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Wladimir I. Lenin 19131200 Brief an Maxim Gorki

Wladimir I. Lenin: Brief an Maxim Gorki

[Geschrieben im Dezember 1913 Zum ersten Mal veröffentlicht 1924 im „Leninski Sbornik" I. Nach Sämtliche Werke Band 17, Moskau-Leningrad 1935, S. 100-103]

In der Frage nach Gott, dem Göttlichen und allem, was damit zusammenhängt, ergibt sich bei Ihnen ein Widerspruch – nach meiner Ansicht derselbe, auf den ich in unseren Gesprächen während unseres letzten Zusammenseins auf Capri hingewiesen habe: Sie haben mit den „Wperjod"-Leuten gebrochen (oder scheinen mit ihnen gebrochen zu haben), ohne die ideellen Grundlagen der „Wperjod"-Richtung bemerkt zu haben.

So auch jetzt. Sie sind „verärgert". Sie „können nicht begreifen, wie der Ausdruck ,auf eine Zeitlang' Ihnen entschlüpfen konnte" – so schreiben Sie, und gleichzeitig verteidigen Sie die Idee vom Gott und der Gottbildnerei.

Gott ist ein Komplex jener von Stamm, Nation, Menschheit ausgearbeiteten Ideen, die die sozialen Gefühle wecken und organisieren, zu dem Zwecke, die Persönlichkeit mit der Gesellschaft zu verbinden, den tierischen Individualismus zu zügeln."

Diese Theorie hängt offenkundig mit der Theorie oder den Theorien von Bogdanow und Lunatscharski zusammen.

Und sie ist offenkundig falsch und offenkundig reaktionär. Nach dem Muster der christlichen Sozialisten (der schlimmsten Abart des „Sozialismus" und seiner schlimmsten Verfälschung) wenden Sie eine Methode an, die (ungeachtet Ihrer besten Absichten) den Hokuspokus des Pfaffentums wiederholt: aus der Gottidee wird das ausgemerzt, was an ihr historisch und weltlich-irdisch ist (Teufelsspuk, Vorurteile, Heiligsprechung der Unwissenheit und Hilflosigkeit einerseits und der Leibeigenschaft und der Monarchie anderseits), wobei in die Gottidee an Stelle der historischen und weltlichen Realität eine gutherzige, spießbürgerliche Phrase hineingelegt wird (Gott = „die die sozialen Gefühle weckenden und organisierenden Ideen").

Sie wollen damit etwas „Gutes und Schönes" sagen, auf die „Wahrheit und Gerechtigkeit" hinweisen und dergleichen mehr. Aber dieser Ihr gutgemeinter Wunsch bleibt Ihr persönliches Eigentum, ein subjektiver „frommer Wunsch". Da Sie ihn nun niedergeschrieben haben, ist er in die Masse gedrungen, und seine Bedeutung wird nicht durch Ihren gutgemeinten Wunsch, sondern durch die Wechselbeziehungen der sozialen Kräfte, durch die objektiven Wechselbeziehungen der Klassen bestimmt. Kraft dieser Wechselbeziehungen ergibt sich (gegen Ihren Willen und unabhängig vom Ihrem Bewusstsein), dass Sie die Idee der Klerikalen, der Purischkjewitsch, Nikolaus' II. und der Herren Struve geschminkt und gezuckert haben, denn tatsächlich hilft die Gottidee diesen Leuten, das Volk in Sklaverei zu halten. Indem Sie die Gottidee ausschmückten, haben Sie die Ketten geschmückt, mit denen jene die unwissenden Arbeiter und Bauern fesseln. Seht – wird die Pfaffengesellschaft sagen –, was für eine schöne und tiefe Idee das ist (die Gottidee), wie sie sogar von „euren", ihr Herren Demokraten, Führern anerkannt wird – und wir (Pfaffengesellschaft) dienen dieser Idee.

