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Wladimir I. Lenin 19131120 Entwurf einer Plattform zum IV. Parteitag der Sozialdemokratie des lettischen Gebietes

Wladimir I. Lenin: Entwurf einer Plattform zum

IV. Parteitag der Sozialdemokratie des lettischen Gebietes1

[Erschienen in lettischer Sprache in gekürzter und abgeänderter Form am 20. (7.) November 1913 in Nr. 9/10 der „Biletens Latwijas Sozialdemokratijas Ahrsemju Grupu Biroja isdewums". In der russischen Ausgabe der „Sämtlichen Werke" zum ersten Mal vollinhaltlich nach dem Manuskript gedruckt. Nach Sämtliche Werke Band 17, Moskau-Leningrad 1935, S. 73-82]

Der revolutionäre Aufschwung der Arbeiterbewegung in Russland, die Verschärfung der politischen Krise im Lande, der in mehr oder weniger ferner Zukunft bevorstehende Ausbruch einer Wirtschaftskrise, die Schwankungen und das Auseinandergehen der Meinungen in vielen sozialdemokratischen Gruppen und Zirkeln – all das muss die klassenbewussten lettischen Arbeiter veranlassen, ihre Genossen aufzufordern, sich eifrig auf den einberufenen IV. Kongress der Sozialdemokratie des lettischen Gebietes vorzubereiten und jene Aufgaben sorgfältig zu erörtern, vor denen die revolutionäre Sozialdemokratie gegenwärtig steht.

Eine Gruppe von Mitgliedern verschiedener Organisationen der lettischen Sozialdemokratie unterbreitet allen sozialdemokratischen Organisationen als Material zur Diskussion die folgende Plattform ihrer Ansichten über die wichtigsten prinzipiellen Fragen, die die Existenz und die ganze Richtung der Tätigkeit unserer sozialdemokratischen Arbeiterpartei betreffen, und insbesondere über jene Fragen, die vom heutigen Zentralkomitee der lettischen Sozialdemokratie hartnäckig ignoriert oder nach unserer Überzeugung unrichtig entschieden werden.

Die Einschätzung der politischen Lage und der allgemeinen taktischen Aufgaben der Sozialdemokratie

Es ist für niemanden ein Geheimnis, dass die Herrschaft der Konterrevolution unter den Sozialdemokraten einen tiefgehenden ideellen Verfall und Schwankungen hervorgerufen hat. Überall begegnet man Sozialdemokraten, vom denen, nach dem zutreffenden Ausdruck des Genossen An (in Nr. 95 des „Lutsch") jeder im einer anderen Weise herum schweift In der sozialdemokratischem Presse werden solche Ansichten ausgesprochen wie: dass sich die Arbeiter nicht auf die Revolution vorbereiten, die Revolution nicht erwarten sollen, dass die demokratische Revolution beendet sei u. dgl. m. Auf solche Ansichten, die von keiner einzigen verantwortlichen Gruppe oder Organisation der SDAPR einigermaßen bestimmt, genau und formell zum Ausdruck gebracht worden sind, gründen nichtsdestoweniger die sogenannten Liquidatoren („Nascha Sarja" und „Lutsch"), die vom heutigen Zentralkomitee der Sozialdemokratie des lettischen Gebiets unterstützt werden, stets und ständig alle ihre taktischen Betrachtungen.

In der Presse dieser Richtung begegnen wir auf Schritt und Tritt bald Hinweisen auf den prinzipiellen Unterschied zwischen der gegenwärtigen Staatsordnung Russlands und derjenigen der Voroktoberzeit (als ob wir bereits keiner Revolution zur Eroberung der Grundlagen der politischen Freiheit mehr bedürften), bald dem Vergleich der heutigen Taktik der russischen Sozialdemokraten mit der Taktik der europäischen Sozialdemokraten unter konstitutionellen Verhältnissen, z. B. der Österreicher und der Deutschen in den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts (als ob es in Russland bereits eine Konstitution gäbe, wie Miljukow meint), bald der Aufstellung der Losung einer legalen Arbeiterpartei und der Koalitionsfreiheit (eine nur dann verständliche Losung, wenn im Lande die allgemeinen Grundlagen und Pfeiler der politischen Freiheit und bürgerlichen Konstitution vorhanden sind) und so weiter und so fort.

