gefangengenommen. Unsere Trophäen: zwei der Gefangenschaft entrissene revolutionäre Führer. Das ist doch ein glänzender Sieg!! Das ist ein wirklicher Sieg nach einem Kampfe gegen einen bis an die Zähne bewaffneten Feind. Das ist schon keine Verschwörung gegen irgendeine gehasste Person, kein Racheakt, kein Ausbruch der Verzweiflung und kein bloßes „Schreck-Einjagen" mehr – nein, das ist schon der vorbedachte und vorbereitete, die Kräfteverhältnisse berechnende Beginn der Tätigkeit von Abteilungen einer revolutionären Armee. Die Anzahl dieser Abteilungen von 25 bis 75 Mann kann in jeder Großstadt, oft auch in den Vororten der Großstadt, auf einige Dutzend gebracht werden. Die Arbeiter werden diesen Abteilungen zu Hunderten beitreten, nötig ist nur, sofort die breitangelegte Propaganda dieser Idee, die Bildung dieser Abteilungen, ihre Versorgung mit allen möglichen Waffen, von Messern und Revolvern bis zu Bomben, sowie die militärische Schulung und Erziehung dieser Abteilungen in Angriff zu nehmen.

Glücklicherweise sind jene Zeiten vorbei, da in Ermangelung eines revolutionären Volkes revolutionäre Einzelpersonen, Terroristen die Revolution „machten". Die Bombe hat aufgehört, die Waffe des einzelnen „Bombenwerfers" zu sein. Sie wird zum notwendigen Zubehör der Volksbewaffnung. Mit den Veränderungen der Kriegstechnik müssen und werden sich auch die Methoden und Mittel des Straßenkampfes ändern. Wir alle studieren jetzt (und wir tun gut daran) den Bau von Barrikaden und die Kunst, sie zu verteidigen. Doch dieser nützlichen alten Sache wegen darf man die neuesten Fortschritte der Kriegstechnik nicht vergessen. Der Fortschritt in der Verwendung von Sprengstoffen hat auf dem Gebiete der Artillerie eine Reihe von Neuheiten mit sich gebracht. Die Japaner erwiesen sich zum Teil auch deshalb stärker als die Russen, weil sie viel besser mit Sprengstoffen umzugehen verstanden. Die breitangelegte Verwendung stärkster Sprengstoffe ist eine der kennzeichnenden Besonderheiten des letzten Krieges. Und diese jetzt in der ganzen Welt allgemein anerkannten Meister des Kriegsfaches, die Japaner, gingen auch zur Handbombe über, von der sie im Kampfe gegen Port Arthur ausgezeichneten Gebrauch machten. Wollen wir also von den Japanern lernen! Wir werden angesichts der harten Misserfolge, von denen die Versuche der massenhaften Herbeischaffung von Waffen begleitet sind, nicht den Mut sinken lassen. Keinerlei Misserfolge werden die Energie jener brechen, die ihre enge Verbindung mit der revolutionären Klasse fühlen und in der Tat sehen, die erkennen, dass sich jetzt tatsächlich das ganze Volk für ihre nächsten Kampfziele erhoben hat. Die Herstellung von Bomben ist überall und allerorts möglich. Sie wird jetzt in Russland in weit größerem Umfange vollzogen, als jeder von uns weiß (aber jedes Mitglied einer sozialdemokratischen Organisation kennt bestimmt mehr als ein Beispiel der Einrichtung von Werkstätten). Sie geschieht in unvergleichlich breiterem Ausmaße, als es die Polizei weiß (diese aber weiß mehr als die Revolutionäre in den einzelnen Organisationen). Keine Macht kann den Abteilungen einer revolutionären Armee widerstehen, die mit Bomben bewaffnet sind, die in einer schönen Nacht einige solcher Überfälle, wie den Rigaer, zugleich ausführen und für die sich – das ist die letzte und wichtigste Bedingung – Hunderttausende von Arbeitern erheben werden, die den „friedlichen" 9. Januar nicht vergessen haben und leidenschaftlich nach einem bewaffneten neunten Januar verlangen.

Dem gehen die Dinge in Russland offensichtlich entgegen. Man denke sich nur in die Mitteilungen der legalen Zeitungen von in Körben friedlicher Schiffspassagiere gefundenen Bomben hinein. Man lese sich hinein in die Nachrichten über Hunderte von Überfällen auf Polizisten und Militärs, über Dutzende auf der Stelle Getöteter, Dutzende von Schwerverwundeten im Verlaufe der letzten zwei Monate. Sogar die Korrespondenten des verräterischen bürgerlichen „Oswoboschdjenije", das sich mit der Verurteilung der „sinnlosen" und „verbrecherischen" Propaganda des bewaffneten Aufstandes befasst, geben zu, dass tragische Ereignisse noch nie so nahe waren wie heute.

An die Arbeit denn, Genossen! Möge jeder auf seinem Posten sein! Möge jeder Arbeiterzirkel dessen eingedenk sein, dass, wenn nicht heute, so morgen die Ereignisse von ihm die führende Teilnahme am letzten und entscheidenden Kampfe verlangen können!

1 Das zitierte Telegramm des Petersburger Korrespondenten ist dem Pariser „Temps", Nr. 16.165 vom 22. September 1905 entnommen. Es war vom 21. September datiert und überschrieben: „Nouvelles de l'étranger. La Situation politique en Russie." (Auslandsnachrichten, Die politische Lage in Russland).

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