Es ist nicht richtig, dass Gott der Komplex der Ideen ist, die die sozialen Gefühle wecken und organisieren. Das ist Bogdanowscher Idealismus, der den materiellen Ursprung der Ideen vertuschen will. Gott ist (historisch und sozial) vor allem ein Komplex von Ideen, die von der dumpfen, sowohl durch die äußere Natur als auch durch die Klassenunterdrückung bewirkte Niedergedrücktheit des Menschen erzeugt wurden – von Ideen, die diese Niedergedrücktheit festigen, die den Klassenkampf einschläfern. Es gab in der Geschichte eine Zeit, wo trotz dieses Ursprunges und dieser tatsächlichen Bedeutung der Gottidee der Kampf der Demokratie und des Proletariats in Gestalt des Kampfes der einen religiösen Idee gegen die andere vor sich ging.

Aber auch diese Zeit ist längst vorüber.

Jetzt ist sowohl in Europa als auch in Russland jedwede, selbst die verfeinertste, die wohlgemeinteste Verteidigung oder Rechtfertigung der Gottidee eine Rechtfertigung der Reaktion.

Ihre ganze Definition ist durch und durch reaktionär und bürgerlich. Gott = ein Komplex von Ideen, die „die sozialen Gefühle wecken und organisieren, zu dem Zwecke, die Persönlichkeit mit der Gesellschaft zu verbinden, den tierischen Individualismus zu zügeln".

Weshalb das reaktionär ist? Weil es die Idee der Pfaffen und der Verfechter der Leibeigenschaft von der „Zügelung" des Tierischen übertüncht. In Wirklichkeit hat nicht die Gottidee den „tierischen Individualismus" gezügelt; ihn hat sowohl die ursprüngliche Horde als auch die ursprüngliche Kommune gezügelt. Die Gottidee hat die „sozialen Gefühle" immer eingeschläfert und abgestumpft, da sie Lebendes durch Totes ersetzte und stets die Idee der Sklaverei (der schlimmsten, der ausweglosen Sklaverei) war. Die Gottidee hat nie „die Persönlichkeit mit der Gesellschaft verbunden", sondern stets die unterdrückten Klassen durch den Glauben an die Göttlichkeit der Unterdrücker gefesselt.

Bürgerlich ist Ihre Definition (und nicht wissenschaftlich, nicht historisch), weil sie überhaupt mit unbestimmten, allgemeinen, „robinsonhaften" Begriffen und nicht mit den bestimmten Klassen einer bestimmten geschichtlichen Epoche operiert.

Eine Sache ist die Gottidee bei einem Wilden, einem Syrjänen usw. (auch einem Halbwilden), eine andere Sache aber ist sie bei Struve und Komp. In beiden Fällen unterstützt die Klassenherrschaft diese Idee (und wird von dieser Idee unterstützt). Der „volkstümliche" Begriff vom lieben Gott und vom Göttlichen ist „volkstümlicher" Stumpfsinn, Hilflosigkeit, Unwissenheit, ist genau dasselbe wie die „volkstümliche Vorstellung" vom Zaren, vom Waldteufel, vom Prügeln der Ehefrauen. Wie Sie die „volkstümliche Vorstellung" von Gott eine „demokratische" nennen können, ist mir absolut unverständlich.

Dass der philosophische Idealismus „immer nur die Interessen der Persönlichkeit im Auge hat", das stimmt nicht. Hat Descartes die Interessen der Persönlichkeit mehr im Auge gehabt als Gassendi? Oder Fichte und Hegel mehr als Feuerbach?

Dass „die Gottbildnerei ein Prozess der Weiterentwicklung und Ansammlung sozialer Momente im Individuum und in der Gesellschaft" sei – das ist einfach fürchterlich!! Wenn in Russland Freiheit herrschte – die ganze Bourgeoisie würde Sie ja für solche Sachen, für diese Soziologie und Theologie von rein bürgerlichem Typus und Charakter auf den Schild erheben.

Nun, vorläufig genug, der Brief hat sich ohnehin in die Länge gezogen. Ich drücke Ihnen nochmals kräftig die Hand und wünsche Ihnen Gesundheit.

Ihr W. U.

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