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Wladimir I. Lenin 19131228 Über das nationale Programm der SDAPR

Wladimir I. Lenin: Über das nationale Programm der SDAPR

[Sozialdemokrat", Nr. 32, 15./28. Dezember 1913. Nach Sämtliche Werke Band 17, Moskau-Leningrad 1935, S. 139-146]

Die Konferenz des ZK hat die im „Bulletin" abgedruckte Resolution über die nationale Frage angenommen und die Frage des nationalen Programms auf die Tagesordnung des Parteitags gestellt.

Warum und auf welche Weise die nationale Frage im gegenwärtigen Augenblick sowohl in der ganzen Politik der Konterrevolution und im Massenbewusstsein der Bourgeoisie als auch in der proletarischen sozialdemokratischen Partei Russlands auf einen hervorragenden Platz gerückt ist, das wird in der Resolution selbst eingehend gezeigt. Dabei zu verweilen, ist in Anbetracht der völligen Klarheit der Lage der Dinge kaum vonnöten. In der letzten Zeit ist diese Lage der Dinge und sind die Grundlagen des nationalen Programms der Sozialdemokratie in der theoretischen marxistischen Literatur bereits beleuchtet worden (in erster Linie tritt hier der Artikel Stalins1 hervor). Wir halten es deshalb für angebracht, uns im vorliegenden Artikel auf die rein parteimäßige Behandlung dieser Frage und auf die Klarstellung dessen zu beschränken, was die durch das Joch der Stolypins und Maklakows niedergehaltene legale Presse nicht sagen kann.

Die Sozialdemokratie bildet sich in Russland vollständig unter Anlehnung an die Erfahrung der älteren Länder, d. h. Europas, und auf der Grundlage des theoretischen Ausdrucks dieser Erfahrung, nämlich des Marxismus. Die Eigenart unseres Landes und die Eigenart des historischen Zeitpunktes der Bildung einer sozialdemokratischen Partei in ihm besteht erstens darin, dass sich bei uns – zum Unterschiede von Europa – die Sozialdemokratie vor der bürgerlichen Revolution zu bilden begonnen hat und während derselben zu bilden fortfährt. Zweitens geht bei uns der unvermeidliche Kampf um die Trennung der proletarischen Demokratie von der allgemein-bürgerlichen und kleinbürgerlichen – im Grunde der gleiche Kampf wie ihn alle Länder durchgemacht haben – unter den Bedingungen des vollständigen theoretischen Sieges des Marxismus im Westen und bei uns vor sich. Deshalb ist dieser Kampf seiner Form nach nicht so sehr ein Kampf um den Marxismus als vielmehr ein Kampf für oder gegen kleinbürgerliche, in „fast marxistische" Phrasen verhüllte Theorien.

So steht die Sache, angefangen mit dem „Ökonomismus" (1895–1901) und dem „legalen Marxismus" (1895–1901, 1902). Nur Leute, die die geschichtliche Wahrheit fürchten, können den äußerst engen und unmittelbaren Zusammenhang und die Verwandtschaft dieser Strömungen mit dem Menschewismus (1903–1907) und dem Liquidatorentum (1908–1913) vergessen.

Die alte „Iskra", die zugleich mit der ersten und grundlegenden Begründung des Marxismus in der Theorie und Praxis der Arbeiterbewegung Russlands in den Jahren 1901-1903 das Programm der SDAPR vorbereitete und dann auch ausgearbeitet hat, kämpfte in der nationalen Frage wie auch in den übrigen Fragen gegen den kleinbürgerlichen Opportunismus. Seinen Ausdruck fand dieser in erster Linie in den nationalistischen Seitensprüngen oder Schwankungen des Bund. Die alte „Iskra" hat gegen den Nationalismus des Bund hartnäckig gekämpft; und diesen Kampf zu vergessen, bedeutet alles Gedächtnis zu verlieren und sich von der geschichtlichen und ideellen Grundlage der ganzen sozialdemokratischen Arbeiterbewegung Russlands zu entfernen.

Anderseits fand bei der endgültigen Bestätigung des Programms der SDAPR im August 1903 auf dem zweiten Parteitag ein Kampf statt, der in den Protokollen des Parteitags nicht vermerkt ist, denn er spielte sich in der Programm-Kommission ab, deren Sitzungen fast der ganze Parteitag besuchte. Es war dies ein Kampf gegen den plumpen Versuch einiger polnischer Sozialdemokraten, das „nationale Selbstbestimmungsrecht" in Zweifel zu ziehen, d. h. von einer ganz anderen Seite aus zum Opportunismus und Nationalismus hinab zu gleiten.

