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Wladimir I. Lenin 19131000 Der Briefwechsel zwischen Marx und Engels

Wladimir I. Lenin: Der Briefwechsel zwischen Marx und Engels

Engels als einer der Begründer des Kommunismus

[Geschrieben im Oktober 1913 Erstmals veröffentlicht am 28. November 1920 in der „Prawda", Nr. 208, Gez.: N. Lenin. Nach Sämtliche Werke Band 17, Moskau-Leningrad 1935, S. 35-41]

Die längst angekündigte Herausgabe des Briefwechsels der berühmten Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus ist endlich erfolgt, Engels betraute testamentarisch mit der Herausgabe Bebel und Bernstein, und Bebel vermochte seinen Teil an der redaktionellen Arbeit kurz vor seinem Tode zu beendigen.

Der Briefwechsel zwischen Marx und Engels, der vor einigen Wochen bei Dietz in Stuttgart erschienen ist, umfasst vier große Bände. Sie enthalten insgesamt 1386 Briefe von Marx und Engels während der gewaltigen Zeitspanne von 1844 bis 1883.

Die redaktionelle Arbeit, d. h. die Abfassung der Vorworte zum Briefwechsel in den einzelnen Perioden, hat Ed. Bernstein besorgt. Wie zu erwarten war, ist diese Arbeit unbefriedigend, sowohl in technischer als auch in ideologischer Hinsicht. Bernstein hätte – nach seiner traurig-berühmten „Evolution" zu äußerst opportunistischen Ansichten – nicht die Redaktion von Briefen übernehmen dürfen, die durch und durch von revolutionärem Geist durchdrungen sind. Die Vorworte Bernsteins sind zum Teil inhaltslos, zum Teil geradezu fälschlich, z. B. wo man statt einer genauen, klaren, offenen Charakteristik der von Marx und Engels entlarvten opportunistischen Fehler Lassalles und Schweitzers eklektische Phrasen und Ausfälle trifft, etwa wie diese: „Man kann mit Fug bestreiten, dass Marx und Engels Lassalles Politik immer richtig beurteilt haben." (III. Band, S. XVIII), oder dass sie in der Taktik Schweitzer „viel näher" gestanden haben als Liebknecht (IV. Band, S. X.). In diesen Ausfällen ist nichts anderes als eine Verschleierung und Beschönigung des Opportunismus enthalten. Leider greift in der heutigen deutschen Sozialdemokratie die eklektische Einstellung zum ideellen Kampf Marxens gegen viele seiner Gegner immer mehr um sich.

In technischer Hinsicht ist zu sagen, dass das Register – ein Register für alle vier Bände – unbefriedigend zusammengestellt ist (es fehlen z. B. die Namen Kautsky und Sterling); die Bemerkungen zu den einzelnen Briefen sind zu spärlich und in den Vorworten des Redakteurs verstreut, anstatt dass sie bei den betreffenden Briefen untergebracht wären, wie dies Sorge gemacht hat, usw.

Der Preis des „Briefwechsels" ist unmäßig hoch – etwa 20 Rubel für alle vier Bände. Kein Zweifel, man hätte den vollständigen Briefwechsel weniger prunkvoll, zu einem erschwinglicheren Preise herausgeben können und sollen, und außerdem hätte man – für eine großzügige Verbreitung unter den Arbeitern – einen Auszug mit den in prinzipieller Hinsicht wichtigsten Stellen herausgeben können und sollen.

Alle diese Mängel der Ausgabe erschweren es natürlich, sich mit dem Briefwechsel bekannt zu machen. Das ist schade, denn sein wissenschaftlicher und politischer Wert ist gewaltig. Nicht nur treten hier Marx und Engels dem Leser mit besonderer Prägnanz und in ihrer ganzen Größe entgegen. Der so reiche theoretische Gehalt des Marxismus entfaltet sich hier höchst anschaulich, denn Marx und Engels kommen in den Briefen wiederholt auf die verschiedensten Seiten ihrer Lehre zu sprechen, wobei sie – manchmal sich gemeinsam besprechend und einer den anderen überzeugend – das Neueste (gegenüber den früheren Ansichten), Wichtigste, Schwierigste unterstreichen und erläutern.

