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Wladimir I. Lenin 19131025 Die Liberalen und die Agrarfrage in England

Wladimir I. Lenin: Die Liberalen und die Agrarfrage in England

[Sa Prawdu", Nr. 8, 12./25. Oktober 1913 Gez.: W. I. Nach Sämtliche Werke Band 17, Moskau-Leningrad 1935, S. 25-28]

Am Sonnabend, dem 11. Oktober (28. September alten Stils), eröffnete der englische liberale Minister Lloyd George in der Stadt Bedford mit zwei „glänzenden" Reden die „Agrarkampagne". Genau wie unser Kit Kititsch Gutschkow versprach, mit den russischen privilegierten und allmächtigen Gutsbesitzern „abzurechnen", so versprach auch der englische liberale Minister, eine Kampagne wegen der Agrarfrage einzuleiten, die Grundbesitzer, die Landlords, zu entlarven, sich mit einem Aufruf zu einer „radikalen" (Lloyd George ist außerordentlich radikal!) Agrarreform an das Volk zu wenden.

Die liberalen Zeitungen Englands waren bestrebt, das Auftreten ihres Führers möglichst feierlich zu gestalten. Reklame, Reklame um jeden Preis! Die Rede ist zu lang – wir wollen eine kurze „Darstellung" davon geben, wollen sie Agrar-„Charte" nennen und so ausschmücken, dass an Stelle der diplomatischen Ausflüchte eines parlamentarischen Geschäftsmannes ein langes Verzeichnis von Reformen hervortritt, sowohl das Lohnminimum als auch die 100.000 Cottages (Häuschen) für die Arbeiter und die „Zwangsenteignung des Grund und Bodens zum reinen (!!) Grundbesitzerwert''.

Um dem Leser zu zeigen, wie der Minister der liberalen englischen Bourgeoisie die Agitation im Volke treibt, zitieren wir einige Stellen aus den Bedforder Reden Lloyd Georges:

Es gibt keine lebenswichtigere, grundlegendere Frage als die Frage des Grund und Bodens", rief der Redner aus. „Die Nahrung, mit der sich das Volk nährt, das Wasser, das es trinkt, die Wohnungen, in denen es wohnt, die Industrie, die ihm Verdienst gibt – alles hängt vom Boden ab."

Wem gehört aber in England der Boden? Einer Handvoll reicher Leute! Ein Drittel des gesamten Grund und Bodens gehört in England den Mitgliedern des Oberhauses. „Das Landlordsystem (gutsherrlicher Grundbesitz) ist das größte Monopol im unserem Lande." Die Macht der Landlords ist unbegrenzt. Sie können die Pächter vertreiben, das Land schlimmer als ein Feind verwüsten. O, ich falle weder über Personen noch über eine Klasse her – beteuerte der Minister –, kann man aber eine solche Lage fortbestehen lassen?

Die Zahl der ackerbautreibenden Bevölkerung hat sich von über 2 Millionen während der letzten Jahrzehnte auf eine halbe Million verringert, während die Zahl der Jagdaufseher von 9.000 auf 23.000 gestiegen ist. Es gibt kein einziges Land der Welt, wo es so viel unbebautes Land gibt, wo die Landwirte, die Farmer, so sehr vom Wild zu leiden haben, das von den Reichen zu ihrem Vergnügen gezüchtet wird.

Die Reichtümer Englands nehmen in schwindelerregender Weise zu. Und die Landarbeiter? Neun Zehntel von ihnen erhalten weniger als 20½ Schilling (ungefähr 10 Rubel) pro Woche, eine Summe, die in den Arbeitshäusern für unerlässlich gehalten wird, damit der Mensch nicht Hungers sterbe. 60 % der landwirtschaftlichen Arbeiter erhalten weniger als 18 Schilling (ungefähr 9 Rubel) pro Woche.

Die Konservativen schlagen den Loskauf des Grund und Bodens in kleinen Parzellen vor. Wer aber sagt: Loskauf – polterte der englische Roditschew –, den frage ich: zu welchem Preise? (Allgemeine Heiterkeit.)

Wird nicht der hohe Preis den kleinen Landkäufer erdrücken? Werden ihn nicht die hohen Abgaben erdrücken? Wir haben ein Gesetz über die Zuteilung von Land an die Arbeiter. Hier ein Beispiel. Alle Abgaben und Leistungen für eine Landparzelle betragen 30 Pfund Sterling (ungefähr 270 Rubel). Sie wird gekauft und in kleinen Parzellen gegen Abzahlung an Kleinbauern weiterverkauft. Die Zahlungen betragen dann 60 Pfund!