Und heute, zehn Jahre später, verläuft der Kampf auf den nämlichen zwei Hauptlinien, was einerseits wiederum beweist, wie tief der Zusammenhang dieses Kampfes mit allem objektiven Bedingungen der nationalen Frage in Russland ist.

In Österreich wurde auf dem Brünner Parteitag (1899) das Programm der „national-kulturellen Autonomie" (das von Kristan, Ellenbogen u. a. vertreten wurde und im Entwurfe der Südslawen zum Ausdruck kam) abgelehnt. Angenommen wurde die territoriale nationale Autonomie und lediglich die Propaganda der Sozialdemokratie für einen Zwangsverband sämtlicher nationalen Gebiete ist ein Kompromiss mit der Idee der „national-kulturellen Autonomie". Die Unanwendbarkeit dieser Idee auf das Judentum ist von den Haupttheoretikern dieser unglücklichen Idee besonders und speziell unterstrichen worden.

In Russland fanden sich – wie immer – Leute, die sich die Aufgabe stellten, den geringen opportunistischen Fehler zu einem System opportunistischer Politik aufzubauschen. Wie Bernstein in Deutschland die rechten Kadetten in Russland, die Struve, Bulgakow, Tugan und Komp., hervorrief, so erzeugte die „Vernachlässigung des internationalen Moments" durch Otto Bauer (nach dem Urteil des äußerst vorsichtigen Kautsky!) in Russland die restlose Annahme der „national-kulturellen Autonomie" durch alle bürgerlichen Parteien des Judentums und eine ganze Reihe kleinbürgerlicher Strömungen (der Bund und die Konferenz der sozialrevolutionären nationalen Parteien im Jahre 1907). Das zurückgebliebene Russland liefert sozusagen ein Beispiel dafür, wie die Mikroben des westeuropäischen Opportunismus auf unserem wilden Boden ganze Epidemien erzeugen.

Man weist bei uns gern darauf hin, dass Bernstein in Europa „geduldet" wird, vergisst aber hinzuzufügen, dass die Bernsteiniade außer im „heiligen" Mütterchen Russland sonst nirgends in der Welt einen Struvismus erzeugt hat und die „Baueriade" nicht zur Rechtfertigung des verfeinerten Nationalismus der jüdischen Bourgeoisie durch Sozialdemokraten geführt hat.

Die „national-kulturelle Autonomie" bedeutet eben den verfeinertsten und deshalb den schädlichsten Nationalismus, bedeutet die Verleitung der Arbeiter durch die Losung der nationalen Kultur, die Propaganda für die äußerst schädliche und sogar antidemokratische Teilung des Schulwesens nach Nationalitäten. Mit einem Wort, dieses Programm widerspricht absolut dem Internationalismus des Proletariats und entspricht nur den Idealen der nationalistischen Kleinbürger.

Doch es gibt einen Fall, wo die Marxisten, wenn sie der Demokratie und dem Proletariat nicht untreu werden wollen, verpflichtet sind, in der nationalen Frage für eine spezielle Forderung einzutreten, nämlich für das Recht der Nationen auf Selbstbestimmung (§ 9 des Programms der SDAPR), d. h. auf die politische Lostrennung. Die Resolution der Beratung erläutert und motiviert diese Forderung so ausführlich, dass für irgendwelche Missverständnisse kein Platz bleibt.

Wir verweilen deshalb nur kurz bei der Charakteristik jener erstaunlich wenig Wissen verratenden und opportunistischen Einwände, die gegen diesen Punkt des ,Programms' erhoben werden. Wir wollen dabei bemerken, dass in den zehn Jahren des Bestehens des Programms kein einziger Teil der SDAPR, keine einzige nationale Organisation, keine einzige Gebietskonferenz, kein einziges Lokalkomitee und kein einziger Delegierter eines Parteitages oder einer Beratung versucht hat, die Frage der Änderung oder Beseitigung des § 9 aufzuwerfen!! Das muss im Auge behalten werden. Das zeigt uns sofort, ob die Einwände gegen diesen Punkt auch nur eine Spur von Ernsthaftigkeit und parteimäßiger Gesinnung enthalten,

Da habt ihr den Herrn Semkowski von der Zeitung der Liquidatoren. Er erklärt mit der Leichtigkeit eines Menschen, der die Partei liquidiert hat:

Aus gewissen Erwägungen heraus teilen wir den Vorschlag Rosa Luxemburgs, den § 9 aus dem Programm gänzlich zu entfernen, nicht." (Nr. 71 der „Nowaja Rabotschaja Gaseta"2.)

