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Wladimir I. Lenin 19131108 Die liberale Bourgeoisie und die Liquidatoren

Wladimir I. Lenin: Die liberale Bourgeoisie und die Liquidatoren

[Sa Prawdu", Nr. 20, 26. Oktober/8. November 1913. Nach Sämtliche Werke Band 17, Moskau-Leningrad 1935, S. 45-47]

Die wichtigste Partei der liberalen Bourgeoisie Russlands, die Kadettenpartei, zählt in ihrem Generalstab nicht wenige Leute mit europäischer Bildung. Man kann in unserer Zeit kein gebildeter Mensch sein, ohne allgemeine Kenntnisse über den Marxismus und über die westeuropäische Arbeiterbewegung zu besitzen.

Bei der reichen Zahl bürgerlicher Intellektueller in ihrer Partei besitzen die russischen Kadetten natürlich diese Kenntnisse; sie haben sogar eine Reihe von Leuten, die in ihrer Jugend selbst Marxisten oder fast Marxisten waren und die mit den Jahren „klüger wurden" und zu liberalen Spießbürgern geworden sind.

All das erklärt den Unterschied in den Beziehungen der alten, europäischen und der neuen, russischen Liberalen zur Sozialdemokratie. Jene bekämpften ihre Entstehung, bestritten ihre Existenzberechtigung; diese sind gezwungen, sich mit der Tatsache abzufinden: „Wir zweifeln nicht daran“ – heißt es in einem Leitartikel der „Rjetsch" (Nr. 287)1 –, „dass es der Sozialdemokratie in Russland beschieden ist, zu einer legalen politischen Partei des Proletariats zu werden". Der Kampf gegen die Sozialdemokratie hat deshalb bei unseren Liberalen die Form des Kampfes für den Opportunismus in den Reihen der Sozialdemokratie angenommen.

Ohnmächtig, die Entstehung und das Wachstum der Sozialdemokratie zu verhindern, haben unsere liberalen Bourgeois ihre ganze Mühe darauf verwendet, dass sie sich nach liberaler Art entwickle. Daher die langjährigen und systematischen Bemühungen unserer Kadetten, den Opportunismus (und besonders das Liquidatorentum) in den Reihen der Sozialdemokratie zu unterstützen; in einer solchen Unterstützung erblicken die Liberalen ganz richtig das einzige Mittel, den liberalen Einfluss auf das Proletariat zu erhalten, die Abhängigkeit der Arbeiterklasse von der liberalen Bourgeoisie zu verwirklichen.

Es ist deshalb sehr lehrreich, wie die Liberalen den Kampf der sechs Arbeiterabgeordneten gegen die sieben liquidatorisch gestimmten Abgeordneten beurteilen. Die Liberalen, die die Sache von außen mit ansehen, sind genötigt, die grundlegende Tatsache offen anzuerkennen: die Sieben sind die „parlamentarischen Elemente der Sozialdemokratie'', es ist dies „die Partei der parlamentarischen Arbeit", in ihren Reihen befinden sich „alle Intellektuellen der sozialdemokratischem Dumaleute". Es ist die Linie „der Evolution der Sozialdemokratie zu einer legalen parlamentarischen Partei", eine Linie, die mit einer besonderen „taktischen Richtung" verbunden ist. Die „Nowaja Rabotschaja Gaseta" ist das Organ der sozialdemokratischen Parlamentarier.

Dagegen ist „Sa Prawdu" das „Organ der Unversöhnlichen", schreibt die „Rjetsch". Das ist keine Partei der parlamentarischen Arbeit, sondern die „entgegengesetzte Partei".

