Lenin‎ > ‎1918‎ > ‎

Wladimir I. Lenin 19180627 Bericht über die gegenwärtige Lage

Wladimir I. Lenin: Bericht über die gegenwärtige Lage

27. Juni 1918

[Veröffentlicht 1918 in dem Buch: „Protokolle der IV. Konferenz der Betriebskomitees und Gewerkschaften Moskaus". Verlag des Allrussischen Zentralrats der Gewerkschaften. Nach Sämtliche Werke, Band 23, Moskau 1940, S. 94-114]

Genossen! Ihr wisst natürlich alle, wie sich über unserm Land jetzt das allergrößte Unheil zusammengezogen hat – die Hungersnot. Ehe wir übergehen zu der Frage nach den Kampfmaßnahmen gegen dieses Unheil, das sich gerade jetzt am meisten verschärft hat, müssen wir vor allem die Frage aufrollen, durch welche grundlegenden Ursachen dieses Unheil hervorgerufen ist. Wenn wir diese Frage aufwerfen, so müssen wir uns sagen und müssen dessen eingedenk sein, dass dieses Unheil heute nicht nur über Russland, sondern über alle, selbst die kulturell höchst stehenden, fortgeschrittensten, zivilisiertesten Länder hereingebrochen ist.

Im Laufe der letzten Jahrzehnte, ganz besonders aber jetzt, in der Revolution, kam es in Russland mehr als einmal vor, dass über ganze Gebiete unseres Agrarlandes, in welchem die übergroße Mehrzahl der russischen Bauernschaft zersplittert und von Zaren, Gutsbesitzern und Kapitalisten unterjocht war, eine Hungersnot hereinbrach. Aber auch in den westeuropäischen Ländern herrscht das gleiche Unheil. Viele dieser Länder hatten seit Jahrzehnten, ja schon seit Jahrhunderten vergessen, was Hungersnot ist – so hochentwickelt war ihre Landwirtschaft, so gut waren diejenigen der europäischen Länder, denen es an eigenem Getreide mangelte, durch gewaltige Mengen importierten Getreides versorgt. Heute aber, im 20. Jahrhundert, sehen wir neben einem noch größeren Fortschritt der Technik, neben den Wundern der Erfindungen, neben der weitestgehenden Anwendung von Maschinen und Elektrilztät, von modernen Verbrennungsmotoren in der Landwirtschaft , neben alledem sehen wir heute in ausnahmslos allen europäischen Ländern das gleiche über die Völker hereingebrochene Unheil – die Hungersnot. Es ist, als ob die Länder mit der Zivilisation, mit der Kultur wieder zur primitiven Barbarei zurückkehrten, wieder einen solchen Zustand durchleben, wo die Sitten verwildern und die Menschen im Kampf um ein Stück Brot verlieren. Wodurch ist diese Wendung zur Barbarei in einer ganzen Reihe europäischer Länder, in ihrer Mehrzahl, hervorgerufen? Wir wissen alle, dass das durch den imperialistischen Krieg hervorgerufen ist, durch den Krieg, der schon vier Jahre lang die Menschheit zerfleischt, der die Völker schon mehr, bedeutend mehr als zehn Millionen junger Menschenleben kostet, durch den Krieg, der von den profitgierigen Kapitalisten entfacht worden ist, durch den Krieg, der darum geführt wird, wer, welcher der größten Räuber, der englische oder der deutsche, die Welt beherrschen, Kolonien erwerben, die kleinen Völker würgen wird.