Die Erwägungen sind ein Geheimnis! Und wie sollte man auch bei einer solchen Unwissenheit in der Geschichte unseres Programms nicht „geheimnisvoll tun"? Wie sollte man nicht „geheimnisvoll tun", wenn derselbe in seiner Fixigkeit so unvergleichliche Herr Semkowski (was heißt da schon irgendeine Partei und irgendein Programm!) für Finnland eine Ausnahme macht?

Was soll geschehen… wenn das polnische Proletariat gewillt wäre, im Rahmen eines Staates den gemeinsamen Kampf mit dem ganzen russischen Proletariat zu führen, die reaktionären Klassen der polnischen Gesellschaft dagegen Polen von Russland trennen wollten und bei einem Referendum (allgemeiner Volksbefragung) die Mehrheit der Stimmen für die Trennung gewännen: müssten wir russischen Sozialdemokraten im Zentralparlament zusammen mit unseren polnischen Genossen gegen die Lostrennung oder, um das ,Selbstbestimmungsrecht' nicht zu verletzen, für die Lostrennung stimmen?"

Was soll man, in der Tat, machen, wenn so naive, so hoffnungslos verwirrte Fragen gestellt werden?

Das Recht auf Selbstbestimmung, mein lieber Herr Liquidator, bedeutet, dass die Frage eben nicht von einem zentralen Parlament, sondern von einem Parlament, Sejm, Referendum der sich lostrennenden Minderheit entschieden wird. Als Norwegen sich von Schweden trennte (im Jahre 1905), entschied dies Norwegen allein (das halb so groß wie Schweden ist).

Selbst ein Kind erkennt, dass Herr Semkowski alles hoffnungslos durcheinanderbringt.

Das „Recht auf Selbstbestimmung" bedeutet ein solches demokratisches System, bei dem die Demokratie nicht nur im Allgemeinen besteht, sondern wo es im Besonderen keine undemokratische Entscheidung der Frage der Lostrennung geben kann. Die Demokratie ist, allgemein gesprochen, mit einem streitbaren und unterdrückenden Nationalismus vereinbar. Das Proletariat fordert eine Demokratie, die das gewaltsame Festhalten einer Nation in den Grenzen eines Staates ausschließt. Deshalb sind wir, „um das Selbstbestimmungsrecht nicht zu verletzen", nicht verpflichtet, „für die Lostrennung zu stimmen", wie der scharfsinnige Herr Semkowski annimmt, sondern dafür, dass die Entscheidung dieser Frage dem sich lostrennenden Gebiete selbst überlassen werde.

Man sollte meinen, es dürfte sogar bei den geistigen Fähigkeiten des Herrn Semkowski nicht schwer fallen zu erraten, dass „das Recht auf Scheidung" nicht die Stimmenabgabe für die Scheidung verlangt! Aber es ist schon einmal das Schicksal der Kritiker des § 9, dass sie das ABC der Logik vergessen.

Als Norwegen sich von Schweden trennte, war das schwedische Proletariat, wenn es nicht dem nationalistischen Spießbürgertum folgen wollte, verpflichtet, gegen die von den Pfaffen und Gutsbesitzern Schwedens angestrebte gewaltsame Vereinigung Norwegens mit Schweden zu stimmen und zu agitieren. Das ist klar und nicht allzu schwer zu verstehen. Die schwedische nationalistische Demokratie konnte auf eine derartige Agitation, die vom Proletariat der herrschenden, unterdrückten Nationen die Anerkennung des Prinzips des Rechtes auf Selbstbestimmung verlangt, verzichten.

Was soll geschehen, wenn die Reaktionäre in der Mehrheit sind?" fragt Herr Semkowski. Eine Frage, würdig eines Gymnasiasten der dritten Klasse. Und was soll mit der russischen Verfassung geschehen, wenn die demokratische Abstimmung eine reaktionäre Mehrheit ergibt? Herr Semkowski stellt eine müßige, leere, nicht auf die Sache lossteuernde Frage – eine von jenen Fragen, von denen es heißt, dass sieben Narren mehr fragen als zehn Kluge antworten können.

Wenn bei demokratischer Abstimmung die Reaktionäre die Mehrheit haben, so gibt es und kann es überhaupt nur eines von beiden geben: entweder wird der Beschluss der Reaktionäre verwirklicht und seine schädlichen Folgen treiben die Massen mehr oder weniger schnell auf die Seite der Demokratie, gegen die Reaktionäre; oder der Konflikt der Demokratie mit den Reaktionären wird durch den Bürgerkrieg oder einen anderen Krieg entschieden, der (wovon wahrscheinlich sogar die Semkowskis gehört haben) auch unter der Demokratie möglich ist.

