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Wladimir I. Lenin 19130625 Die Kinderarbeit in der Bauernwirtschaft

Wladimir I. Lenin: Die Kinderarbeit in der Bauernwirtschaft

(12./25. Juni 1913)

[Prawda No. 133, nach Ausgewählte Werke, Band 12. Die Theorie der Agrarfrage. Moskau 1939, S. 274-276]

Am wichtigsten für die richtige Beurteilung der Bedingungen, denen der landwirtschaftliche Kleinbetrieb unter dem Kapitalismus ausgesetzt ist, ist die Frage nach der Lage des Arbeitenden, seinem Verdienst, der Arbeitsmenge, den Lebensbedingungen, ferner nach der Viehhaltung und Qualität der Viehwartung und schließlich nach den Bodenbearbeitungsmethoden, nach der Bodendüngung, nach dem Raubbau an den Bodenkräften usw.

Es ist leicht zu verstehen, dass man, wenn man diese Fragen umgeht (wie das die bürgerliche politische Ökonomie durch die Bank tut), eine völlig verzerrte Vorstellung von der Bauernwirtschaft erhält, denn ihre wirkliche „Lebensfähigkeit“ hängt gerade von der Lage des Arbeitenden, von den Bedingungen der Viehhaltung und der Bodenbearbeitung ab. Von vornherein anzunehmen, dass der Kleinbetrieb in dieser Beziehung mit dem Großbetrieb gleichgestellt sei, bedeutet, das erst zu Beweisende als bewiesen anzunehmen, bedeutet, sich gleich auf den bürgerlichen Standpunkt zu stellen.

Die Bourgeoisie möchte beweisen, dass der Bauer ein richtiger und lebensfähiger „Landwirt“ ist, nicht aber ein Sklave des Kapitals, der ebenso wie der Lohnarbeiter niedergedrückt ist, aber mehr als dieser gebunden, mehr umgarnt ist. Wenn man für die Entscheidung der strittigen Frage ernst und gewissenhaft Unterlagen sucht, so muss man systematische und objektive Kennzeichen betreffs der Lebens- und Arbeitsbedingungen im Groß- und Kleinbetrieb ausfindig machen.

Zu den Kennzeichen dieser Art – und zwar zu den besonders wichtigen – gehört der Grad der Anwendung von Kinderarbeit. Je stärker die Ausbeutung der Kinderarbeit, um so schlechter ist zweifellos die Lage des Arbeitenden, um so schwerer sein Leben.

Die österreichische und deutsche landwirtschaftliche Zählung geben Aufschluss über die Zahl der Kinder und Halbwüchsigen in der Gesamtzahl der in der Landwirtschaft beschäftigten Personen. Hierbei sind in Österreich alle Arbeitenden beiderlei Geschlechts unter 16 Jahren gesondert gezählt. Es waren 1,2 Millionen von 9 Millionen, d. h. 13 Prozent. In Deutschland dagegen sind nur die Minderjährigen bis zu 14 Jahren gesondert gezählt; es waren sechshunderttausend (601.637) von fünfzehn Millionen (15.169.549), d. h, 3,9 Prozent.

Es ist klar, dass die österreichischen und deutschen Angaben nicht miteinander vergleichbar sind. Völlig vergleichbar ist aber das hierbei zutage tretende Verhältnis zwischen den proletarischen, bäuerlichen und kapitalistischen Wirtschaften.

Zu den proletarischen Wirtschaften rechnen wir die winzigen Landstückchen (bis zu 2 ha, d. h. fast 2 Desjatinen auf eine Wirtschaft), die den Lohnarbeitern einen Nebenverdienst geben. Zu den Bauernwirtschaften zählen wir solche, die 2–20 ha besitzen; hier übersteigt die Arbeit der Familie die Lohnarbeit. Schließlich die kapitalistischen Wirtschaften, das sind die größeren Wirtschaften, in denen die Lohnarbeit die Arbeit der Familie übersteigt.

Nachfolgend die Angaben über die Kinderarbeit in den Wirtschaften dieser drei Typen:

Wirtschaften

Wirtschaftsgruppen

Auf 100 Personen kommen in der Landwirtschaft


Kinder bis zu 16 Jahren in Österreich

Kinder bis zu 14 Jahren in Deutschland

Proletarische

bis zu ½ ha

8,8

2,2

von ½ bis 2 ha

12,2

3,9


Bäuerliche

von 2 bis 5 ha

15,3

4,6

von 5 bis 10 ha

15,6

4,8

von 10 ha 20 ha

12,8

4,5

Kapitalistische

von 20 bis 100 ha

11,1

3,4

100 und mehr ha

4,2

3,6

Insgesamt


13,9

3,9

Wir ersehen hieraus, dass in beiden Ländern die Ausbeutung der Kinderarbeit gerade in den bäuerlichen Wirtschaften im Allgemeinen und im Besonderen gerade in den mittelbäuerlichen Wirtschaften (5-10 ha) am stärksten ist.

