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Wladimir I. Lenin 19131226 Eine gute Resolution und eine schlechte Rede

Wladimir I. Lenin: Eine gute Resolution und eine schlechte Rede

[Proletarskaja Prawda", Nr. 6, 13./26. Dezember 1913. Nach Sämtliche Werke Band 17, Moskau-Leningrad 1935, S. 131-134]

Alle klassenbewussten Arbeiter Russlands haben die Resolution des Internationalen Büros zweifellos mit Interesse und Aufmerksamkeit entgegengenommen. Der Kernpunkt dieser Resolution ist bekanntlich der Beschluss über Organisierung oder Veranstaltung eines „allgemeinen Meinungsaustausches" „aller Fraktionen der Arbeiterbewegung" Russlands, sowohl derjenigen, die das sozialdemokratische Programm anerkennen, als auch jener, deren Programm sich mit ihm „im Einklang befindet"49.

Die zweitgenannnte Bestimmung ist außerordentlich weitgehend, da sie nicht nur die Anhänger Jagellos mit einschließt, sondern überhaupt jede Gruppe, der es zu erklären gefällt, ihr Programm „entspreche" oder „befinde sich im Einklang" mit dem Programm der Sozialdemokratie. Indessen schadet diese dehnbare Bestimmung nichts, denn für einen „Meinungsaustausch" ist es natürlich wünschenswert, die Zusammensetzung der Teilnehmer in breitem Umfang zu bestimmen, ohne jene davon auszuschließen, mit denen sich sogar einzelne Gruppen der Sozialdemokratie vereinigen möchten. Man darf nicht vergessen, dass in der Sitzung des Internationalen Sozialistischen Büros zwei Pläne vorlagen: 1. der Plan Kautskys, „einen allgemeinen Meinungsaustausch zu veranstalten", und nur das. Ein Meinungsaustausch vor einem unparteiischen Kollegium, nämlich vor dem Exekutivkomitee des Internationalen Sozialistischen Büros (ISB) wird zeigen, wie die Dinge stehen und wie tief die Differenzen sind. 2. Der andere Plan wurde von Rosa Luxemburg vorgeschlagen, aber nach den Einwendungen Kautskys von ihr wieder zurückgezogen; dieser Plan sah eine „Einigungskonferenz zwecks Wiederherstellung der einigen Partei" vor.

Es versteht sich, dass dieser Plan schlechter war, denn es müssen zuerst genaue Daten gesammelt werden, ganz zu Schweigen davon, dass Rosa Luxemburg hier nur versuchte, insgeheim die „Wiederherstellung" des traurig-berühmten „Tyszka-Zirkels" durch zu schmuggeln.

Angenommen wurde der Plan Kautskys, der vorsichtiger gehalten ist und an die Frage der Einheit auf dem Wege über einen vorherigen „Meinungsaustausch" und die Prüfung genauer Unterlagen systematischer herangeht. Es ist deshalb durchaus natürlich, dass die Resolution Kautskys einstimmig angenommen wurde.

Aber von der Resolution Kautskys, die zur Resolution des Büros geworden ist, muss die Rede Kautskys unterschieden werden, in der er sich in einem Punkte zu ganz ungeheuerlichen Dingen verstiegen hat. Dieser Umstand ist von uns bereits kurz gestreift worden, jetzt aber zwingt uns der Bericht des „Vorwärts" (des deutschen Zentralorgans) über die Rede Kautskys, bei dieser wichtigen Frage ausführlicher zu verweilen.1

Sich gegen Rosa Luxemburg wendend, erklärte Kautsky,

dass die alte Partei nicht mehr existiert, obwohl die alten Namen geblieben sind, die jedoch im Laufe der Jahre einen neuen Inhalt bekommen haben. Man darf nicht kurzerhand die alten Genossen nur deshalb ausschließen, weil ihre Partei nicht den alten Namen trägt."

