Wladimir I. Lenin: Der Kleinbetrieb in der Landwirtschaft (18./31. Juli 1913) [Rabotschaja Prawda No. 5, nach Ausgewählte Werke, Band 12. Die Theorie der Agrarfrage. Moskau 1939, S. 271-273] Die Bauernfrage ruft in den modernen, kapitalistischen Staaten am häufigsten Bedenken und Schwankungen unter den Marxisten und die meisten Angriffe auf den Marxismus seitens der bürgerlichen (professoralen) politischen Ökonomie hervor. Der Kleinbetrieb in der Landwirtschaft ist unter dem Kapitalismus zum Untergang, zu einer unglaublich elenden, unterdrückten Lage verdammt, sagen die Marxisten. Abhängig vom Großkapital, rückständig im Vergleich mit dem landwirtschaftlichen Großbetrieb, hält sich der Kleinbetrieb nur durch verzweifelte Herabdrückung seiner Bedürfnisse und durch eine alle Kraft übersteigende Zwangsarbeit. Zersplitterung der menschlichen Arbeit und Raubbau an ihr, schlimmste Arten der Abhängigkeit des Produzenten, Erschöpfung der Kräfte der Bauernfamilie, des bäuerlichen Viehs, des Bauernlandes, das ist es, was der Kapitalismus stets und überall dem Bauern bringt. Für den Bauern gibt es keine andere Rettung, als sich in erster Linie den Aktionen des Proletariats, der Lohnarbeiter anzuschließen. Die bürgerliche politische Ökonomie und ihre nicht immer bewussten Anhänger in Gestalt der Volkstümler und Opportunisten bemühen sich dagegen zu beweisen, dass der Kleinbetrieb lebensfähig und vorteilhafter als der Großbetrieb sei. Nicht zum Proletariat, sondern zur Bourgeoisie, nicht zum Klassenkampf der Lohnarbeiter, sondern zur Festigung seiner Stellung als Eigentümer und Landwirt soll der Bauer hinstreben, der in der kapitalistischen Ordnung eine gesicherte und aussichtsvolle Lage einnehme – das ist das Wesen der Theorie der bürgerlichen Ökonomen. Versuchen wir an Hand von genauen Daten die Stichhaltigkeit der proletarischen und der bürgerlichen Theorie zu prüfen. Nehmen wir die Angaben über die Frauenarbeit in der Landwirtschaft Österreichs und Deutschlands. Für Russland gibt es, weil der Regierung nicht daran liegt, eine Zählung aller landwirtschaftlichen Betriebe auf wissenschaftlicher Grundlage vorzunehmen, bis auf diesen Tag keine vollständigen Angaben. In Österreich ergab die Zählung von 1902, dass von 9.070.682 in der Landwirtschaft beschäftigten Personen 4.422.981, d. h. 48,7 Prozent, Frauen waren. In Deutschland, wo der Kapitalismus bedeutend höher entwickelt ist, machten die Frauen unter allen in der Landwirtschaft beschäftigten Arbeitern die Mehrheit aus, nämlich 54,8 Prozent. Je mehr sich der Kapitalismus in der Landwirtschaft entwickelt, um so mehr verstärkt er die Frauenarbeit, d. h. verschlechtert er die Lebensbedingungen der werktätigen Massen. In der deutschen Industrie sind 25 Prozent Frauen, in der Landwirtschaft aber mehr als doppelt soviel beschäftigt. Das bedeutet, dass die Industrie die besten Arbeitskräfte an sich zieht und der Landwirtschaft die schwächeren Arbeitskräfte lässt. In den entwickelten kapitalistischen Ländern ist die Landwirtschaft bereits vorwiegend zu einem Frauenberuf geworden. Nehmen wir aber die Daten über die landwirtschaftlichen Betriebe von verschiedener Größe, so sehen wir, dass die Ausbeutung der Frauenarbeit gerade im Kleinbetrieb besonders große Ausmaße erreicht. Dagegen wendet der kapitalistische Großbetrieb auch in der Landwirtschaft vorwiegend Männerarbeit an, wenn er auch in dieser Hinsicht die Industrie nicht erreicht. Nachstehend die vergleichenden Daten für Österreich und Deutschland:
In beiden Ländern sehen wir das gleiche Gesetz der kapitalistischen Landwirtschaft. Je kleiner der Betrieb, um so schlechter die Zusammensetzung der Arbeitskräfte, um so mehr überwiegen die Frauen in der Gesamtzahl der in der Landwirtschaft beschäftigten Personen. Die allgemeine Lage der Dinge unter dem Kapitalismus ist die folgende: In den proletarischen Wirtschaften, d. h. in solchen, deren „Wirte“ hauptsächlich von Lohnarbeit leben (Knechte, Tagelöhner und überhaupt Lohnarbeiter mit einem winzigen Stückchen Land), übersteigt die Frauenarbeit die Männerarbeit, zuweilen in gewaltigem Ausmaß. Es darf nicht vergessen werden, dass die Zahl dieser proletarischen oder Lohnarbeiter-Wirtschaften gewaltig ist; in Österreich 1,3 Millionen von insgesamt 2,8 Millionen, in Deutschland aber sogar 3,4 Millionen von insgesamt 5,7 Millionen. In den bäuerlichen Wirtschaften sind Männer- und Frauenarbeit annähernd gleich verbreitet. In den kapitalistischen Wirtschaften schließlich übersteigt die Männerarbeit die Frauenarbeit. Was bedeutet das? Das bedeutet, dass im Kleinbetrieb die Zusammensetzung der Arbeitskräfte schlechter ist als im kapitalistischen Großbetrieb. Das bedeutet, dass in der Landwirtschaft die Arbeiterin – die Proletarierin und Bäuerin – sich zum Schaden ihrer Gesundheit und der Gesundheit ihrer Kinder bedeutend mehr anstrengen, schinden und placken muss, um es nach Möglichkeit dem männlichen Arbeiter im kapitalistischen Großbetrieb gleichzutun. Das bedeutet, dass sich der Kleinbetrieb unter denn Kapitalismus nur dadurch halten kann, dass er aus dem Arbeiter eine größere Arbeitsmenge herausschlägt, als der Großbetrieb aus dem Arbeiter herausschlägt. Der Bauer ist durch das verwickelte Netz der kapitalistischen Abhängigkeit mehr gebunden, mehr umgarnt als der Lohnarbeiter. Ihm scheint es, dass er selbständig sei, dass er sich „emporarbeiten“ könne, in Wirklichkeit aber muss er, um sich zu halten, schwerer arbeiten (zugunsten des Kapitals) als der Lohnarbeiter. Die Angaben über die Kinderarbeit in der Landwirtschaft zeigen das noch klarer. |