Lenin‎ > ‎1913‎ > ‎

Wladimir I. Lenin 19131000 Resolution über die nationale Frage

Wladimir I. Lenin: Resolution über die nationale Frage

auf der „Sommer“beratung des ZK der SDAPR, 5. bis 14. Oktober 1913

[Nach Sämtliche Werke, Band 17, Moskau-Leningrad 1935, S. 12-14]

Das Wüten des Schwarzhunderter-Nationalismus, das Anwachsen nationalistischer Tendenzen unter der liberalen Bourgeoisie und die Verstärkung der nationalistischen Tendenzen unter den Oberschichten der unterdrückten Nationalitäten weisen der nationalen Frage im gegenwärtigen Zeitpunkt einen wichtigen Platz zu.

Die Lage der Dinge innerhalb der Sozialdemokratie (die Versuche der kaukasischen Sozialdemokraten, des Bund und der Liquidatoren, das Parteiprogramm aufzuheben1 usw.) zwingt die Partei, dieser Frage noch größere Aufmerksamkeit zu schenken.

Gestützt auf das Programm der SDAPR stellt die Beratung – im Interesse einer richtigen Gestaltung der sozialdemokratischen Agitation im der nationalen Frage – die folgenden Leitsätze auf:

1. Soweit in der kapitalistischen Gesellschaft, die auf Ausbeutung, Bereicherung und Kampf aller gegen alle begründet ist, der nationale Friede möglich ist, ist er nur bei einer konsequenten, restlos demokratischen, republikanischen Staatsordnung erreichbar, die die völlige Gleichberechtigung aller Nationen und Sprachen gewährleistet, wenn keine obligatorische Staatssprache festgesetzt ist, die Bevölkerung mit Schulen versorgt ist, in denen in allen Landessprachen unterrichtet wird, und in die Verfassung ein Grundgesetz aufgenommen wird, das jedwedes Privileg einer der Nationen und jedwede Verletzung der Rechte einer nationalen Minderheit für ungültig erklärt. Besonders notwendig ist dabei eine großzügige Gebietsautonomie und eine völlig demokratische lokale Selbstverwaltung, bei Bestimmung der Grenzen der sieh selbst verwaltenden und autonomen Gebiete auf Grund der durch die örtliche Bevölkerung selbst vorzunehmenden Berücksichtigung der wirtschaftlichen und Lebensverhältnisse, der nationalen Zusammensetzung der Bevölkerung usw.

2. Die Trennung des Schulwesens innerhalb der Grenzen eines Staates nach Nationalitäten ist vom Standpunkt der Demokratie den allgemeinen und den Interessen des Klassenkampfes des Proletariats im Besonderen unbedingt schädlich. Gerade in einer solchen Trennung besteht der in Russland von allen bürgerlichen Parteien des Judentums und von den kleinbürgerlichen, opportunistischen Elementen verschiedener Nationen angenommene Plan der sogenannten „national-kulturellen" Autonomie oder der „Schaffung von Einrichtungen, die die Freiheit der nationalen Entwicklung garantieren".

3. Die Interessen der Arbeiterklasse erfordern die Verschmelzung der Arbeiter sämtlicher Nationalitäten eines Staates in einheitlichen proletarischen – politischen, gewerkschaftlichen, genossenschaftlichen, kulturellen usw. – Organisationen. Nur eine solche Verschmelzung der Arbeiter der verschiedenen Nationalitäten in einheitlichen Organisationen gibt dem Proletariat die Möglichkeit, einen siegreichen Kampf zu führen gegen das internationale Kapital und gegen die Reaktion und ebenso auch gegen die Agitation und die Bestrebungen der Gutsbesitzer, Pfaffen und bürgerlichen Nationalisten aller Nationen, die ihre antiproletarischen Bestrebungen gewöhnlich unter der Flagge der „nationalen Kultur" durchsetzen. Die die ganze Welt umfassende Arbeiterbewegung bringt die internationale Kultur des Proletariats hervor und entwickelt sie mit jedem Tag mehr.