Unter solchen Verhältnissen auf eine genaue Festlegung der taktischen Aufgaben der Sozialdemokratie und auf die Einschätzung der politischen Lage zu verzichten, oder die Festlegung und diese Einschätzung aufzuschieben, bedeutet nicht nur, gegen Ideenarmut, Verfall, Verzagtheit und Kleingläubigkeit nicht zu kämpfen, sondern den Verfall geradezu zu fördern, bedeutet, an der Unterstützung von Ansichten, durch welche die alten, vom Geiste der Partei getragenen revolutionären Beschlüsse der Sozialdemokratie aufgehoben werden, indirekt teilzunehmen.

Indessen hat die SDAPR als Partei eine genaue Antwort auf diese aktuellen und grundlegendem Fragen. Diese Antwort gibt die Resolution vom Dezember 1908, die für die Parteimitglieder bindend und von niemandem aufgehoben worden ist.

Die seit der Annahme dieser Resolution verflossenen Jahre haben ihre Richtigkeit durchaus bestätigt – so ihren Hinweis auf die Veränderungen im Charakter des Absolutismus, auf die konterrevolutionäre Natur des Liberalismus usw., so ihre Schlussfolgerung, dass der Absolutismus, wenn auch in erneuerter Gestalt, zu existieren fortfährt, dass die Verhältnisse, die die Revolution von 1905 hervorgerufen haben, nach wie vor wirken, dass die sozialdemokratische Partei vor dem alten Aufgaben steht, die eine revolutionäre Lösung und eine revolutionäre Taktik verlangen. Die in den Beschlüssen derselben Konferenz der SDAPR (Dezember 1908) unbedingt geforderte Ausnutzung der Dumatribüne und aller legalen Möglichkeiten muss vollständig im Geiste dieser revolutionärem Taktik und im Namen der alten revolutionären Aufgaben der SDAPR erfolgen.

Deshalb schlagen wir allem sozialdemokratischen Organisationen vor, diese, unter anderem von der Konferenz der SDAPR vom Januar 1912 bestätigte Resolution noch einmal aufmerksam zu erörtern und dem Kongress der Sozialdemokratie des lettischen Gebietes vorzuschlagen, diese Resolution in bestimmter Form zu bestätigen.

Wir lenken die ernste Aufmerksamkeit aller Genossen auf das nicht parteimäßige Vorgehen der (liquidatorischen) Konferenz der „sozialdemokratischen Organisationen" vom August 1912, die die Frage der Einschätzung der gegenwärtigen Lage und der Festlegung der allgemeinen taktischen Aufgaben von der Tagesordnung absetzte und damit (unter dem Vorwande, die Prognose" der Revolution sei unbewiesen usw.) jeder Art von Verzicht auf die revolutionären Aufgaben Tür und Tor öffnete.

Wir protestieren im Besonderen gegen dem „Bund", der auf der Augustkonferenz eine so große Rolle spielte und der auf seiner IX. Konferenz in diesem Verzicht auf die revolutionären Aufgaben so weit ging, die Losung der demokratischen Republik und der Konfiskation der gutsherrlichen Ländereien zu beseitigen!

Die Frage der Einheit der SDAPR

Je breiter der ökonomische und politische Kampf der Arbeiter sich entfaltet, desto dringender empfinden diese die Notwendigkeit der Einheit. Ohne Einheit der Arbeiterklasse ist der Erfolg ihres Kampfes unmöglich.

Worin besteht die Einheit? Offenbar in der Einheit der sozialdemokratischen Partei. Alle lettischen sozialdemokratischen Arbeiter gehören der sozialdemokratischen Partei an und wissen ausgezeichnet, dass diese Partei illegal, unterirdisch ist, dass es keine andere gibt und auch nicht geben kann.

Deshalb lässt sich denn auch eine andere Verwirklichung der Einheit in der Tat (und nicht in Worten) als ihre Verwirklichung von unten auf, durch die Arbeiter selbst, in ihren illegalen Parteiorganisationen, gar nicht vorstellen.

