Lenin‎ > ‎1913‎ > ‎

Wladimir I. Lenin 19131120 Die nationale Frage

Wladimir I. Lenin: Die nationale Frage

[Nach Sämtliche Werke, Band 17, Moskau-Leningrad 1935, S. 79-82]

Diese Frage verlangt sowohl in ihrer allgemein-prinzipiellen Stellung vom Standpunkt des Sozialismus aus als auch in praktisch-organisatorischer Hinsicht (Aufbau unserer eigenen Partei) gebieterisch ihre Behandlung und Lösung durch sämtliche sozialdemokratischen Organisationen.

Die Augustkonferenz der Liquidatoren vom Jahre 1912 hat – laut Eingeständnis selbst des neutralen Menschewiks Plechanow – das Programm der SDAPR im Sinne einer „Anpassung des Sozialismus an den Nationalismus" verletzt1.

In der Tat, diese (Konferenz hat auf Vorschlag der Bundisten und entgegen dem Beschluss des II. Parteitages die Losung der ..national-kulturellen Autonomie" für zulässig erklärt.

Diese Losung (die in Russland von allen bürgerlichen Parteien des jüdischen Nationalismus unterstützt wird) widerspricht dem Internationalismus der Sozialdemokratie. Als Demokraten sind wir unbedingt Feinde jeglicher, selbst der geringsten Unterdrückung irgendeiner Nationalität sowie jedweder Privilegien der einen oder der anderen Nationalität. Wir fordern als Demokraten das Recht der Nationen auf Selbstbestimmung in der politischen Bedeutung dieses Wortes (siehe das Programm der SDAPR), d. h. das Recht auf Lostrennung. Wir fordern unbedingte Gleichberechtigung aller Nationen im Staate und unbedingten Schutz der Rechte jeder nationalen Minderheit. Wir fordern weitgehende Selbstverwaltung und Autonomie der einzelnen Gebiete, die unter anderem auch nach nationalen Merkmalen abzugrenzen sind.

Alle diese Forderungen sind für jeden konsequenten Demokraten und um so mehr für jeden Sozialisten bindend.

Aber die Sozialisten beschränken sich nicht auf allgemein-demokratische Forderungen. Die Sozialisten kämpfen gegen alle und jedwede, gegen die groben und die verfeinerten Erscheinungsformen des bürgerlichen Nationalismus. Gerade eine solche Erscheinungsform ist eben die Losung der „national-kulturellen Autonomie", die das Proletariat und die Bourgeoisie einer Nation vereinigt und die Proletarier der verschiedenen Nationen voneinander trennt.

Die Sozialdemokraten standen stets und stehen auf dem Standpunkt des Internationalismus. Wenn wir die Gleichberechtigung aller Nationalitäten gegen die Fronherren und den Polizeistaat schützen, sind wir nicht für die „nationale Kultur" sondern für die internationale Kultur, in die von jeder nationalen Kultur nur ein Teil, nämlich nur der konsequent demokratische und sozialistische Gehalt einer jeden nationalen Kultur eingeht.

Die Losung der „national-kulturellen Autonomie" täuscht die Arbeiter mit dem Trugbild der kulturellen Einheit der einzelnen Nationen, während in Wirklichkeit in jeder Nation gegenwärtig die gutsherrliche, bürgerliche oder kleinbürgerliche „Kultur" überwiegt.

Wir sind gegen die nationale Kultur als eine der Losungen des bürgerlichen Nationalismus. Wir sind für die internationale Kultur des konsequent demokratischen und sozialistischen Proletariats.

Die Einheit der Arbeiter aller Nationalitäten bei vollständiger Gleichberechtigung der Nationalitäten und konsequentestem demokratischen Charakter des Staates – das ist unsere Losung, wie es auch die Losung der ganzen internationalen revolutionären Sozialdemokratie ist. Diese wahrhaft proletarische Losung erzeugt kein falsches Trugbild und keine Illusion über die „nationale" Einheit des Proletariats und der Bourgeoisie, während die Losung der „national-kulturellen Autonomie" unbedingt ein solches Trugbild erzeugt und unter den Werktätigen eine solche Illusion verbreitet.

Uns, den lettischen Sozialdemokraten, die in einem Gebiete mit einer national besonders stark gemischten Bevölkerung leben, uns, die wir von den Vertretern des bürgerlichen Nationalismus der Letten, Russen, Esten, Deutschen usw. umgeben sind – uns ist die bürgerliche Verlogenheit der Losung der „kulturell-nationalen Autonomie" besonders klar. Uns ist die in unserer sozialdemokratischen Organisation praktisch bereits erprobte Losung der Einheit aller und jedweder Organisationen der Arbeiter aller Nationalitäten besonders teuer.