Dieser Krieg, der fast den ganzen Erdball erfasste, der mindestens zehn Millionen Menschenleben verschlungen hat, die Millionen Verstümmelter, Verkrüppelter und Kranker nicht gerechnet, der Krieg, der außerdem Millionen der gesündesten und besten Kräfte der produktiven Arbeit entrissen hat – dieser Krieg hat dazu geführt, dass die Menschheit sich heute im Zustand völliger Barbarei befindet. Es ist das in Erfüllung gegangen, was als das schlimmste, das qualvollste, das entsetzlichste Ende des Kapitalismus zahlreiche Schriftsteller sozialistischer Richtung vorausgesehen hatten, die da sagten: die kapitalistische Gesellschaft, die darauf beruht, dass ein Häuflein von Kapitalisten, von Monopolisten, den Grund und Boden, die Fabriken, Betriebe und Produktionswerkzeuge als Privateigentum usurpiert hat, wird sich in die sozialistische Gesellschaft verwandeln, die allein die Möglichkeit hat, dem Krieg ein Ende zu setzen, denn die „zivilisierte", die „kultivierte" kapitalistische Welt geht einem unerhörten Zusammenbruch entgegen, der geeignet ist, alle Grundlagen des Kulturlebens zu zerstören und sie unvermeidlich zerstören wird. Nicht nur in Russland, wie gesagt, sondern auch in den kulturell höchst stehenden, fortgeschrittensten Ländern wie in Deutschland, wo die Arbeitsproduktivität unvergleichlich höher ist, das der Welt in gewaltigem Überfluss technische Mittel liefern kann und, immer noch im freien Verkehr mit fernen Ländern stehend, imstande ist, seine Bevölkerung mit Lebensmitteln zu versorgen – selbst hier sehen wir Hunger, einen ungleich besser organisierten, länger als in Russland hinausgezögerten, aber einen Hunger, der noch schlimmer, noch qualvoller ist. Der Kapitalismus hat zu einem so schweren und qualvollen Zusammenbruch geführt, dass nunmehr allen absolut klar ist: ohne eine Reihe höchst schwerer und blutiger Revolutionen, von denen die russische Revolution nur die erste, nur der Anfang ist, kann der gegenwärtige Krieg nicht enden.

Ihr hört jetzt Nachrichten darüber, dass z. B. in Wien zum zweiten Mal ein Arbeiterrat gebildet, dass die werktätige Bevölkerung zum zweiten Mal von einem fast allgemeinen Massenstreik erfasst wird. Wir hören, dass in Städten, die bisher Muster kapitalistischer Ordnung, Kultur und Zivilisation waren, wie z. B. Berlin, es gefährlich wird, nach Eintritt der Dunkelheit auf die Straße zu gehen, weil trotz der grausamsten Verfolgungsmaßnahmen und strengsten Schutzmaßregeln Krieg und Hunger auch dort die Menschen zur völligen Verwilderung geführt haben, zu einer solchen Anarchie, zu solcher Empörung geführt haben, dass nicht nur Verkauf, sondern direkter Raub, direkter Krieg um das Stück Brot in allen zivilisierten Kulturstaaten an der Tagesordnung ist.

Genossen, wenn wir daher bei uns, in unserer Heimat, heute beobachten, welch qualvolle, schwere Lage im Zusammenhang mit der Hungersnot entstanden ist, so müssen wir den wenigen, aber immerhin noch vorhandenen gänzlich blinden, unaufgeklärten Leuten die grundlegenden und hauptsächlichen Ursachen des Hungers erklären. Man kann bei uns noch Leute treffen, die so urteilen: unter dem Zaren hat es doch immerhin Brot gegeben; dann ist die Revolution gekommen, und Brot gibt es nicht mehr. Und es ist verständlich, dass für irgendwelche alten Weiber im Dorf die ganze geschichtliche Entwicklung der letzten zehn Jahre vielleicht wirklich darauf hinausläuft, dass es früher Brot gegeben hat und es jetzt keines gibt. Das ist verständlich, weil der Hunger ein Unheil ist, das sämtliche anderen Fragen hinwegfegt, beiseite schiebt, sich allein in den Vordergrund drängt und sich alles andere unterordnet. Aber unsere Aufgabe, die Aufgabe der klassenbewussten Arbeiter, besteht selbstverständlich darin, die breitesten Massen aufzuklären, alle Angehörigen der werktätigen Massen samt und sonders in Stadt und Land darüber aufzuklären, was die Grundursache des Hungers ist, denn ohne das aufgeklärt zu haben, können wir weder in unseren eigenen Reihen noch bei den Angehörigen der werktätigen Massen das richtige Verhalten herbeiführen, können kein richtiges Verständnis erzielen für den Schaden, den der Hunger stiftet, können nicht die feste Entschlossenheit und die Stimmung schaffen, die für die Bekämpfung dieses Unheils erforderlich ist. Wenn wir uns aber vergegenwärtigen, dass dieses Unheil durch den imperialistischen Krieg erzeugt worden ist, dass jetzt selbst die reichsten Länder unerhörten Hunger leiden und die gewaltige Mehrheit der werktätigen Massen unglaubliche Qualen erduldet; wenn wir uns vergegenwärtigen, dass der imperialistische Krieg schon vier Jahre lang die Arbeiter der verschiedenen Länder zwingt, um der Vorteile, um der Profitgier der Kapitalisten willen Blut zu vergießen; wenn wir uns vergegenwärtigen, dass der Krieg desto auswegloser wird, je länger er sich hinzieht, – dann werden wir begreifen, welch gigantische, unermessliche Kräfte der Bewegung gegeben werden müssen.