An dem Leser zieht mit erstaunlicher Lebendigkeit die Geschichte der Arbeiterbewegung der ganzen Welt in den wichtigsten Augenblicken und in den wesentlichsten Punkten vorbei. Noch wertvoller ist die Geschichte der Politik der Arbeiterklasse. Aus den verschiedensten Anlässen in den verschiedenen Ländern der alten und in der neuen Welt und zu verschiedenen geschichtlichen Zeitpunkten besprechen Marx und Engels das Prinzipiellste zur Stellung der Fragen der politischen Aufgaben der Arbeiterklasse. Und die Epoche, auf die sich der Briefwechsel erstreckt, ist gerade die Epoche der Loslösung der Arbeiterklasse von der bürgerlichen Demokratie, die Epoche der Entstehung einer selbständigen Arbeiterbewegung, die Epoche der Bestimmung der Grundlagen der proletarischen Taktik und Politik. Je öfter in unserer Zeit beobachtet werden muss, wie die Arbeiterbewegung verschiedener Länder infolge des Stillstandes und der Fäulnis der Bourgeoisie, infolge der Aufzehrung der Aufmerksamkeit der Arbeiterführer durch den Kleinkram des Tages usw. unter dem Opportunismus leidet – desto wertvoller ist das höchst reiche Material des Briefwechsels, das ein außergewöhnlich tiefes Verständnis für die grundlegenden Umgestaltungsziele des Proletariats sowie eine ungewöhnlich elastische Bestimmung der gegebenen taktischen Aufgaben vom Standpunkt dieser revolutionären Ziele und ohne das geringste Zugeständnis an den Opportunismus oder an die revolutionäre Phrase offenbart.

Wenn man versuchen will, mit einem Wort zu bestimmen, worin sozusagen der Brennpunkt des ganzen Briefwechsels besteht jener Zentralpunkt, am dem das ganze Netz der geäußerten und besprochenen Ideen zusammentrifft –, so wird dieses Wort Dialektik heißen. Die Anwendung der materialistischen Dialektik bei der Umarbeitung der gesamten politischem Ökonomie, angefangen von ihrer Begründung, ihre Anwendung auf die .Geschichte, auf die Naturwissenschaft, auf die Philosophie, auf die Politik und die Taktik der Arbeiterklasse – das ist es, was Marx und Engels am meisten interessiert, das ist es, wozu sie das Wesentlichste und Neueste beitragen, darin besteht ihr genialer Schritt vorwärts in der Geschichte des revolutionären Gedankens.

In der weiteren Darstellung beabsichtigen wir, nach einem allgemeinen Überblick über den Briefwechsel, eine Skizze der interessantestem Bemerkungen und Betrachtungen Marx' und Engels' zu geben, wobei wir keineswegs darauf Anspruch erheben, den ganzem Inhalt der Briefe zu erschöpfen.

I. Allgemeiner Überblick

Den Briefwechsel eröffnen die Briefe des vierundzwamzigjährigen Engels an Marx im Jahre 1844. Die damalige Situation Deutschland tritt höchst plastisch hervor. Der erste Brief ist von Ende September 1844 datiert und stammt aus Barmen, wo die Familie Engels' lebte und wo dieser geboren wurde. Engels war damals noch nicht volle 24 Jahre alt. Die Familienverhältnisse bedrückten ihn und es drängt ihn fort. Der Vater ist ein Despot, ein religiöser Fabrikant, der darüber empört ist, dass der Sohn in politische Versammlungen läuft und eine kommunistische Überzeugung hegt. Wenn nicht die Mutter wäre, die ich sehr liebe – schreibt Engels –, würde ich nicht einmal die wenigen Tage aushalten, die bis zu meiner Abreise verbleiben.

Du kannst Dir nicht vorstellen – klagt er Marx –, was für kleinliche Erwägungen, was für abergläubische Befürchtungen hier, in der Familie, gegen meine Abreise erhoben werden.

Solange Engels in Barmen ist – wo ihn eine Liebesgeschichte noch eine gewisse Zeit zurückhielt –, gibt er dem Vater nach und arbeitet zwei Wochen im Kontor der Fabrik (sein Vater war Fabrikant).

„… der Schacher ist zu scheußlich – schreibt er Marx –, Barmen ist zu scheußlich, die Zeitverschwendung ist zu scheußlich, und besonders ist es zu scheußlich, nicht nur Bourgeois, sondern sogar Fabrikant, aktiv gegen das Proletariat auftretender Bourgeois zu bleiben."

Ich tröste mich – fährt Engels fort – mit der Arbeit an meinem Buch über die Lage der Arbeiterklasse (dieses Buch ist, wie bekannt, im Jahre 1845 erschienen und eine der besten Schriften der sozialistischen Weltliteratur).