Der Kongress der Sozialdemokratie des Lettischen Gebietes muss eben diese Forderung der Einheit, die unter anderem in der Beratung des Zentralkomitees der SDAPR im Februar 1913 erhoben wurde, klar und deutlich anerkennen.

Wenn der „Lutsch" diesen Appell zur Einheit mit Spott über die „Leninsche Partei" aufgenommen hat, wenn der „Bund" (in Gestalt der „jüdischen führenden Männer der Arbeiterbewegung") diesen Appell abgelehnt hat, so haben damit sowohl die Leute vom „Lutsch" als auch die Bundisten ihre Zugehörigkeit zu den Liquidatoren bewiesen.

Die lettischen sozialdemokratischen Arbeiter, die die illegale Partei in der Tat und nicht in Worten anerkennen, werden sich von den legalen Deklamationen zugunsten der Einheit nicht betrügen lassen. Wer die Einheit will, der trete der illegalen Partei bei!

Die Stellung zum Liquidatorentum

Die Frage des Liquidatorentums, die zuerst in den Beschlüssen der Partei und der im Ausland erscheinenden Presse aufgeworfen wurde, ist jetzt vor das Gericht aller klassenbewussten .Arbeiter Russlands gebracht worden. Auch die lettischen sozialdemokratischen Arbeiter müssen dafür sorgen, dass es in dieser Frage keine Ausflüchte und keine Ausreden gebe, dass sie klar gestellt, allseitig erörtert und in bestimmter Weise entschieden werde.

Genug der Märchen, als ob die Liquidatoren die Leute der legalen Bewegung seien. Diese Märchen sind durch die Tatsachen widerlegt, die bewiesen haben, dass die Anhänger der Partei, die Anti-Liquidatoren, die unbedingten Anhänger der Illegalität, auf allen Gebieten der legalen Bewegung unvergleichlich stärker sind als die Liquidatoren.

Das Liquidatorentum ist die Verneinung oder Herabsetzung der Illegalität, d. h. der illegalen (einzig bestehenden) Partei. Nur die illegale Partei arbeitet eine revolutionäre Taktik aus und trägt sie sowohl durch die illegale als auch durch die legale Presse unter die Massen.

Die von niemandem aufgehobenen, für jedes Parteimitglied bindenden Beschlüsse der SDAPR vom Dezember 1908 und Januar 1910 haben gerade diesen Gehalt des Liquidatorentums ganz klar und genau festgestellt und ihn unbedingt verurteilt.

Dennoch fahren die „Nascha Sarja" und der „Lutsch" fort, eine liquidatorische Propaganda zu treiben. In Nr. 15 (101) des Lutsch" erklärten sie die steigende Sympathie der Arbeiter für Illegalität für betrüblich. In Nr. 3 der „Nascha Sarja" (März 1913) hat der Verfasser dieses Artikels (L. Sedow) sein Liquidatorentum noch mehr unterstrichen. Das hat sogar An im „Lutsch" zugegeben (Nr. 95)!! Die Redaktion des „Lutsch" aber verteidigt in ihrer Antwort an An den Liquidator Sedow.2

Die lettischen sozialdemokratischen Arbeiter müssen um jeden Preis erreichen, dass der Kongress der Sozialdemokratie des Lettischen Gebiets dem liquidatorischen Standpunkt der „Nascha Sarja" und des „Lutsch" entschieden verurteilt. Die Haltung dieser Organe hat die Richtigkeit der von der Beratung des Zentralkomitees der SDAPR im Februar 1913 angenommenen Resolution über das Liquidatorentum restlos bestätigt und bestätigt sie jeden Tag aufs Neue.

Die Frage der Unterstützung der Konferenz der Liquidatoren und des liquidatorischen Organisationskomitees durch das Zentralkomitee der Sozialdemokratie des lettischen Gebiets

Das heutige Zentralkomitee der Sozialdemokratie des Lettischen 'Gebiets behauptet, es unterstütze die Augustkonferenz und das Organisationskomitee nicht als Institutionen der Liquidatoren sondern um der Einheit der SDAPR willen.

Eine solche Antwort kann jedoch nur Kinder befriedigen, die lettischen sozialdemokratischen Arbeiter aber sind keine Kinder.