4. Das Recht der von der Zarenmonarchie unterdrückten Nationen auf Selbstbestimmung, d. h. auf Lostrennung und Bildung eines selbständigen Staates, muss die sozialdemokratische Partei unbedingt vertreten. Das verlangen sowohl die Grundprinzipien der internationalen Demokratie im Allgemeinen als auch im Besonderen die unerhörte nationale Unterdrückung der Mehrheit der Bevölkerung Russlands durch die Zarenmonarchie, die, verglichen mit den Nachbarstaaten in Europa und Asien, das reaktionärste und barbarischste Staatssystem darstellt. Das verlangt ferner die Sache der Freiheit der großrussischen Bevölkerung selbst, die nicht imstande ist, einen demokratischen Staat zu errichten, Wenn nicht der großrussische Schwarzhunderter-Nationalismus ausgerottet wird, der durch die Tradition einer Reihe blutiger Unterdrückungen nationaler Bewegungen gestützt wird und der nicht nur von der Zarenmonarchie und allem reaktionären Parteien, sondern, besonders in der Periode der Konterrevolution, auch von dem der Monarchie gegenüber knechtseligem großrussischen bürgerlichen Liberalismus großgezüchtet wird.

5. Es ist unzulässig, die Frage des Rechtes der Nationen auf Selbstbestimmung (d. h. auf Gewährleistung einer völlig freien und demokratischen Art der Entscheidung der Lostrennungsfrage durch die Verfassung des Staates) mit der Frage der Zweckmäßigkeit der Lostrennung dieser oder jener Nation zu verwechseln. Diese Frage muss die sozialdemokratische Partei in jedem einzelnem Falle völlig selbständig vom Standpunkt der Interessen der gesamten gesellschaftlichen Entwicklung und der Interessen des Klassenkampfes des Proletariats um den Sozialismus entscheiden.

Die Sozialdemokratie muss dabei berücksichtigen, dass die Gutsbesitzer, die Pfaffen und die Bourgeoisie der unterdrückten Nationen ihr Bestreben, die Arbeiter zu veruneinigen und zu verdummen, nicht selten mit nationalistischen Losungen verhüllen, wobei sie hinter ihrem Rücken mit den Gutsbesitzern und der Bourgeoisie der herrschenden Nation zum Nachteil der werktätigen Massen aller Nationen Abkommen schließen.

Die Beratung stellt die Frage des nationalen Programms auf die Tagesordnung des Parteitags. Sie fordert das Zentralkomitee, die Parteipresse und die lokalen Organisationen auf, die nationale Frage möglichst ausführlich (in Broschüren, Diskussionen usw.) zu beleuchten.

1 Als Versuch der kaukasischen Sozialdemokraten, des Bund und der Liquidatoren, das Parteiprogramm zu ändern, wertet die Resolution den folgenden Beschluss der Augustkonferenz der Liquidatoren in Wien im Jahre 1912 („Augustblock") über die nationale Frage: „Zur Frage der national-kulturellen Autonomie. Nach Entgegennahme der Mitteilung des kaukasischen Delegierten, dass sowohl in der letzten Konferenz der kaukasischen Organisationen der SDAPR als auch in den literarischen Organen dieser Organisationen die Meinung der kaukasischen Genossen, dass es notwendig ist, die Forderung der national-kulturellen Autonomie aufzustellen, klargestellt worden ist, stellt die Konferenz, ohne sich über das Wesen dieser Forderung auszusprechen, fest, dass eine solche Auslegung des Punktes des Parteiprogramms, der jeder Nationalität das Selbstbestimmungsrecht zuerkennt, mit dem genauen Sinne dieses Punktes nicht in Widerspruch steht, und die Konferenz spricht daher das Verlangen aus, die nationale Frage auf die Tagesordnung des nächsten Parteitages der SDAPR zu stellen."

Kommentare