Die Partei der „Intellektuellen-Abgeordneten" gegen die „Arbeiterabgeordneten" – das ist das Urteil der „Rjetsch". Die „Rjetsch" versichert geziert, man könne nicht wissen, für wen die Mehrheit der Arbeiter ist, widerlegt sich aber sofort selbst durch die folgenden höchst lehrreichen Sätze:

Je länger“ – schreibt sie – „der Übergang zu dieser normalen" (d. h. offenen, legalen) „Existenz sich verzögern wird, mit desto mehr Grund ist zu erwarten, dass die parlamentarische Mehrheit der sozialdemokratischen Intelligenz gezwungen sein wird, der außerparlamentarischen Arbeitermehrheit mit ihrer heutigen Stimmung nachzugeben Wir haben die traurigen Folgen einer solchen Richtungsteilung Ende 1905 gesehen. Man mag sich zum bevorstehenden Ausweg aus der heutigen Sackgasse stellen, wie man will, es werden sich kaum Leute finden lassen, die die von unerfahrenen Führern einer elementaren Massenstimmung in jenen Wintermonaten begangenen Fehler verteidigen."

So schreibt die „Rjetsch".

Wir haben dasjenige hervorgehoben, was uns an diesem Eingeständnis momentan besonders interessiert.

Die außerparlamentarische Arbeitermehrheit gegen die „parlamentarische Mehrheit der sozialdemokratischen Intelligenz" –- das ist das selbst den Liberalen klar gewordene Wesen der Differenzen der Sechs mit den Sieben.

Die Sieben und die „Nowaja Rabotschaja Gaseta" – das ist die Mehrheit der sich als sozialdemokratisch bezeichnenden Intelligenz gegen die „außerparlamentarische Arbeitermehrheit", gegen die Partei.

Es gibt keine alte Partei, die alte Partei ist unnötig, wir werden mit der Zeitung und der Arbeit in der Duma allein ohne Partei auskommen, wobei wir für die kommende legale Partei eintreten – das ist das Wesen der Stellung der Sieben und der Stellung sämtlicher Liquidatoren.

Es ist verständlich, weshalb die Liberalen die Sieben und die Liquidatoren so zart behandeln, sie wegen des Verständnisses für die parlamentarischen Bedingungen loben und ihre Taktik als „kompliziert, durchdacht, nicht simplifiziert" bezeichnen. Die Sieben und die Liquidatoren verbreiten die liberalen Losungen unter den Arbeitern – wie sollen die Liberalen sie da nicht loben? Die Liberalen brauchen gar nichts anderes als die Bildung einer Schutzwehr von Intellektuellen, Parlamentariern, Legalisten gegen die alte Partei, gegen die „außerparlamentarische Arbeitermehrheit".

Möge sich diese Schutzwehr als sozialdemokratisch bezeichnen – nicht auf den Namen kommt es an, sondern auf ihre liberale Arbeiterpolitik; so urteilt die auf geklärte Bourgeoisie, und sie urteilt von ihrem Standpunkt aus ganz richtig.

Die Liberalen haben begriffen (und ausgeplaudert), was alle klassenbewussten, vorgeschrittenen Arbeiter längst begriffen haben, nämlich dass die Gruppe der „Nowaja Rabotschaja Gaseta" und die ihr folgenden Sieben eine von der sozialdemokratischen Partei abgespaltene, die Partei negierende und auf die „Illegalität" schimpfende Schutzwehr der liberalen Intelligenz sind, die eine systematische Politik der Zugeständnisse an den bürgerlichen Reformismus, den bürgerlichen Nationalismus usw. betreibt.

Die Einheit der tatsächlich zur Partei gehörenden, von der liberalen Bourgeoisie tatsächlich unabhängigen „außerparlamentarischen Arbeitermehrheit" ist undenkbar ohne entschlossenen Kampf gegen diese Intellektuellen-Schutzwehr der Liquidatoren der Arbeiterpartei.

1 Der hier erwähnte Leitartikel erschien in Nummer 287 der Rjetsch" (Tageszeitung, Zentralorgan der Kadetten, erschien 1906 bis 1917) vom 2. November (20. Oktober) 1913.

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