Und man kann wohl als Kommunist der äußeren Lage nach Bourgeois und Schachervieh sein, wenn man nicht schreibt, aber kommunistische Propaganda im Großen und zugleich Schacher und Industrie zu treiben, das geht nicht. Genug, Ostern geh ich hier fort. Dazu das erschlaffende Leben in einer ganz radikal christlich-preußischen Familie – es geht nicht mehr, ich würde auf die Dauer ein deutscher Philister werden können und das Philisterium in den Kommunismus hinein tragen"

So schrieb der junge Engels. Nach der Revolution von 1848 zwang ihn das Leben, in das Kontor des Vaters zurückzukehren und auf lange Jahre hinaus „Schachervieh" zu werden, doch verstand er es, dabei fest zu bleiben, sich nicht eine christlich-preußische, sondern eine ganz andere, eine Umgebung von Genossen zu schaffen, verstand er es, für das ganze Leben zu einem schonungslosen Feinde des „Hineintragens des Philistertums in den Kommunismus" zu werden.

Das öffentliche Leben in der deutschen Provinz im Jahre 1844 gleicht dem russischen am Anfang des 20. Jahrhunderts, vor der Revolution von 1905. Alles drängt sich zur Politik, alles lodert voll oppositioneller Empörung gegen die Regierung, die Pastoren poltern gegen die Jugend wegen ihres Atheismus, die Kinder der bürgerlichen Familien „lesen den Alten jedes Mal den Text, wenn sie sich unterfangen, die Dienstboten oder Arbeiter aristokratisch zu behandeln".

Die allgemeine oppositionelle Stimmung kommt darin zum Ausdruck, dass sich alle zu Kommunisten erklären:

In Barmen ist der Polizeikommissär Kommunist", schreibt Engels an Marx. Ich war in Köln, Düsseldorf, Elberfeld – auf Schnitt und Tritt stolpert man über Kommunisten! „Ein sehr wütender Kommunist, Karikaturen- und angehender Geschichtsmaler namens Seel geht in zwei Monaten nach Paris, ich werde ihn an Euch adressieren, der Kerl wird Euch durch sein enthusiastisches Wesen, seine Malerei und Musikliebhaberei gefallen und ist sehr gut zu gebrauchen als Karikaturenmacher."

Hier in Elberfeld geschehen Wunderdinge. Wir haben gestern" (geschrieben am 22. Februar 1845) „im größten Saale und ersten Gasthof der Stadt unsre dritte kommunistische Versammlung abgehalten. Die erste 40, zweite 130, die dritte wenigstens 200 Menschen stark. Ganz Elberfeld und Barmen, von der Geldaristokratie bis zur épicerie [Krämertum], nur das Proletariat ausgeschlossen, war vertreten."

So schreibt Engels wörtlich. In Deutschland waren damals alle Kommunisten – außer dem Proletariat. Der Kommunismus war die Ausdrucksform der oppositionellen Stimmungen bei allen, und am meisten bei der Bourgeoisie. „Das dümmste, indolenteste, philisterhafteste Volk, das sich für nichts in der Welt interessiert hat, fängt an beinahe zu schwärmen für den Kommunismus" Die Hauptverkünder des Kommunismus waren damals Leute in der Art unserer Narodniki, „Sozialrevolutionäre", „Volkssozialisten" usf., d. h. im Grunde genommen gutgesinnte Bourgeois, die mehr oder minder auf die Regierung wütend waren.

Und unter solchen Umständen, unter einer unendlichen Zahl angeblich sozialistischer Richtungen und Fraktionen hat es Engels verstanden, sich den Weg zum proletarischen Sozialismus zu bahnen, ohne den Bruch mit einer Menge guter Leute, feueriger Revolutionäre, aber schlechter Kommunisten, zu fürchten.

1846. Engels ist in Paris. In Paris wurde damals mit Volldampf Politik getrieben und über verschiedene sozialistische Theorien diskutiert. Engels studiert begierig den Sozialismus, lernt persönlich Cabet, Louis Blanc und andere hervorragende Sozialisten kennen, eilt in die Redaktionen und Zirkel.

