Wladimir I. Lenin: Brief an Maxim Gorki [Geschrieben Mitte September 1913 Zum ersten Mal veröffentlicht 1924 im „Leninski Sbornik" I. Nach Sämtliche Werke Band 17, Moskau-Leningrad 1935, S. 97-100] Teurer Alexej Maximowitsch! Was machen Sie denn da eigentlich? – Es ist einfach entsetzlich! Gestern las ich in der „Rjetsch" Ihre Antwort auf das „Geheul" wegen Dostojewski, und ich wollte mich schon freuen, aber heute trifft die Zeitung der Liquidatoren ein, und dort ist ein Absatz Ihres Artikels abgedruckt, der in der „Rjetsch" fehlte. Dieser Absatz lautet folgendermaßen: „Die ,Gottsucherei' aber muss man auf eine Zeitlang" (nur eine Zeitlang?) „aufschieben – das ist eine zwecklose Beschäftigung: es hat keinen Zweck zu suchen, wo nichts da ist. Wer nicht säet, wird auch nicht ernten. Ihr habt keinen Gott, ihr habt ihn noch" (noch!) nicht geschaffen. Die Götter sucht man nicht – man erschafft sie, das Leben wird nicht ausgedacht, sondern geschaffen." Es ergibt sich also, dass Sie nur „auf eine Zeitlang" gegen die „Gottsucherei" sind!! Dass Sie nur deshalb gegen die Gottsucherei sind, um sie durch die Gottbildnerei zu ersetzen!! Nun, ist es denn nicht grauenhaft, dass sich bei Ihnen so etwas ergibt?? Die Gottsucherei unterscheidet sich von der Gottbildnerei oder von der Gotterzeugung oder Gottschöpfung usf. keineswegs mehr, als ein gelber Teufel sich von einem blauen unterscheidet. Von der Gottsucherei zu sprechen, nicht um sich gegen alle Teufel und Götter, gegen jede geistige Leichenschändung (jeder Herrgott ist eine Leichenschändung, und mag es der reinlichste, idealste, nicht gesuchte, sondern erschaffene liebe Herrgott sein, das ist einerlei) auszusprechen, sondern um einen blauen Teufel dem gelben vorzuziehen, ist hundertmal schlimmer, als überhaupt nicht davon zu reden. In den freiesten Ländern, in solchen Ländern, wo ein Appell „an die Demokratie, an das Volk, an die Öffentlichkeit und an die Wissenschaft" ganz und gar unangebracht wäre – in solchen Ländern (Amerika, Schweiz usw.) ist man besonders eifrig bemüht, das Volk und die Arbeiter gerade mit der Idee eines reinlichen, geistigen, erst zu erschaffenden Herrgotts stumpfsinnig zu machen. Gerade deshalb, weil jede religiöse Idee, jedwede Idee von jedem Herrgott, selbst jedes Kokettieren mit einem lieben Herrgott eine unsagbare Abscheulichkeit ist, der die demokratische Bourgeoisie mit besonderer Nachsicht (oft sogar wohlwollend) entgegenkommt, – gerade deshalb ist sie die gefährlichste Abscheulichkeit, die widerlichste „Ansteckung". Millionen von Sünden, Gemeinheiten, Vergewaltigungen und Ansteckungen physischer Art werden von der großen Menge viel leichter entlarvt und sind daher viel weniger gefährlich als die feine, vergeistigte, in die prächtigsten „ideologischen" Gewänder gekleidete Gottidee. Ein katholischer Pfaffe, der Mädchen schändet (wovon ich soeben zufällig in einer deutschen Zeitung las), ist gerade für die „Demokratie" weit weniger gefährlich als ein Pfaffe ohne Priesterrock, ein Pfaffe ohne grobschlächtige Religion, ein überzeugter und demokratischer Pfaffe, der die Schöpfung und Erschaffung eines Herrgotts predigt. Denn jenen Pfaffen zu entlarven, zu verdammen und hinauszuwerfen, ist leicht – diesen aber kann man nicht so einfach hinauswerfen, ihn zu entlarven ist tausendmal schwerer, und kein „brüchiger und kläglich wankelmütiger" Kleinbürger wird damit einverstanden sein, ihn zu „verdammen". Und Sie, der Sie die „Brüchigkeit und klägliche Wankelmütigkeit" der (russischen – warum der russischen? Ist die italienische besser??) Spießerseele kennen, verwirren diese Seele mit einem Gift, das am süßesten und am meisten in Zuckerwerk und allerlei bunte Papierchen