Der Krieg währt schon bald vier Jahre. Russland ist aus dem Krieg ausgeschieden, und da es allein ausschied, steht es zwischen zwei Rudeln imperialistischer Räuber, von denen jedes es zu zerreißen, zu erwürgen sucht, von denen jedes die zeitweilige Wehr- und Hilflosigkeit Russlands ausnutzen will. Schon vier Jahre währt der Krieg. Die deutschen imperialistischen Räuber haben eine Reihe von Siegen erfochten und fahren fort, die Arbeiter ihres Landes zu betrügen, von denen ein Teil, bestochen von der Bourgeoisie, auf deren Seite übergegangen ist und die niederträchtige blutige Lüge von der Vaterlandsverteidigung wiederholt, während die deutschen Soldaten in Wirklichkeit die eigennützigen Raubinteressen der deutschen Kapitalisten verteidigen, die ihnen versprechen, Deutschland werde Frieden bringen, werde Wohlstand geben; in der Tat aber sehen wir, dass die Siege Deutschlands, je größer sie werden, desto deutlicher Deutschlands hoffnungslose Lage offenbaren.

Zur Zeit des Brester Friedens, beim Abschluss dieses gewaltsamen, ausbeuterischen, auf Gewalt, auf Unterjochung der Völker fußenden Brester Vertrags, prahlte Deutschland, prahlten die deutschen Kapitalisten, sie würden den Arbeitern Brot und Frieden geben. Heute aber setzt man in Deutschland die Brotration herab. Die Kampagne zur Beschaffung von Lebensmitteln in der reichen Ukraine erlitt, wie alle zugeben mussten, Schiffbruch, und in Österreich kam es wieder zu Hungerrevolten, zur Massenempörung des ganzen Volkes. Denn je länger Deutschland seine Siege davonträgt, desto klarer wird allen, selbst vielen Vertretern der deutschen Großbourgeoisie, dass der Krieg ausweglos ist, dass die Deutschen, selbst wenn sie an der Westfront werden Widerstand leisten können, dadurch dem Kriegsende nicht im Geringsten näherkommen, sondern dass dadurch noch ein neues geknechtetes Land geschaffen wird, das zu okkupieren wäre, das die deutschen Truppen besetzen müssten, und dass der Krieg weitergeführt werden müsste. Das fördert die Zersetzung der deutschen Armee, die sich aus einer Armee in eine Bande von Räubern verwandelt und verwandeln wird, von Menschen, die andere Völker, wehrlose Völker vergewaltigen und aus deren Ländern unter dem größten Widerstand der Bevölkerung die letzten Reste von Lebensmitteln und Rohstoffen herauspumpen. Je weiter Deutschland in die Grenzgebiete Europas vorrückt, desto klarer wird es, dass sich England und Amerika ihm entgegenstellen, und diese sind viel entwickelter, verfügen über größere Produktivkräfte, und finden Zeit, Zehntausende der besten frischen Kräfte nach Europa zu senden, um alle Maschinen und alle Betriebe zu Mitteln der Zerstörung zu machen. Der Krieg beginnt aufs Neue, und das, bedeutet, dass jedes Jahr, ja jeder Monat eine Erweiterung dieses Krieges mit sich bringt. Aus diesem Krieg gibt es keinen anderen Ausweg als die Revolution, als den Bürgerkrieg, als die Umwandlung des Krieges zwischen den Kapitalisten um ihre Profite, um die Teilung der Beute, um die Erdrosselung der kleinen Länder in den Krieg der Unterdrückten gegen die Unterdrücker, in den einzigen Krieg, der in der Geschichte stets nicht nur den Krieg, sondern auch alle einigermaßen bedeutenden Revolutionen begleitet, in den einzigen Krieg, der vom