Wladimir I. Lenin: Kapitalismus und Arbeiterimmigration [„Sa Prawdu", Nr. 22 , 29. Oktober/11. November 1913 Gez.: W. I. Nach Sämtliche Werke Band 17, Moskau-Leningrad 1935, S. 48-51] Der Kapitalismus hat eine besondere Art der Völkerwanderung geschaffen. Die industriell sich rasch entwickelnden Länder heben durch größere Anwendung von Maschinen und Verdrängung der zurückgebliebenen Länder vom Weltmarkt die Arbeitslöhne über den Durchschnitt und locken die Lohnarbeiter aus den zurückgebliebenen Ländern an. Hunderttausende von Arbeitern werden auf diese Weise hunderte und tausende Kilometer weit verschlagen. Der fortgeschrittene Kapitalismus zieht sie gewaltsam in seinen Kreislauf hinein, reißt sie aus ihrem Krähwinkel heraus, macht sie zu Teilnehmern an einer weltgeschichtlichen Bewegung, stellt sie der mächtigen, vereinigten, internationalen Klasse der Industriellen von Angesicht zu Angesicht gegenüber. Es besteht kein Zweifel, dass nur äußerstes Elend die Menschen veranlasst, die Heimat zu verlassen, dass die Kapitalisten die eingewanderten Arbeiter in gewissenlosester Weise ausbeuten. Aber nur Reaktionäre können vor der fortschrittlichen Bedeutung dieser modernen Völkerwanderung die Augen schließen. Eine Erlösung vom Joche des Kapitals ohne weitere Entwicklung des Kapitalismus, ohne den auf dieser Basis geführten Klassenkampf gibt es nicht und kann es nicht geben. Und gerade zu diesem Kampfe zieht der Kapitalismus die werktätigen Massen der ganzen Welt heran, dadurch dass er die Muffigkeit und die Verknöcherung des lokalen Lebens durchbricht, die nationalen Schranken und Vorurteile zerstört und Arbeiter aller Länder in den größten Fabriken und Gruben Amerikas, Deutschlands usw. miteinander vereinigt. Amerika steht an der Spitze der Arbeiter importierenden Länder. Hier die Angaben über die Zahl der Auswanderer nach Amerika:
Die Zunahme der Auswanderung ist gewaltig und verstärkt sich ständig. In den fünf Jahren 1905-1909 sind durchschnittlich über eine Million Menschen pro Jahr nach Amerika (es ist nur von den Vereinigten Staaten die Rede) übersiedelt. Interessant ist dabei die Veränderung in der Zusammensetzung der Einwanderer (der Immigranten, d. h. sich in Amerika Ansiedelnden). Bis zum Jahre 1880 überwog die sog. alte Immigration, diejenige aus den alten Kulturländern England, Deutschland, zum Teil Schweden. Sogar bis zum Jahre 1890 haben England und Deutschland zusammen mehr als die Hälfte aller Immigranten gestellt. Mit dem Jahre 1880 beginnt eine unglaublich rasche Zunahme der sog. neuen Immigration, aus dem östlichen und südlichen Europa, aus Österreich, Italien und Russland. Die drei Länder stellten Immigranten nach den Vereinigten Staaten Nordamerikas:
So wird den zurückgebliebensten Ländern der alten Welt, die in ihrer ganzen Lebensordnung die meisten Überreste der Leibeigenschaft bewahrt haben, sozusagen gewaltsam Zivilisation beigebracht. Der amerikanische Kapitalismus entreißt Millionen von Arbeitern des zurückgebliebenen Osteuropa (und darunter Russlands, das 594.000 Immigranten in den Jahren 1891–1900 und 1.410.000 in den Jahren 1900–1909 stellte) ihren halb mittelalterlichen Verhältnissen und stellt sie in die Reihen der vorgeschrittenen, internationalen Armee des Proletariats. Eine interessante Beobachtung macht Hourwich, der Verfasser des höchst lehrreichen englischen Buches „Immigration und Arbeit", das im verflossenen Jahre erschien. Nach der Revolution von 1905 stieg die Zahl der Auswanderer nach Amerika besonders stark (1905 – 1 Million, 1906 – 1,2 Millionen, 1907 – 1,4 Millionen, 1908 bis 1909 – je 1,9 Millionen). Die Arbeiter, die in Russland allerhand Streiks mitgemacht hatten, haben den Geist kühnerer, offensiver Massenstreiks auch nach Amerika gebracht. Russland bleibt immer mehr zurück, da es einen Teil seiner besten Arbeiter ans Ausland abtritt; Amerika schreitet immer rascher vorwärts, da es der ganzen Welt die energischste, arbeitsfähigste Arbeiterbevölkerung wegnimmt*. Deutschland, das mit Amerika mehr oder weniger Schritt hält, verwandelt sich aus einem Arbeiter liefernden Lande in ein fremde Arbeiter heranziehendes Land. Die Zahl der Auswanderer aus Deutschland nach Amerika, die im Jahrzehnt 1881–1890 1.453.000 erreicht hatte, fiel in den neun Jahren 1901 bis 1909 auf 130.000. Dagegen betrug die Zahl der ausländischen Arbeiter in Deutschland in den Jahren 1910–1911: 695.000, in den Jahren 1911–1912 aber 729.000. Wenn wir die Verteilung dieser Arbeiter nach Beschäftigungszweigen und nach den Ländern, aus denen sie stammen, betrachten, ergibt sich das folgende Bild: In den Jahren 1911-1912 in Deutschland beschäftigte ausländische Arbeiter (in Taus.)
Je zurückgebliebener das Land, desto mehr ungelernte, landwirtschaftliche Arbeiter liefert es. Die fortgeschrittenen Nationen reißen sozusagen die besten Verdienstzweige an sich und überlassen die schlechteren Verdienstzweige den halbwilden Ländern. Europa im allgemeinen („übrige Länder") liefert Deutschland 157.000 Arbeiter, davon über acht Zehntel (135.000 von 157.000) Industriearbeiter. Das zurückgebliebene Österreich liefert nur sechs Zehntel (162.000 von 263.000) Industriearbeiter, das zurückgebliebenste Land, Russland, nur ein Zehntel Industriearbeiter (34.000 von 308.000). Auf diese Weise muss Russland also überall und in jeder Hinsicht für seine Rückständigkeit büßen. Aber die Arbeiter Russlands werden, verglichen mit der übrigen Bevölkerung, aus dieser Rückständigkeit und Wildheit am meisten herausgerissen, leisten diesen „lieblichen" Zügen ihrer Heimat am meisten Widerstand, schließen sich am engsten mit den Arbeitern aller Länder zu einer weltumspannenden, befreienden Kraft zusammen. Die Bourgeoisie hetzt die Arbeiter der einen Nation gegen die der andern auf und sucht sie zu trennen. Die klassenbewussten Arbeiter begreifen die Unabwendbarkeit und Fortschrittlichkeit der Zerstörung aller nationalen Scheidewände des Kapitalismus und bemühen sich, die Aufklärung und Organisierung ihrer Genossen aus den zurückgebliebenen Ländern zu fördern. * Außer den Vereinigten Staaten schreiten auch die anderen amerikanischen Staaten rasch vorwärts. Im letzten Jahr betrug die Zahl der Auswanderer nach Amerika (d. h. die Ver. Staaten von A. Die Red.) etwa 250.000, nach Brasilien etwa 170 Q00, nach Kanada über 200.000, insgesamt 620.000 in einem Jahr. |