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Wladimir I. Lenin 19131212 Zabern

Wladimir I. Lenin: Zabern

[Sa Prawdu", Nr. 47, 29. November/12. Dezember 1913 Gez.: W. I. Nach Sämtliche Werke Band 17, Moskau-Leningrad 1935, S. 117-119]

Es gibt, in der Politik „Fälle", wo das Wesen einer gewissen Ordnung der Dinge irgendwie plötzlich, aus einem verhältnismäßig geringfügigen Anlass, mit ungewöhnlicher Wucht und Deutlichkeit an den Tag tritt.

Zabern ist ein kleines Städtchen im Elsass Vor mehr als vierzig Jahren wurde das Elsass von den siegreichen Preußen von Frankreich losgerissen (unter den heftigen Protesten nur einer Partei Deutschlands – der Sozialdemokratie). Mehr als vierzig Jahre lang wurde die französische Bevölkerung des Elsass mit Gewalt „germanisiert" und durch alle Art von Druck in die königlich-preußische, feldwebelhafte, bürokratische Disziplin „hineingezwungen" die sich „deutsche Kultur" nennt. Aber die Elsässer antworteten in einem Protestlied: „Ihr habt unser Elsass genommen, unser Lothringen, ihr könnt unsere Äcker germanisieren, aber unsere Herzen werdet ihr niemals beherrschen – niemals".

Und nun hat ein preußischer Adliger, der blutjunge Offizier Forstner, die Sache zur Explosion getrieben. Er beschimpfte die elsässische Bevölkerung aufs Gröbste („Wackes" – ein schweres Schimpfwort). Millionen Mal haben sich die deutschen Purischkjewitsche in den Kasernen eine solche Sprache erlaubt, und immer ging es gut ab. Das millionen- und erste Mal… ist es missglückt!

Was sich in den Jahrzehnten des Joches, der Anrempelungen und Beleidigungen, in den Jahrzehnten gewaltsamer Verpreußung angesammelt hat, das ist nun zum Ausbruch gekommen. Nicht dass sich die französische Kultur gegen die deutsche erhoben hätte – der Fall Dreyfus hat seinerzeit gezeigt, dass es an grober, zu jeder Art von Untat, Barbarei, Gewalt, Verbrechen fähigen Soldateska in Frankreich nicht weniger gibt als in jedem anderen Lande. Nein, nicht die französische Kultur hat sich gegen die deutsche, sondern die in einer Reihe französischer Revolutionen erzogene Demokratie hat sich gegen den Absolutismus erhoben.

Der Entrüstungssturm der Bevölkerung, die Erbostheit über die preußischem Offiziere, deren Verhöhnung durch die freiheitsliebende, stolze französische Volksmenge, die tolle Wut der preußischen Militärs, die willkürlichen Verhaftungen und Misshandlungen des Publikums – all das hat in Zabern (und darauf fast im ganzen Elsass) zu einer „Anarchie" geführt, wie sich die bürgerlichen Zeitungen ausdrücken, Der junkerliche, „oktobristische", pfäffische Deutsche Reichstag hat mit gewaltiger Stimmenmehrheit eine Resolution gegen die deutsche Reichsregierung angenommen.

Anarchie' – ein dummes Wort. Es setzt voraus, dass es in Deutschland eine „festgesetzte" bürgerliche Rechtsordnung gab und gibt, von der – irgendeiner teuflischen Verhetzung zufolge! – abgewichen worden sei. Das Wort „Anarchie" ist ganz vom Geiste der offiziellen, vor den Gutsbesitzern und der Soldateska schweifwedelnden deutschen „Universitätswissenschaft" (mit Verlaub zu sagen, Wissenschaft) durchtränkt, welche die ungemeine „Gesetzlichkeit" in Deutschland lobpreist.

Der Fall Zabern hat gezeigt, dass Marx recht hatte, als er vor bald 40 Jahren das deutsche Staatssystem als einen „mit parlamentarischen Formen verbrämten Militärdespotismus" bezeichnete. Marx hatte das wahre Wesen der deutschen „Konstitution" hunderttausend Mal tiefer erfasst als die Hunderte von Professoren, Pfaffen und Publizisten der Bourgeoisie, die den „Rechtsstaat" verherrlichten. Diese krochen vor dem Erfolg und dem Triumph der deutschen Günstlinge auf dem Bauch. Jener beurteilte den Klassencharakter der Politik, wobei er sich nicht von der gegebenen „Krümmung" der Ereignisse, sondern von der gesamten Erfahrung der internationalen Demokratie und der internationalen Arbeiterbewegung leiten ließ.

Nicht die „Anarchie" ist in Zabern „ausgebrochen", sondern die wahre Ordnung in Deutschland, die Säbelherrschaft des halb-feudalen preußischen Grundherrn hat sich verschärft und ist ans Licht getreten. Wenn die deutsche Bourgeoisie Ehrgefühl hätte, wenn sie Verstand und Gewissen hätte, wenn sie glaubte, was sie spricht, wenn bei ihr nicht die Taten und die Worte auseinandergingen, mit einem Wort, wenn sie nicht eine Bourgeoisie wäre, die einem nach Millionen zählenden sozialistischen Proletariat von Angesicht zu Angesicht gegenübersteht – sie würde „bei Gelegenheit" der „Angelegenheit" von Zabern republikanisch. So aber wird sich die Sache auf platonische Proteste der bürgerlichen Politikanten – im Parlament beschränken.

Doch außerhalb des Parlaments wird sich die Sache nicht darauf beschränken. Die Stimmung in den Massen des deutschen Kleinbürgertums hat sich geändert und ändert sich. Die Verhältnisse haben sich geändert, die wirtschaftliche Lage hat sich geändert und sämtliche Pfeiler der „ruhigen" Herrschaft des adlig-preußischen Säbels sind unterwühlt. Der Lauf der Dinge treibt die deutsche Bourgeoisie gegen ihren Willen einer tiefgehenden politischen Krise entgegen.

Vorüber die Zeit des friedlichen Schlafes des „deutschen Michels" unter der Vormundschaft der preußischen Purischkjewitsche und unter einem ganz außerordentlich günstigen Verlauf der kapitalistischen Entwicklung Deutschlands. Unaufhaltsam reift und nähert sich der allgemeine und völlige Zusammenbruch …

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