Die Entvölkerung der Dörfer Englands droht aber unser Land wehrlos zu machen – ohne eine starke Bauernschaft gibt es keine starke Armee. Auf einen groben Nationalismus und Chauvinismus zu pochen – kann etwa ein russischer und ein englischer Liberaler ohne das auskommen?

Grund und Boden haben nicht die Gutsbesitzer erschaffen – rief Lloyd George aus –, das Land muss die Wahl treffen zwischen der Macht der Gutsbesitzer und dem Wohlstand der Arbeiter. Man muss fest und entschieden gegen die Monopole vorgehen, und das Eigentum an Grund und Boden ist das größte Monopol. Man muss dem Farmpächter Garantien bieten, dass er nicht vertrieben wird, dass man ihn nicht der Früchte seiner Energie und seines Könnens beraubt (Stimme aus der Versammlung: Was für Maßnahmen schlagen Sie denn vor?). Man muss handeln. Genug der schüchternen Versuche und halben Maßnahmen! Man muss radikal handeln, wie es praktische Leute tun. Nicht um ein Herumflicken handelt es sich, sondern um Beseitigung des Monopols.

Dem Arbeiter einen Minimalarbeitslohn sichern, den Arbeitstag verkürzen, ihm ein anständiges, bequemes Häuschen, eine Landparzelle geben, damit er einige Nahrungsmittel für die Familie anbauen könne! Man muss eine Leiter des Fortschrittes herstellen, damit die „unternehmungslustigen" Arbeiter an ihr emporsteigen können – vom kleinen Landanteil, vom Gemüsegarten zu einer kleinen selbständigen Wirtschaft. Die Unternehmungslustigsten aber müssen weitergehen und zu Großfarmern in unserem Lande werden. Man lockt euch mit den Herrlichkeiten der Auswanderung nach Amerika, Australien. Wir wollen aber, dass der britische Arbeiter hier in England, auf seinem Heimatboden Nahrung, ein freies Leben und Annehmlichkeiten für sich und seine Kinder finde.

Beifallssturm … Und man fühlt, dass einzelne Stimmen nicht verdummter Zuhörer (wie jener, der rief: Was schlagen Sie denn vor?) zu bemerken scheinen: Er singt gut, aber was wird wohl daraus?

Gut singt der englische liberale Minister, der Liebling des kleinbürgerlichen Haufens, der größte Meister in der Kunst, Streiks durch schrankenloses Betrügen der Arbeiter zu vereiteln, der beste Diener des englischen Kapitals, das sowohl die englischen Arbeiter als auch die 300millionenköpfige Bevölkerung Indiens versklavt. Welche Kraft hat aber diesen durchtriebenen Geschäftsmann und Lakaien des Geldsacks gezwungen, solche „radikale" Reden zu halten?

Die Kraft der Arbeiterbewegung.

In England gibt es kein stehendes Heer. Das Volk kann nicht mit Gewalt im Zaume gehalten werden – man kann es nur durch Betrug meistern. Die Arbeiterbewegung wächst unaufhaltsam. Man muss die Aufmerksamkeit ablenken, muss die Massen mit vielversprechendem Reformprojekten „beschäftigen", muss den Schein eines Krieges gegen die Konservativen hervorrufen, muss Gaben versprechen, nur damit die Massen in ihrem Glauben an die Liberalen nicht irre werden, nur damit sie, wie Schäflein dem Hirten, den Industrie- und Finanzkapitalisten folgen.

Und die Versprechung von Reformern … Sagt nicht ein englisches Sprichwort, dass Versprechungen der Rinde eines Kuchens gleichen: man macht sie, um sie zu brechen. Lloyd George verspricht, durchführen wird es aber das ganze liberale Ministerium, und das wird seine Versprechungen auf den fünften Teil zusammenstreichen. Und die Konservativen werden noch einmal zusammenstreichen – so wird eine Reduzierung auf ein Zehntel herauskommen.

Der Reformismus der englischen Bourgeoisie zeigt mehr als klar das Wachstum einer tiefgehenden revolutionären Bewegung in der Arbeiterklasse Englands. Keine Schönschwätzer, keine liberalen Scharlatane werden diese Bewegung aufzuhalten vermögen.

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