Standpunkt der Interessen der werktätigen, der unterdrückten, der ausgebeuteten Massen nur allein ein berechtigter und gerechter, ein heiliger Krieg ist. Ohne einen solchen Krieg ist aus der imperialistischen Sklaverei nicht herauszukommen. Wir müssen uns klar Rechenschaft darüber geben, welche neuen Nöte der Bürgerkrieg für jedes Land mit sich bringt. Diese Nöte werden um so größer sein, je höher die Kultur des Landes ist. Stellen wir uns ein Land mit Maschinen, mit Eisenbahnen im Bürgerkrieg vor, der den Verkehr zwischen den einzelnen Gebieten des Landes unterbindet. Stellt euch vor, in welcher Lage sich die Gebiete befinden werden, die seit Jahrzehnten darauf eingerichtet waren, vom industriellen Warenaustausch zu leben, und ihr werdet begreifen, dass jeder Bürgerkrieg noch neue, schwere Unbilden mit sich bringt, wie sich das die bedeutendsten Sozialisten auch vorgestellt haben. Die Imperialisten liefern die Arbeiterklasse den Unbilden, den Leiden und dem Aussterben aus. Wie schwer und peinvoll diese Leiden der ganzen Menschheit auch sein mögen, so wird der neuen, sozialistischen Gesellschaft doch mit jedem Tag klarer, dass den Krieg, den die Imperialisten begonnen haben, nicht diese Imperialisten beenden werden; beenden werden ihn andere Klassen, die Arbeiterklasse, die in allen Ländern mit jedem Tag in immer größere Bewegung, Entrüstung und Empörung gerät, eine Empörung, die unabhängig von Gefühlen und Stimmungen, durch die Macht der Dinge zum Sturz der Herrschaft der Kapitalisten zwingt. Wir müssen in Russland zu einer Zeit, da die Nöte des Hungers sich besonders fühlbar machen, eine Periode durchleben, wie sie niemals einer Revolution bevorstand und auf unverzügliche Hilfe seitens der westeuropäischen Genossen kann nicht gerechnet werden. Die ganze Schwere der russischen Revolution besteht darin, dass es für die russische revolutionäre Arbeiterklasse bedeutend leichter war als für die westeuropäischen Arbeiterklassen, die Revolution zu beginnen, dass es für uns aber schwerer ist, sie fortzusetzen. Dort, in den westeuropäischen Ländern, ist es schwieriger, die Revolution zu beginnen, weil dort dem revolutionären Proletariat die höchsten Errungenschaften der Kultur feindlich entgegenstehen, und die Arbeiterklasse sich in Kultursklaverei befindet.

Zugleich müssen wir schon infolge unserer internationalen Lage eine unglaublich schwere Zeit durchmachen, und wir, die Vertreter der werktätigen Massen, wir Arbeiter, klassenbewusste Arbeiter, müssen in unserer ganzen Agitation und Propaganda, in jeder Rede, in jedem Aufruf, in jeder Besprechung im Betrieb, bei jedem Zusammentreffen mit den Bauern den Massen auseinandersetzen, dass das Unheil, das über uns hereingebrochen ist, ein internationales Unheil ist, dass es aus ihm keinen anderen Ausweg gibt als die internationale Revolution. Wenn wir eine so qualvolle Periode durchzumachen haben, wo wir zeitweilig allein geblieben sind, so müssen alle unsere Kräfte darauf gerichtet sein, diese schwere Zeit standhaft zu ertragen, in dem Bewusstsein, dass wir letzten Endes nicht allein sind, dass die Nöte, die wir durchleben, sich an jedes europäische Land heranschleichen und dass keines dieser Länder ohne eine Reihe von Revolutionen einen Ausweg finden wird.