Die Losung der „national-kulturellen Autonomie" wird nicht selten mit der Berufung auf Österreich gerechtfertigt. Gegenüber dieser Berufung muss im Auge behalten werden, dass erstens der Standpunkt des österreichischen Haupttheoretikers auf dem Gebiete der nationalen Frage, Otto Bauers (in seinem Buche: „Die Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie"), selbst von einem so vorsichtigen Schriftsteller wie K. Kautsky als eine Verstärkung des nationalen Moments und eine völlige Vernachlässigung des internationalen Moments bezeichnet worden ist (siehe Kautsky: „Nationalität und Internationalität", es liegt eine russische Übersetzung vor); zweitens, dass bei uns bis jetzt nur die Bundisten im Verein mit sämtlichen bürgerlichen jüdischen Parteien für die „kulturell-nationale Autonomie" eingetreten sind, während sowohl Bauer als auch Kautsky sich nicht für die nationale Autonomie der Juden aussprechen und Kautsky (an gleicher Stelle) direkt erklärt, dass die Juden des östlichen Europas (Galiziens und Russlands) eine Kaste und keine Nation seien2; drittens, dass sich auch das Brünner (1899) Nationalitätenprogramm der österreichischen Sozialdemokratie nicht restlos für die vom Territorium unabhängige (personelle) nationale Autonomie erklärt, sondern nur bis zur Forderung eines Bundes aller nationalen Gebiete einer Nationalität innerhalb des ganzen Staates geht (§ 3 des Brünner Programms); viertens, dass auch dieses offenkundig kompromisslerische (und vom Standpunkt des Internationalismus unbefriedigende) Programm in Österreich selbst ein völliges Fiasko erlitten hat, denn der Kompromiss führte nicht zum Frieden, sondern zog die Abspaltung der tschechischen Separatisten nach sich; fünftens, dass diese auf dem Kongress zu Kopenhagen von der ganzen Internationale einstimmig verurteilten tschechischen Separatisten erklären, dass der Separatismus der Bundisten ihnen nahestehe (siehe „Der tschechoslowakische Sozial-Demokrat", Nr. 3, ein Organ der Separatisten, das man aus Prag, Hybernská 7, gratis beziehen kann); sechstens, dass Bauer selbst die Einheit der politischen sozialdemokratischen Lokalorganisationen der verschiedenen Nationalitäten fordert. Bauer selbst hält den „nationalen Aufbau" der österreichischen Partei, der sie jetzt zur völligen Spaltung geführt hat, für widerspruchsvoll und unhaltbar.

Mit einem Wort, die Berufung auf Österreich spricht gegen die Bundisten und nicht für sie.

Die Einheit von unten auf, die vollständige Einheit und Verschmelzung der sozialdemokratischen Arbeiter aller Nationalitäten in sämtlichen lokalen Arbeiterorganisationen – das ist unsere Losung. Nieder mit der bürgerlichen, betrügerischen und kompromisslerischen Losung der „national-kulturellen Autonomie"!

Auch beim Aufbau unserer Partei sind wir gegen die Föderation, sind wir für die Einheit der lokalen (und nicht nur der zentralen) Organisationen der Sozialdemokraten aller Nationen.

Der Kongress muss sowohl die Losung der national-kulturellen Autonomie als auch das föderative Prinzip beim Aufbau der Partei ablehnen. Die lettischen Sozialdemokraten müssen, ähnlich wie die polnischen Sozialdemokraten und ähnlich wie es die Sozialdemokraten des Kaukasus während der ganzen Periode von 1898–1912 (Während voller 14 Jahre der Parteigeschichte) getan haben, dem sozialdemokratischen Internationalismus die Treue wahren.

1 In dem Artikel „Noch eine Spaltungskonferenz" schrieb Plechanow anlässlich der von der Augustkonferenz beschlossenen Resolution zum Bericht der kaukasischen Sozialdemokraten über die national-kulturelle Autonomie; „Früher haben sich dort sogar die nationalistischen Elemente den sozialistischen angepasst. Jetzt sind die sozialistischen Elemente bestrebt, sich den nationalistischen anzupassen ... Sie (die Kaukasier, D. Red.) haben erkannt oder zumindest gefühlt, dass die Herren Liquidatoren alles Beliebige entschieden allem Beliebigen anzupassen bereit sind, wenn sie nur auf diese Weise in ihren übergescheiten diplomatischen Kombinationen Unterstützung erhalten" („Sa Partiju", Nummer 3 vom 15. (2.) Oktober 1912).

2 Den Gedanken, dass die Juden keine moderne Nation sind und dass sie im Osten Europas den Überrest einer mittelalterlichen Kaste bilden, hatte Kautsky in der Broschüre „Nationalität und Internationalität", die als Beilage zu Nummer 1 der Zeitschrift „Neue Zeit" vom 18, Januar 1908 erschienen war, ausgesprochen. Der Frage, ob die Juden eine Nation sind, widmete im Zusammenhang mit der Frage der nationalen Autonomie Otto Bauer ein ganzes Kapitel seines Buches „Die Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie", das 1907 in Wien in der Serie der ,,Marxstudien" erschien. An diesen „Marxstudien" arbeiteten Max Adler, Otto Bauer, Rudolf Hilferding und Karl Renner mit, Otto Bauers Buch erschien russisch in der Übersetzung von M. S. Panin mit einem einleitenden Artikel Gh. Schitlowskis in Petersburg im Jahre 1909.

Kommentare