eingehüllt ist!! Das ist wirklich entsetzlich. „Genug nun der Selhstbespeiungen, die bei uns die Selbstkritik ersetzen." Ist aber die Gottbildnerei nicht die übelste Sorte vom Selhstbespeiung?? Jeder Mensch, der sich mit der Erschaffung eines Gottes beschäftigt oder eine solche Erschaffung auch nur zulässt, bespeit sich selbst auf die übelste Art, denn er beschäftigt sich statt mit der „Tat" eben mit Selbstbetrachtung und Selbstbespiegelung, wobei ein solcher Mensch gerade die hässlichsten, stupidesten, knechtischsten Züge oder Züglein seines „Ichs" „betrachtet", die durch seine Gottbildnerei vergöttlicht werden sollen. Vom sozialen und nicht vom persönlichen Gesichtspunkt ist jedwede Gottbildnerei eben die liebevolle Selbstbetrachtung des stumpfsinnigen Spießbürgertums, des brüchigen Pfahlbürgertums, der träumerischen „Selbstbespeiung" der Philister und Kleinbürger, die „verzweifelt und müde" sind (wie Sie das sehr richtig von der Seele zu sagen geruhten – nur hätten Sie nicht von der „russischen", sondern von der Spießer Seele sprechen müssen, denn die jüdische, italienische, englische – alles ist dasselbe Teufelszeug, überall ist das schäbige Spießertum gleich widerlich, das „demokratische Kleinbürgertum", aber, das sich mit ideologischer Leichenschändung beschäftigt, ist doppelt widerlich). Ich lese mich in Ihren Artikel hinein, suche, wie sich dieser Lapsus bei Ihnen ergeben konnte, und ich kann daraus nicht klug werden. Was ist das? Sind es Reste Ihrer „Beichte", die Sie selbst nicht mehr billigen? Ihr Widerhall?? Oder etwas anderes – z. B. ein missglückter Versuch, sich zum allgemein-demokratischen Standpunkt herab zu neigen, anstatt den proletarischen Standpunkt einzunehmen? Vielleicht wollen Sie, um eines Gespräches mit der „Demokratie überhaupt" willen, ein wenig (entschuldigen Sie den Ausdruck!) „lallen", wie man es mit Kindern zu tun pflegt? Vielleicht wollen Sie „zwecks populärer Darstellung" für die Spießer auf einen Augenblick ihre Vorurteile zulassen? ? Aber das ist doch eine in jedem Sinne und in jeder Beziehung unrichtige Methode. Ich sagte oben, dass in den demokratischen Ländern der Appell eines proletarischen Schriftstellers „an die Demokratie, an das Volk, an die Öffentlichkeit und an die Wissenschaft" ganz und gar unangebracht wäre. Nun, und bei uns in Russland?? Ein solcher Appell ist nicht ganz angebracht, denn er schmeichelt ebenfalls irgendwie den spießbürgerlichen Vorurteilen. Der Appell ist irgendwie bis zur Nebelhaftigkeit allgemein – bei uns würde ihn sogar Isgojew von der „Russkaja Mysl" mit beiden Händen unterschreiben. Warum solche Losungen aufstellen, die Sie zwar vortrefflich von den Ideen eines Isgojew zu unterscheiden wissen, der Leser aber nicht zu unterscheiden vermag?? Warum dem Leser die Dinge mit einem demokratischen Flor umhüllen, anstatt ihm eine klare Darstellung des Unterschieds zwischen den Spießbürgern (den brüchigen, kläglich wankelmütigen, ermüdeten, verzweifelten, sich selbst betrachtenden, Gott betrachtenden, Gott schaffenden, Gott gewähren lassenden, sich selbst bespeienden, sinnlos-anarchistischen – ein prachtvolles Wort!! – und so fort und so fort). – und den Proletariern (die nicht nur in Worten mutig zu sein verstehen, die die „Wissenschaft und Öffentlichkeit" der Bourgeoisie von ihrer eigenen, die bürgerliche Demokratie von der proletarischen zu unterscheiden wissen) zu geben? Warum tun Sie das? Es kränkt einen verteufelt. Ihr W. U. P. S. Wir haben den Roman als eingeschriebenes Kreuzband abgeschickt. Haben Sie ihn erhalten? P. P. S. Kurieren Sie sich ernsthafter, wirklich, damit Sie im Winter reisen können, ohne sich zu erkälten (im Winter ist es gefährlich). Ihr W. Uljanow |