Seine Hauptaufmerksamkeit lenkt er auf die damals bedeutendste und verbreitetste sozialistische Lehre – den Proudhonismus

mus. Und noch vor dem Erscheinen des Buches Proudhons „Die Philosophie des Elends" (1846 im Oktober; die Antwort Marxens, das berühmte „Elend der Philosophie", erschien im Jahre 1847) kritisiert Engels mit schonungslosem Hohn und bemerkenswerter Tiefe die Grundideen Proudhons, mit denen damals besonders der deutsche Sozialist Grün Staat machte. Die ausgezeichnete Kenntnis der englischen Sprache (die Marx sich erst viel später aneignete) und der englischen Literatur ermöglichen es Engels, sofort (Brief vom 18. September 1846) auf die Beispiele des Bankrotts der berüchtigten Proudhonschen „Arbeiterateliers" in England hinzuweisen. Proudhon schändet den Sozialismus – empört sich Engels –, bei Proudhon ergibt sich, dass die Arbeiter das Kapital aufkaufen sollen.

Der sechsundzwanzigjährige Engels zerschmettert geradezu den „wahren Sozialismus" – diesen Ausdruck finden wir in seinem Briefe vom 23. Oktober 1846, lange vor dem „Kommunistischen Manifest", wobei er als seinen Hauptvertreter Grün nennt. Eine „antiproletarische, kleinbürgerliche, straubingerische" Lehre, „bloße Duselei", allerhand „Menschheitsstreben", „abergläubische Gespensterfurcht vor dem ,Löffelkommunismus' ", „friedliche Beglückungspläne" für die Menschheit – das sind die Äußerungen Engels, die sich auf alle Arten des vormarxschen Sozialismus beziehen.

Über den Proudhonschen Assoziationsplan“ – schreibt Engels – „wurde drei Abende diskutiert. Anfangs hatte ich beinahe die ganze Clique, zuletzt nur noch Eisermann und die übrigen drei Grünianer gegen mich. Die Hauptsache dabei war, die Notwendigkeit der gewaltsamen Revolution nachzuweisen" (23. Oktober 1846). „Zuletzt wurde ich wütend über die ewige Wiederholung derselben Argumente von Seiten meiner Gegner und attackierte die Straubinger geradezu, was bei den Grünianern große Entrüstung erregte, wodurch ich aber dem edlen Eisermann einen offenen Angriff auf den Kommunismus entlockte Ich erklärte also, ehe ich mich auf eine Diskussion einließe, müsse abgestimmt werden, ob wir hier qua" (als) „Kommunisten zusammenkämen oder nicht … Dies erregte großes Entsetzen bei den Grünianern, sie seien ,für das Wohl der Menschheit' zusammen … Übrigens müssten sie erst wissen, was Kommunismus eigentlich sei… Ich gab ihnen eine höchst simple Definition, die … im übrigen nichts enthielt, was Anlass zu Abschweifungen und Umgehung der vorgeschlagenen Abstimmung geben konnte. Ich definierte also die Absichten der Kommunisten dahin: 1. die Interessen der Proletarier im Gegensatz zu denen der Bourgeois durchzusetzen; 2. dies durch Aufhebung des Privateigentums und Ersetzung desselben durch die Gütergemeinschaft zu tun; 3. kein andres Mittel zur Durchführung dieser Absichten anzuerkennen als die gewaltsame, demokratische Revolution" (geschrieben anderthalb Jahre vor der Revolution von 1848).

Die Diskussion endete damit, dass die Versammlung mit 15 Stimmen gegen 2 Grünianer die Definition Engels' annahm. Diese Versammlungen waren von ungefähr 20 Schreinern besucht. So wurden vor 67 Jahren in Paris die Grundlagen der sozialdemokratischen Arbeiterpartei Deutschlands gelegt.

Ein Jahr später, im Briefe vom 24. November 1847, berichtet Engels an Marx über den von ihm verfassten Entwurf des „Kommunistischen Manifestes", wobei er sich unter anderem gegen die früher beabsichtigte Katechismusform ausspricht. Engels schreibt:

Ich fange an: Was ist der Kommunismus? und dann gleich das Proletariat – Entstehungsgeschichte, Unterschied von früheren Arbeitern, Entwicklung des Gegensatzes des Proletariats und der Bourgeoisie, Krisen, Folgerungen … und schließlich die Parteipolitik der Kommunisten."

Dieser historische Brief Engels' über den ersten Entwurf einer Schrift, die in die ganze Welt gelangt ist und die bis heute in allem Grundlegenden richtig, lebendig und zeitgemäß ist, als ob sie gestern geschrieben worden sei, zeigt anschaulich, dass man die Namen Marx und Engels mit Recht nebeneinander stellt als die Namen der Begründer des modernen Sozialismus.1

1 Hier bricht der Artikel ab. Die Red.

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