Über uns in Russland ist die Hungersnot hereingebrochen, die dadurch verschärft wird, dass der Gewaltfrieden Russland die getreidereichsten, die fruchtbarsten Gouvernements genommen hat; sie wird noch dadurch verschärft, dass wir uns dem Ende des alten Erntejahres nähern. Bis zur neuen Ernte, die sich durch einen nicht zu bezweifelnden Reichtum auszeichnet, bleiben uns noch einige Wochen, die deshalb die schwerste Übergangszeit sind. Diese an und für sich schwere Übergangszeit ist aber noch dadurch verschärft worden, dass die gestürzten Ausbeuterklassen der Gutsbesitzer und Kapitalisten in Russland alle Anstrengungen machen, alle Kräfte anspannen, um immer und immer wieder zu versuchen, die Macht zurückzuerlangen. Das ist eine der Hauptursachen dafür, dass gerade die getreidereichen Gouvernements Sibiriens jetzt durch den tschechoslowakischen Aufstand von uns abgeschnitten sind. Wir wissen aber gut, dass die tschechoslowakischen Soldaten Vertretern unserer Truppen, unserer Arbeiter und unserer Bauern erklären, dass sie gegen Russland und die russische Sowjetmacht nicht kämpfen wollen, dass sie sich mit der Waffe in der Hand nur durchschlagen wollen bis zur Grenze; doch an ihrer Spitze stehen dieselben Generale, Gutsbesitzer, Kapitalisten von gestern, die mit englisch-französischem Geld arbeiten und die Unterstützung der zur Bourgeoisie übergelaufenen russischen Sozialverräter genießen.

Diese ganze nette Gesellschaft nutzt die Hungersnot aus, um noch einmal zu versuchen, den Gutsbesitzern und Kapitalisten wieder zur Macht zu verhelfen. Genossen, die Erfahrung unserer Revolution bestätigt die Worte, durch die sich die Vertreter des wissenschaftlichen Sozialismus, Marx und seine Anhänger, stets von den utopischen Sozialisten, von den kleinbürgerlichen Sozialisten, von den sozialistischen Intelligenzlern, von den sozialistischen Schwärmern unterscheiden. Die intellektuellen Schwärmer, die kleinbürgerlichen Sozialisten glaubten, glauben und schwärmen vielleicht noch jetzt davon, dass es gelingen werde, den Sozialismus auf dem Wege der Überzeugung einzuführen. Die Mehrheit des Volkes werde sich überzeugen, und wenn sie sich überzeugt habe, werde die Minderheit sich fügen; die Mehrheit werde abstimmen, und der Sozialismus werde eingeführt werden. Nein, so glücklich ist die Erde nicht eingerichtet; die Ausbeuter, die Bestien von Gutsbesitzern, die Kapitalistenklasse sind der Überzeugung nicht zugänglich. Die sozialistische Revolution bestätigt, was alle gesehen haben: den allergrößten Widerstand der Ausbeuter. Je stärker der Druck der unterdrückten Klassen ist, je näher sie dabei sind, jede Unterdrückung, jede Ausbeutung abzuschütteln, je entschiedener sich die Initiative der unterdrückten Bauern und der unterdrückten Arbeiter entfaltet, desto wütender wird der Widerstand der Ausbeuter.