Die Veranstalter der Augustkonferenz haben selbst sowohl Plechanow als auch die Gruppe „Wperjod" zu ihr eingeladen. Weder jener noch diese haben an der Januarkonferenz teilgenommen, das heißt, sie haben durch die Tat und nicht nur in Worten ihre Neutralität im Richtungskampfe bewiesen.

Und was haben diese neutralen Sozialdemokraten erklärt? Plechanow und Alexinski haben die Augustkonferenz entschieden als liquidatorisch bezeichnet. Die Resolutionen dieser Konferenz beweisen vollauf ihren liquidatorischen Charakter. Der „Lutsch", der erklärt hat, dass er sich den Beschlüssen der Augustkonferenz anschließe, treibt eine liquidatorische Propaganda.

Wem folgen die sozialdemokratischen Arbeiter Russlands?

Das haben die Wahlen der Arbeiterkurie dm die Duma und die Daten über die Arbeiterpresse gezeigt.

In der II. Duma hatten die Bolschewiki 47% der Arbeiterkurie (11 Abgeordnete vom 23), im der III. Duma 50% (4 vom 8) und in der IV. Duma 67% (6 von 9) hinter sich. Die Arbeiterpresse der Anti-Liquidatoren (die „Prawda" und die Moskauer Zeitung) wurde von 1199 Arbeitergruppen unterstützt, gegenüber 256 Arbeitergruppen, die den „Lutsch" unterstützten.

Das heutige Zentralkomitee der Sozialdemokratie des Lettischen Gebiets unterstützt also – im Namen der lettischen revolutionären sozialdemokratischen Arbeiter – die Liquidatoren entgegen dem offenkundigen Willen der Mehrheit der sozialdemokratischen Arbeiter Russlands.

Diesem Zustand muss ein Ende gemacht werden. Wir alle sind für die Illegalität und für eine revolutionäre Taktik. Wir müssen das Zentralkomitee der SDAPR, das diese Taktik durchführt und hinter dem die erdrückende Mehrheit der sozialdemokratischen Arbeiter Russlands, sowohl in der illegalen als auch in der legalen Bewegung, steht, unterstützen.

Die nationale Frage

Diese Frage verlangt sowohl in ihrer allgemein-prinzipiellen Stellung vom Standpunkt des Sozialismus aus als auch in praktisch-organisatorischer Hinsicht (Aufbau unserer eigenen Partei) gebieterisch ihre Behandlung und Lösung durch sämtliche sozialdemokratischen Organisationen.

Die Augustkonferenz der Liquidatoren vom Jahre 1912 hat – laut Eingeständnis selbst des neutralen Menschewiks Plechanow – das Programm der SDAPR im Sinne einer „Anpassung des Sozialismus an den Nationalismus" verletzt3.

In der Tat, diese Konferenz hat auf Vorschlag der Bundisten und entgegen dem Beschluss des II. Parteitages die Losung der „national-kulturellen Autonomie" für zulässig erklärt.

Diese Losung (die in Russland von allen bürgerlichen Parteien des jüdischen Nationalismus unterstützt wird) widerspricht dem Internationalismus der Sozialdemokratie. Als Demokraten sind wir unbedingt Feinde jeglicher, selbst der geringsten Unterdrückung irgendeiner Nationalität sowie jedweder Privilegien der einen oder der anderen Nationalität. Wir fordern als Demokraten das Recht der Nationen auf Selbstbestimmung in der politischen Bedeutung dieses Wortes (siehe das Programm der SDAPR), d. h. das Recht auf Lostrennung. Wir fordern unbedingte Gleichberechtigung aller Nationen im Staate und unbedingten Schutz der Rechte jeder nationalen Minderheit. Wir fordern weitgehende Selbstverwaltung und Autonomie der einzelnen Gebiete, die unter anderem auch nach nationalen Merkmalen abzugrenzen sind.

Alle diese Forderungen sind für jeden konsequenten Demokraten und um so mehr für jeden Sozialisten bindend.