Die Anerkennung des Selbstbestimmungsrechtes ist „Wasser auf die Mühle" des „verrufensten bürgerlichen Nationalismus", versichert Herr Semkowski. Das ist kindischer Unsinn, denn die Anerkennung dieses Rechtes schließt keineswegs die Propaganda und Agitation gegen die Lostrennung oder die Entlarvung des bürgerlichen Nationalismus aus. Dagegen ist es ganz unbestreitbar, dass die Verneinung des Rechtes auf Lostrennung „Wasser auf die Mühle" des verrufensten großrussischen reaktionären Nationalismus ist!

Darin besteht eben der Kernpunkt des lächerlichen Fehlers Rosa Luxemburgs, dessentwegen sie schon vor langem sowohl in der deutschen als auch in der russischen Sozialdemokratie (August 1903) ausgelacht wurde: dass man aus Furcht, dem bürgerlichen Nationalismus der unterdrückten Nationen in die Hände zu arbeiten, nicht nur dem bürgerlichen, sondern selbst dem reaktionären Nationalismus der unterdrückenden Nation in die Hände arbeitet.

Wenn Herr Semkowski in Sachen der Parteigeschichte und des Parteiprogramms nicht einer unschuldigen Jungfrau gliche, würde er es als seine Pflicht erkennen, Plechanow zu widerlegen, der vor elf Jahren in der „Sarja"3 bei der Verfechtung des Programmentwurfes der SDAPR (der im Jahre 1903 zum Programm geworden ist) die Anerkennung des Selbstbestimmungsrechtes speziell anführte (Seite 38) und über dasselbe schrieb:

Diese für die bürgerlichen Demokraten sogar in der Theorie unverbindliche Forderung ist für uns als Sozialdemokraten verbindlich. Wenn wir sie vergäßen oder sie nicht zu erheben wagten, aus Furcht, die nationalen Vorurteile unserer Landsleute vom großrussischen Stamme anzutasten, so würde der Kampfruf der internationalen Sozialdemokratie: ,Proletarier aller Länder, vereinigt euch!' in unserem Munde eine schändliche Lüge sein."

Schon in der „Sarja" führt Plechanow das Hauptargument an, das in der Resolution der Beratung ausführlich entwickelt wird – ein Argument, das die Herren Semkowski im Verlauf von elf Jahren nicht zu beachten vermochten. In Russland sind 43 Prozent Großrussen, aber der großrussische Nationalismus herrscht über 57 Prozent der Bevölkerung und bedrückt alle Nationen. Den National-Reaktionären haben sich bei uns bereits die Nationalliberalen (Struve und Komp., die Progressisten usw.) angeschlossen, und es zeigten sich die „ersten Blüten" einer National-Demokratie (man erinnere sich an den Appell des Herrn Pjeschechonow im August 1906, sich den nationalistischen Vorurteilen des Bauern gegenüber vorsichtig zu verhalten!).

Nur die Liquidatoren halten die bürgerlich-demokratische Revolution in Russland für abgeschlossen, die Begleiterscheinungen einer solchen Revolution waren und sind aber überall in der Welt die nationalen Bewegungen. In Russland sehen wir gerade in einer ganzen Reihe von Grenzgebieten unterjochte Nationen, die in den benachbarten Staaten größere Freiheit genießen. Der Zarismus ist reaktionärer als die Nachbarstaaten, da er das größte Hindernis einer freien wirtschaftlichen Entwicklung darstellt und aus allen Kräften den Nationalismus der Großrussen entfacht. Natürlich zieht der Marxist, unter sonst gleichen Bedingungen, große Staaten stets kleinen vor. Aber lächerlich und reaktionär ist schon allein die Zulassung des Gedankens, dass die Bedingungen unter der Zarenmonarchie die gleichen seien wie die Bedingungen in allen europäischen und in den meisten asiatischen Ländern.

Die Verneinung des nationalen Selbstbestimmungsrechtes ist deshalb im heutigen Russland zweifellos Opportunismus und bedeutet den Verzicht auf den Kampf gegen den bis jetzt allmächtigen großrussischen reaktionären Nationalismus.

1 Lenin meint hier den Artikel von Stalin „Die nationale Frage und die Sozialdemokratie" im „Prosweschtschenije", Nr. 3 und 4, März und April 1913.

2 Lenin zitiert hier den Artikel S. Semkowskis „Vereinfachter Marxismus in der nationalen Frage" in Nr. 71 der „Nowaja Rabotschaja Gaseta" vom 13. November (31. Oktober) 1913; der Artikel begann in Nr. 69 dieses Blattes vom 11. November (29. Oktober) 1913.

3 Lenin meint hier den Artikel Plechanows „Kommentar zum Programmentwurf der SDAPR" in der Zeitschrift „Sarja" Nr. 4, August 1902.

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