Also nicht genug damit, dass der Kleinbetrieb schlechter gestellt ist als der Großbetrieb. Wir sehen weiter, dass speziell die Bauernwirtschaft nicht nur schlechter als die kapitalistische, sondern sogar schlechter als die proletarische Wirtschaft gestellt ist.

Wie ist diese Erscheinung zu erklären?

In der proletarischen Wirtschaft wird die Landwirtschaft auf einem so verschwindend kleinen Stückchen Land betrieben, dass man eigentlich nicht ernsthaft von einer „Wirtschaft“ sprechen kann. Die Landwirtschaft ist hier Nebenbeschäftigung; Hauptbeschäftigung ist die Lohnarbeit in der Landwirtschaft und in der Industrie. Der Einfluss der Industrie hebt im Allgemeinen das Lebensniveau des Arbeitenden und verringert im Besonderen die Ausbeutung der Kinderarbeit. In Deutschland z. B. wies die Zählung in der Industrie nur 0,3 Prozent Arbeitende bis zu 14 Jahren (d. h. ein Zehntel der entsprechenden Zahl in der Landwirtschaft) und nur 8 Prozent bis zu 16 Jahren auf.

In der Bauernwirtschaft aber ist der Einfluss der Industrie am schwächsten, die Konkurrenz mit der kapitalistischen Landwirtschaft aber am stärksten. Der Bauer kann sich nicht halten, ohne sich selbst bei der Arbeit halb zu Tode zu plagen und seine Kinder doppelt schwer arbeiten zu lassen. Die Not zwingt den Bauern, den Mangel an Kapital und an technischen Verbesserungen durch schwere Arbeit wettzumachen. Und wenn beim Bauern die Kinder am schwersten arbeiten, so bedeutet das ebenfalls, dass das Vieh des Bauern schwer arbeitet und schlecht gefüttert wird: die Notwendigkeit, alle Kräfte anzustrengen und an allem zu „sparen“, äußert sich unvermeidlich überall in der Wirtschaft,

Die deutsche Statistik zeigt, dass unter den Lohnarbeitern der Prozentsatz der Kinder in den kapitalistischen Großbetrieben (100 und mehr Hektar) am höchsten (fast 4, nämlich 3,7 Prozent) ist, während unter den arbeitenden Familienmitgliedern der Anteil der Kinder beim Bauern am größten ist, und zwar rund 5 Prozent (4,9-5,2 Prozent). Unter den Saisonlohnarbeitern erreicht der Anteil der Kinder 9 Prozent bei den großen Kapitalisten, während er unter den saisonmäßig arbeitenden Familienmitgliedern bei den Bauern auf 16,5-24,4 Prozent steigt!!

Während der dringenden Jahreszeit leidet der Bauer Mangel an Arbeitskräften; Arbeiter einstellen kann er nur in geringer Zahl; er muss also seine eigenen Kinder auf jede Art und Weise in die Arbeit einspannen. So ergibt sich die Tatsache, dass in der deutschen Landwirtschaft überhaupt der Prozentsatz der Kinder unter den arbeitenden Familienmitgliedern fast das Anderthalbfache des Prozentsatzes der Kinder unter den Lohnarbeitern beträgt. Der Anteil der Kinder unter den arbeitenden Familienmitgliedern beträgt 4,4 Prozent, unter den Lohnarbeitern aber 3,0 Prozent.

Der Bauer muss sich bei der Arbeit mehr anstrengen als der Lohnarbeiter. Diese Tatsache, die durch Tausende einzelner Beobachtungen bestätigt wird, ist jetzt durch die Statistik ganzer Länder in vollem Umfang bewiesen worden. Der Kapitalismus verdammt den Bauern zu größter Niedergedrücktheit und zum Untergang. Es gibt keine andere Heilung als den Anschluss an den Klassenkampf der Lohnarbeiter. Um aber zu dieser Schlussfolgerung zu gelangen, muss der Bauer lange Jahre der Enttäuschung über die betrügerischen bürgerlichen Losungen durchmachen.

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