Und wir durchleben die schwerste, die qualvollste Periode des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus, eine Periode, die unvermeidlich in allen Ländern eine lange, sehr lange Periode sein wird, weil – ich wiederhole es – die Unterdrücker auf jeden Erfolg der unterdrückten Klasse mit immer neuen und neuen Versuchen des Widerstandes, des Sturzes der Macht der unterdrückten Klasse antworten. Der tschechoslowakische Aufstand, offenkundig unterstützt vom englischen und französischen Imperialismus, dessen Politik auf den Sturz der Sowjetmacht gerichtet ist, zeigt uns, was dieser Widerstand uns kostet. Wir sehen, wie dieser Aufstand naturgemäß infolge des Hungers um sich greift. Es ist begreiflich, dass es unter den breiten werktätigen Massen sehr viele Leute gibt, die – das wisst ihr besonders gut: jeder von euch beobachtet es in der Fabrik – keine aufgeklärten Sozialisten sind und es nicht sein können, denn sie müssen in der Fabrik schuften, und es bleibt ihnen weder Zeit noch Möglichkeit, Sozialisten zu werden. Es ist begreiflich, dass diese Leute es mit Sympathie aufnehmen, wenn sie sehen, wie in der Fabrik Arbeiter aufsteigen, die die Möglichkeit erhalten, damit zu beginnen, selber die Verwaltung der Betriebe zu erlernen – eine schwierige und schwere Sache, bei der Fehler nicht zu vermeiden sind, aber die einzige Sache, durch die die Arbeiter endlich ihr ständiges Bestreben verwirklichen können, dass die Maschinen, die Fabriken und Werke, die beste vollkommenste Technik, die besten Errungenschaften der Menschheit nicht der Ausbeutung, sondern der Verbesserung des Lebens, der Erleichterung des Lebens der überwältigenden Mehrheit dienen sollen. Wenn aber diese Menschen sehen, wie die imperialistischen Räuber vom Westen, Osten und Norden her die Wehrlosigkeit Russlands ausnutzen, um ihm das Herz aus dem Leibe zu reißen, und wenn sie einstweilen nicht wissen, wie es um die Arbeiterbewegung in den anderen Ländern bestellt ist, da werden sie begreiflicherweise von Verzweiflung erfasst. Anders kann es gar nicht sein. Es wäre lächerlich zu erwarten und sinnlos zu glauben, dass aus der auf Ausbeutung gegründeten kapitalistischen Gesellschaft auf einmal das klare Bewusstsein von der Notwendigkeit des Sozialismus und Verständnis für ihn zum Vorschein kommen könnte. Das kann nicht sein. Dieses Bewusstsein bildet sich erst zuletzt und nur durch jenen Kampf heraus, den man während dieser qualvollen Periode durchmachen muss, wo die eine Revolution den anderen vorausgeeilt ist, aber die anderen nicht zu Hilfe kommen, und wo die Hungersnot sich heran wälzt. Natürlich bemächtigt sich da unvermeidlich mancher Schichten der Werktätigen Verzweiflung und Unwillen, kommt eine Stimmung auf, mit einer resignierten Handbewegung alles, was auch kommen möge, hinzunehmen. Und es versteht sich, dass die Konterrevolutionäre, die Gutsbesitzer und Kapitalisten und ihre Hehler und Spießgesellen, diese Situation ausnutzen, um immer neue und neue Vorstöße gegen die sozialistische Staatsmacht zu unternehmen.

Wir sehen, wohin das in allen jenen Städten führte, wo es keine Hilfe durch ausländische Bajonette gab. Wir wissen, dass es nur dann gelang, die Sowjetmacht zu besiegen, wenn die Leute, die so viel Geschrei über Vaterlandsverteidigung und ihren Patriotismus erhoben, ihre kapitalistische Natur offenbarten und anfingen, Abmachungen zu treffen, heute mit den deutschen Bajonetten, um zusammen mit ihnen die ukrainischen Bolschewiki niederzumetzeln, morgen mit den türkischen Bajonetten, um sich auf die Bolschewiki zu werfen, übermorgen mit den tschechoslowakischen Bajonetten, um die Sowjetmacht in Samara zu stürzen und dort die Bolschewiki abzuschlachten. Nur fremdländische Hilfe, nur die Hilfe ausländischer Bajonette, nur die Verschacherung Russlands an japanische, deutsche, türkische Bajonette, nur sie hat bisher den kapitalistischen Kompromisslern und den Gutsbesitzern Erfolg – wenigstens den Schatten eines Erfolges – gebracht. Wir wissen aber, dass jedes Mal, wenn auf dem Boden des Hungers und der Verzweiflung der Massen ein Aufstand dieser Art ausbrach, wenn er ein Gebiet ergriff, wo fremde Bajonette nicht zu Hilfe gerufen werden konnten, wie es in Saratow, Koslow, Tambow der Fall war, die Herrschaft der Gutsbesitzer, der Kapitalisten und ihrer Freunde, die sich das Mäntelchen der schönen Losungen der Konstituante umhängten, nur nach Tagen, wenn nicht nach Stunden zählte. Je weiter entfernt die Sowjettruppen von jenem Zentrum waren, dessen sich die Konterrevolution vorübergehend bemächtigt hatte, desto entschlossener war die Bewegung unter den städtischen Arbeitern, desto mehr Selbständigkeit legten diese Arbeiter und Bauern an den Tag, um Saratow, Pensa, Koslow zu Hilfe zu eilen und die dort errichtete Macht der Konterrevolution unverzüglich zu stürzen.