Aber die Sozialisten beschränken sich nicht auf allgemein-demokratische Forderungen. Die Sozialisten kämpfen gegen alle und jedwede, gegen die groben und die verfeinerten Erscheinungsformen des bürgerlichen Nationalismus. Gerade eine solche Erscheinungsform ist eben die Losung der „national-kulturellen Autonomie", die das Proletariat und die Bourgeoisie einer Nation vereinigt und die Proletarier der verschiedenen Nationen voneinander trennt.

Die Sozialdemokraten standen stets und stehen auf dem Standpunkt des Internationalismus. Wenn wir die Gleichberechtigung aller Nationalitäten gegen die Fronherren und den Polizeistaat schützen, sind wir nicht für die „nationale Kultur" sondern für die internationale Kultur, in die von jeder nationalen Kultur nur ein Teil, nämlich nur der konsequent demokratische und sozialistische Gehalt einer jeden nationalen Kultur eingeht.

Die Losung der „national-kulturellen Autonomie" täuscht die Arbeiter mit dem Trugbild der kulturellen Einheit der einzelnen Nationen, während in Wirklichkeit in jeder Nation gegenwärtig die gutsherrliche, bürgerliche oder kleinbürgerliche „Kultur" überwiegt.

Wir sind gegen die nationale Kultur als eine der Losungen des bürgerlichen Nationalismus. Wir sind für die internationale Kultur des konsequent demokratischen und sozialistischen Proletariats.

Die Einheit der Arbeiter aller Nationalitäten bei vollständiger Gleichberechtigung der Nationalitäten und konsequentestem demokratischen Charakter des Staates – das ist unsere Losung, wie es auch die Losung der ganzen internationalen revolutionären Sozialdemokratie ist. Diese wahrhaft proletarische Losung erzeugt kein falsches Trugbild und keine Illusion über die „nationale" Einheit des Proletariats und der Bourgeoisie, während die Losung der „national-kulturellen Autonomie" unbedingt ein solches Trugbild erzeugt und unter den Werktätigen eine solche Illusion verbreitet.

Uns, den lettischen Sozialdemokraten, die in einem Gebiete mit einer national besonders stark gemischten Bevölkerung leben, uns, die wir von den Vertretern des bürgerlichen Nationalismus der Letten, Russen, Esten, Deutschen usw. umgeben sind – uns ist die bürgerliche Verlogenheit der Losung der „kulturell-nationalen Autonomie" besonders klar. Uns ist die in unserer sozialdemokratischen Organisation praktisch bereits erprobte Losung der Einheit aller und jedweder Organisationen der Arbeiter aller Nationalitäten besonders teuer.

Die Losung der „national-kulturellen Autonomie" wird nicht selten mit der Berufung auf Österreich gerechtfertigt. Gegenüber dieser Berufung muss im Auge behalten werden, dass erstens der Standpunkt des österreichischen Haupttheoretikers auf dem Gebiete der nationalen Frage, Otto Bauers (in seinem Buche: „Die Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie"), selbst von einem so vorsichtigen Schriftsteller wie K. Kautsky als eine Verstärkung des nationalen Moments und eine völlige Vernachlässigung des internationalen Moments bezeichnet worden ist (siehe Kautsky: „Nationalität und Internationalität", es liegt eine russische Übersetzung vor); zweitens, dass bei uns bis jetzt nur die Bundisten im Verein mit sämtlichen bürgerlichen jüdischen Parteien für die „kulturell-nationale Autonomie" eingetreten sind, während sowohl Bauer als auch Kautsky sich nicht für die nationale Autonomie der Juden aussprechen und Kautsky (an gleicher Stelle) direkt erklärt, dass die Juden des östlichen Europas (Galiziens und Russlands) eine Kaste und keine Nation seien; drittens, dass sich auch das Brünner (1899) Nationalitätenprogramm der österreichischen Sozialdemokratie nicht restlos für die vom Territorium unabhängige (personelle) nationale Autonomie erklärt, sondern nur bis zur Forderung eines Bundes aller nationalen Gebiete einer Nationalität innerhalb des ganzen Staates geht (§ 3 des Brünner Programms); viertens, dass auch dieses offenkundig kompromisslerische (und vom Standpunkt des Internationalismus unbefriedigende) Programm in Österreich selbst ein völliges Fiasko erlitten hat, denn der Kompromiss führte nicht zum Frieden, sondern zog die Abspaltung der tschechischen Separatisten nach sich; fünftens, dass diese auf dem Kongress zu Kopenhagen von der ganzen Internationale einstimmig verurteilten tschechischen Separatisten erklären, dass der Separatismus der Bundisten ihnen nahestehe (siehe „Der tschechoslowakische Sozial-Demokrat", Nr. 3, ein Organ der Separatisten, das man aus Prag, Hybernská 7, gratis beziehen kann); sechstens, dass Bauer selbst die Einheit der politischen sozialdemokratischen Lokalorganisationen der verschiedenen Nationalitäten fordert. Bauer selbst hält den „nationalen Aufbau" der österreichischen Partei, der sie jetzt zur völligen Spaltung geführt hat, für widerspruchsvoll und unhaltbar.

