Wladimir I. Lenin: Bauernschaft und Arbeiterklasse (11./24. Juni 1913) [Prawda No. 132, nach Ausgewählte Werke, Band 12. Die Theorie der Agrarfrage. Moskau 1939, S. 277 f.] In
den Zeitungen und Zeitschriften der Volkstümler
stoßen wir oft auf die Behauptung, dass die Arbeiter und die
„werktätige“ Bauernschaft eine
Klasse bilden.
Die völlige Unrichtigkeit dieser Anschauung ist für jeden offensichtlich, der versteht, dass in allen modernen Staaten die mehr oder minder entwickelte kapitalistische Produktion herrscht, d. h. das Kapital auf dem Markt die Herrschaft ausübt und die Masse der Werktätigen in Lohnarbeiter verwandelt. Der sogenannte „werktätige“ Bauer ist in Wirklichkeit ein kleiner Unternehmer oder Kleinbürger, der sich fast immer entweder Fremden zur Arbeit verdingt oder aber selbst Arbeiter dingt. Als kleiner Unternehmer schwankt der „werktätige“ Bauer auch in der Politik zwischen den Unternehmern und den Arbeitern, zwischen der Bourgeoisie und dem Proletariat. Eine der anschaulichsten Bestätigungen dieser Unternehmer- oder Bourgeoisnatur des „werktätigen“ Bauern sind die Angaben über die Lohnarbeit in der Landwirtschaft. Die bürgerlichen Ökonomen (darunter die Volkstümler) preisen gewöhnlich die „Lebensfähigkeit“ des landwirtschaftlichen Kleinbetriebs, wobei sie unter Kleinbetrieb eine Wirtschaft verstehen, die ohne Lohnarbeit auskommt. Genaue Angaben über die Lohnarbeit bei den Bauern sind aber bei ihnen nicht beliebt! Betrachten wir nun die Angaben, die zu dieser Frage in den letzten landwirtschaftlichen Zählungen, in Österreich 1902 und in Deutschland 1907, gesammelt worden sind. Je entwickelter ein Land, desto stärker die Lohnarbeit in der Landwirtschaft. In Deutschland wurden von insgesamt 15 Millionen in der Landwirtschaft beschäftigten Arbeitern 4½ Millionen Lohnarbeiter, d. h. 30 Prozent, gezählt; in Österreich von 9 Millionen 1¼, d. h. ungefähr 14 Prozent. Aber auch in Österreich sehen wir, wenn wir die Wirtschaften nehmen, die man gewöhnlich zu den bäuerlichen (oder „werktätigen“) rechnet, nämlich diejenigen mit 2-20 ha Land, eine bedeutende Ausbreitung der Lohnarbeit. Von 383.000 Wirtschaften mit 2-5 ha beschäftigten Lohnarbeiter 126.000. Von 242.000 Wirtschaften mit 10-20 ha beschäftigten Lohnarbeiter 142.000 (d. h. ungefähr 3/5). Somit beutet die kleine bäuerliche („werktätige“) Landwirtschaft Hunderttausende von Lohnarbeitern aus. Je größer die Bauernwirtschaft, desto größer ist die Zahl der Lohnarbeiter neben der ebenfalls bedeutenderen Zahl der arbeitenden Familienmitglieder. In Deutschland z. B. entfallen auf 10 Bauernwirtschaften:
Die wohlhabenderen Bauern, die mehr Land und eine größere Zahl „eigener“ Familienarbeiter haben, stellen außerdem auch eine größere Zahl von Lohnarbeitern ein. In der ganz vom Markt abhängigen kapitalistischen Gesellschaft ist die massenhafte kleine (bäuerliche) Produktion in der Landwirtschaft unmöglich ohne massenhafte Anwendung von Lohnarbeit, Das schöne Wörtchen „werktätiger“ Bauer betrügt den Arbeiter nur, indem es diese Ausbeutung der Lohnarbeit verschleiert. In Österreich dingen ungefähr 1,5 Millionen Bauernwirtschaften (mit 2–20 ha) eine halbe Million Lohnarbeiter. In Deutschland dingen 2 Millionen Bauernwirtschaften mehr als 1½ Millionen Lohnarbeiter. Und die kleineren Landwirte? Sie verdingen sich selbst! Sie sind Lohnarbeiter mit einem Stückchen Land. In Deutschland z. B. wurden ungefähr 3⅓ Mill. (3.378.509) Wirtschaften mit weniger als 2 ha gezählt. Von ihnen waren weniger als eine halbe Million (474.915) selbständige Landwirte, während die Zahl der Lohnarbeiter etwas weniger betrug als 2 Mill. (1.822.792)!! Schon die Lage, in der sich die kleinen Landwirte in der modernen Gesellschaft befinden, verwandelt sie somit unvermeidlich in Kleinbürger. Sie schwanken ewig zwischen den Lohnarbeitern und Kapitalisten. Die Mehrzahl der Bauern leidet Not und wird zugrunde gerichtet, verwandelt sich in Proletarier, während die Minderheit den Kapitalisten nachstrebt und die Abhängigkeit der Masse der Landbevölkerung von den Kapitalisten unterstützt. Darum steht in allen kapitalistischen Ländern die Bauernschaft in ihrer Masse bis jetzt abseits von der sozialistischen Bewegung der Arbeiter und schließt sich den verschiedenen reaktionären und bürgerlichen Parteien an. Nur die selbständige Organisation der Lohnarbeiter, die einen konsequenten Klassenkampf führt, ist imstande, die Bauernschaft dem Einfluss der Bourgeoisie zu entreißen und ihr die völlige Ausweglosigkeit der Lage der Kleinproduzenten in der kapitalistischen Gesellschaft klarzumachen. In Russland ist die Lage der Bauern in Bezug auf den Kapitalismus ganz dieselbe, wie wir sie in Österreich, Deutschland usw. sehen. Unsere „Besonderheit“ ist unsere Rückständigkeit: dem Bauern steht noch nicht der kapitalistische, sondern der feudale Großgrundbesitzer gegenüber, der die Hauptstütze der ökonomischen wie auch politischen Rückständigkeit Russlands ist. |