Genossen, wenn ihr diese Ereignisse vom Standpunkt des Gesamtgeschehens in der Weltgeschichte betrachtet, wenn ihr euch vergegenwärtigt, dass es eure Aufgabe – unsere gemeinsame Aufgabe – ist, sich selber klarzumachen sowie danach zu streben, den Massen klarzumachen, dass dieses außerordentlich große Elend nicht zufällig über uns hereingebrochen ist, sondern infolge des imperialistischen Krieges – das als erstes –, und dann infolge des wütenden Widerstandes der Gutsbesitzer, der Kapitalisten und der Ausbeuter, – wenn wir uns darüber klar werden, dann kann man dafür bürgen, dass diese richtige Erkenntnis, wie schwierig das auch sein mag, immer mehr und mehr in die breiten Massen eindringen wird, dass es uns gelingen wird, die Disziplin herzustellen, die Undiszipliniertheit in unsern Fabriken zu überwinden und dem Volke zu helfen, diese qualvolle, besonders schwere Periode zu überstehen, die sich vielleicht auf ein, zwei Monate, auf die wenigen Wochen erstreckt, die bis zur neuen Ernte verblieben sind.

Ihr wisst, dass heute die Lage bei uns in Russland im Zusammenhang mit dem konterrevolutionären tschechoslowakischen Aufstand, der Sibirien von uns abgeschnitten hat, im Zusammenhang mit den ständigen Empörungen im Süden, im Zusammenhang mit dem Krieg, besonders schwer ist. Aber je schwerer die Lage des Landes ist, über das der Hunger heraufzieht, um so entschiedener, um so härter müssen selbstverständlich unsere Maßnahmen zur Bekämpfung dieser Hungersnot sein. Die grundlegende Kampfmaßnahme ist die Einführung des Getreidemonopols. In dieser Hinsicht wisst ihr alle ausgezeichnet und beobachtet in eurer unmittelbaren Umgebung in der Praxis, wie die Kulaken, die Reichen, auf Schritt und Tritt gegen das Getreidemonopol keifen. Das ist begreiflich, denn dort, wo man das Getreidemonopol vorübergehend aufhob, wie es Skoropadski in Kiew getan hatte, dort erwies sich, dass die Spekulation unerhörte Ausmaße erreichte, dort stieg der Getreidepreis bis auf 200 Rubel für ein Pud. Es ist begreiflich: wenn es an einem Produkt fehlt, ohne das man nicht leben kann, so kann jeder Besitzer dieses Produktes ein reicher Mann werden; die Preise erreichen eine unerhörte Höhe. Begreiflicherweise bewirkt das Entsetzen, die panische Furcht vor dem Hungertod, dass die Preise unerhört hinauf geschraubt werden, und in Kiew musste man erwägen, ob man das Getreidemonopol nicht wieder einführen solle.

Bei uns musste sich die Regierung trotz des ganzen Getreidereichtums Russlands schon längst, noch vor den Bolschewiki, von der Notwendigkeit des Getreidemonopols überzeugen. Gegen dieses Monopol sprechen können nur entweder gänzlich unwissende Leute oder diejenigen, die sich direkt den Interessen des Geldsacks verkauft haben.