Mit einem Wort, die Berufung auf Österreich spricht gegen die Bundisten und nicht für sie.

Die Einheit von unten auf, die vollständige Einheit und Verschmelzung der sozialdemokratischen Arbeiter aller Nationalitäten in sämtlichen lokalen Arbeiterorganisationen – das ist unsere Losung. Nieder mit der bürgerlichen, betrügerischen und kompromisslerischen Losung der „national-kulturellen Autonomie"!

Auch beim Aufbau unserer Partei sind wir gegen die Föderation, sind wir für die Einheit der lokalen (und nicht nur der zentralen) Organisationen der Sozialdemokraten aller Nationen.

Der Kongress muss sowohl die Losung der national-kulturellen Autonomie als auch das föderative Prinzip beim Aufbau der Partei ablehnen. Die lettischen Sozialdemokraten müssen, ähnlich wie die polnischen Sozialdemokraten und ähnlich wie es die Sozialdemokraten des Kaukasus während der ganzen Periode von 1898–1912 (Während voller 14 Jahre der Parteigeschichte) getan haben, dem sozialdemokratischen Internationalismus die Treue wahren.

1 Die Überschrift des Artikels stammt von der Redaktion der Sämtlichen Werke. Der Entwurf der Plattform wurde von Lenin für den IV. Parteitag der Sozialdemokratie des lettischen Gebietes abgefasst.

2 Es handelt sich hier um die Artikel L. Sedows (Kolzow): „Die Arbeitermassen und die Illegalität" in Nummer 15 (101) des „Lutsch" („Strahl"; legale Tageszeitung der Liquidatoren, erschien 1912–1913 in Petersburg) vom 1. Februar (19. Januar) 1913 und „Zeitschriftenschau. Die illegale Arbeit" in Nummer 3, 1913, der „Nascha Sarja" („Unsere Morgenröte"; legale Monatsschrift der Liquidatoren, erschien 1910–1914 in Petersburg).

In Nummer 95 (181) des „Lutsch" vom 9. Mai (26. April) 1913 erschien ein Artikel von An (Noe Jordania) „Noch einmal über die illegale Arbeit" mit einer Kritik des von Sedow ausgesprochenen Gedankens, die illegale Arbeit sei ein Hindernis für die politische Formierung der Bewegung, ein Hindernis für den Aufbau einer sozialdemokratischen Arbeiterpartei auf festen Grundlagen; in derselben Nummer erschien auch eine Notiz der Redaktion, in der die Ansichten Sedows verteidigt wurden,

3 In dem Artikel „Noch eine Spaltungskonferenz" schrieb Plechanow anlässlich der von der Augustkonferenz beschlossenen Resolution zum Bericht der kaukasischen Sozialdemokraten über die national-kulturelle Autonomie; „Früher haben sich dort sogar die nationalistischen Elemente den sozialistischen angepasst. Jetzt sind die sozialistischen Elemente bestrebt, sich den nationalistischen anzupassen Sie (die Kaukasier, D. Red.) haben erkannt oder zumindest gefühlt, dass die Herren Liquidatoren alles Beliebige entschieden allem Beliebigen anzupassen bereit sind, wenn sie nur auf diese Weise in ihren übergescheiten diplomatischen Kombinationen Unterstützung erhalten" („Sa Partiju", Nummer 3 vom 15. (2.) Oktober 1912).

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