Als Rosa Luxemburg dagegen einwandte, dass „der Ausdruck Kautskys, die russische Partei sei tot, ein unbedachtes Wort ist", begnügte sich Kautsky mit einem

Protest dagegen, als ob er erklärt habe, die russische Sozialdemokratie sei tot. Er habe lediglich gesagt, dass die alten Formen gebrochen seien und dass eine neue Form geschaffen werden müsse."

Das sind jene Stellen des offiziellen Berichtes, die sich auf unsere Frage beziehen.

Dass Kautsky nicht gesagt hat und nicht sagen konnte, die Sozialdemokratie sei tot, das liegt auf der Hand. Aber dass die Partei nicht mehr existiere, das hat er gesagt, und das hat er trotz des gegen ihn erhobenen Einwandes nicht zurückgenommen!

Das klingt unglaublich, ist aber Tatsache.

Der Wirrwarr, den Kautsky offenbart, ist unglaublich groß. Vom Ausschluss welcher „alten Genossen" sprach er? Der Herren Potressow und Komp.? Bezeichnete er als „ihre Partei" die liquidatorische Formlosigkeit?

Oder hatte Kautsky die „Linke der PPS" im Auge, die durch die Formel Rosa Luxemburgs ausgeschlossen worden ist? Dann aber ist der Ausdruck „alte Genossen" unbegreiflich, denn die Mitglieder der PPS sind seit dem Bestehen der sozialdemokratischen Partei, d. h. seit dem Jahre 1898, überhaupt nie sozialdemokratische Parteigenossen gewesen!

Für uns sind beide Auslegungen gleichbedeutend, denn es ist in der Tat lächerlich, die Liquidatoren von einem „Meinungsaustausch" über die Einheit auszuschließen (bei ihnen liegt ja der ganze Kern der Sache), ebenso wie es lächerlich wäre, den linken Flügel der PPS auszuschließen (abstrakt gesprochen, ist es ja möglich, dass die Liquidatoren – von ihnen muss man alles erwarten! – imstande sind, ihren spalterischen Block mit der nicht sozialdemokratischen Partei PPS ultimativ zu verfechten). Jedenfalls ist es nötig, genau zu erfahren, nicht nur, was die Herren Liquidatoren, sondern auch, was ihre Verbündeten von der Partei wollen.

Unbestritten bleibt die Tatsache, dass sich Kautsky im Büro zu der Erklärung verstieg, die russische Partei existiere nicht mehr.

Wie konnte er sich zu solchen ungeheuerlichen Dingen versteigen? Um dies zu verstehen, müssen die russischen Arbeiter wissen, wer die deutsche sozialdemokratische Presse über die russischen Angelegenheiten informiert. Wenn Deutsche schreiben, umgehen sie gewöhnlich die Frage der Meinungsverschiedenheiten. Wenn in den deutschen sozialdemokratischen Zeitungsorganen Russen schreiben, so beobachten wir entweder ein Bündnis sämtlicher Auslands-Grüppchen mit den Liquidatoren zwecks ganz würdeloser Schimpferei gegen die „Leninisten" (wie es im Frühjahr 1912 im „Vorwärts" geschah), oder Stilübungen eines Tyszkianers, Trotzkisten oder anderen Mitgliedes eines Auslandszirkels, der die Frage bewusst verdunkelt. Jahrelang kein einziges Dokument, keine einzige Zusammenstellung von Resolutionen, keine einzige Analyse der Ideen, kein einziger Versuch, Tatsachenmaterial zu sammeln!

Wir bedauern die deutschen Parteiführer, dass sie (die, wenn sie sich mit der Theorie befassen, es wohl verstehen, Material zu sammeln und zu studieren) sich nicht schämen, die Märchen der liquidatorischen Informatoren anzuhören und zu wiederholen.

Ins Leben treten wird die Resolution des Büros, während die Rede Kautskys ein bedauerliches Kuriosum bleiben wird.

1 Gemeint ist hier die redaktionelle Notiz „Das Internationale Büro" im „Vorwärts", Nr. 333 vom 18. Dezember 1913.

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