Aber, Genossen, wenn wir vom Getreidemonopol sprechen, müssen wir daran denken, welche gewaltigen Schwierigkeiten der Verwirklichung in diesem Wort eingeschlossen sind. Es ist leicht zu sagen: Getreidemonopol, aber man muss sich überlegen, was das bedeutet. Das bedeutet, dass sämtliche Getreideüberschüsse dem Staat gehören; das bedeutet, dass jedes Pud Getreide, das der Bauer in seiner Wirtschaft für den Unterhalt seiner Familie, für sein Vieh, für die Aussaat nicht benötigt, – dass jedes Pud überschüssigen Getreides weggenommen und in die Hände des Staates übergehen muss. Wie soll das gemacht werden? Der Staat muss die Preise festsetzen, jedes überschüssige Pud Getreide muss gefunden und eingebracht werden. Woher soll der Bauer, dessen Bewusstsein die Gutsbesitzer und Kapitalisten jahrhundertelang abgestumpft, den sie ausgeplündert und bis zur Verblödung misshandelt haben, den sie niemals sich satt essen ließen, – woher soll er binnen weniger Wochen oder Monate die Erkenntnis nehmen, was das Getreidemonopol ist; woher kann diese Erkenntnis den Millionen und aber Millionen Menschen kommen, die der Staat bisher nur mit Unterdrückung, nur mit Gewalt, nur mit Beraubung und Ausplünderung durch die Beamten abgespeist hat, diesen Bauern, die in die Finsternis des Dorfes verschlagen und dort zur Verelendung verdammt sind? Woher sollen sie das Verständnis dafür nehmen, was das ist, die Arbeiter- und Bauernmacht, was die Macht in den Händen der Armut ist, was das ist, wenn Getreide, das sich als überschüssig erweist, nicht in die Hände des Staates übergeht, sondern von dem Besitzer zurückgehalten wird, und dass derjenige, der es zurückhält, ein Räuber, ein Ausbeuter ist, dass er an dem qualvollen Hunger der Arbeiter von Petrograd, Moskau usw. Schuld trägt? Woher soll er das wissen, wenn er bisher in Unwissenheit gehalten wurde, wenn es im Dorfe seine Sache war, Getreide nur zu verkaufen woher soll er diese Erkenntnis nehmen? Kein Wunder, wenn wir uns die Frage in ihrer lebendigen Wirklichkeit stellen, wenn wir sie genau betrachten, dass dann vor uns die ganze unglaubliche Schwierigkeit eines solchen Problems ersteht, wie das die Durchführung des Getreidemonopols in einem Lande ist, wo die Mehrheit der Bauern vom Zarismus und von den Gutsbesitzern in Unwissenheit gehalten wurde, in dem Lande einer Bauernschaft, die nach vielen Jahrhunderten das erste Jahr Getreide auf ihrer eigenen Scholle ausgesät hat.

Aber je größer diese Schwierigkeit ist, je größer sie bei einem aufmerksamen und durchdachten Verhalten zur Sache vor uns ersteht, desto klarer müssen wir uns sagen, was wir stets gesagt haben: dass die Befreiung der Arbeiter das Werk der Arbeiter selbst sein muss. Wir sagten stets: die Befreiung der Werktätigen von der Unterdrückung kann nicht von außen gebracht werden; die Werktätigen müssen selbst, durch ihren Kampf, durch ihre Bewegung, ihre Agitation, lernen, die neue geschichtliche Aufgabe zu lösen. Und je schwieriger, je größer, je verantwortungsvoller die neue geschichtliche Aufgabe ist, desto mehr Menschen werden gebraucht, von denen Millionen zur selbständigen Beteiligung an der Lösung dieser Aufgaben herangezogen werden müssen. Um einem beliebigen Kaufmann, einem beliebigen Händler Getreide zu verkaufen, dazu bedarf es keiner Erkenntnis, keinerlei Organisation. Dazu muss man so leben, wie die Bourgeoisie befahl zu leben: man braucht nur als gehorsamer Sklave zu leben und sich die Welt so, wie die Bourgeoisie sie eingerichtet hat, als ausgezeichnet vorzustellen und sie als ausgezeichnet anzuerkennen. Um aber das kapitalistische Chaos zu überwinden, um das Getreidemonopol zu verwirklichen, um zu erreichen, dass jeder Überschuss, jedes überschüssige Pud Getreide dem Staat gehöre, dazu bedarf es einer schweren, langwierigen, mühevollen Organisationsarbeit nicht der Organisatoren, nicht der Agitatoren, sondern der Massen selbst.

Solche Menschen gibt es im russischen Dorf. Die Mehrzahl der Bauern gehört zu den armen und ärmsten Bauern, die nicht mit Getreideüberschüssen, mit überflüssigem Getreide handeln und zu Räubern werden können, zu Räubern, die vielleicht hunderte Pud Getreide zurückhalten, während der andere hungert. Die Lage ist jetzt derart, dass ein jeder Bauer sich vielleicht einen werktätigen Bauern nennt –- manche lieben dieses Wort sehr. Aber werdet ihr denjenigen einen werktätigen Bauern nennen, der hunderte Pud Getreide durch eigene Arbeit, ja selbst ohne Lohnarbeit geerntet hat, der jetzt aber sieht, wenn er diese hunderte Pud zurückhalten wird, so kann er sie dann vielleicht nicht zu je 6 Rubel verkaufen, sondern wird sie einem Spekulanten verkaufen oder einem erschöpften, vom Hunger gequälten städtischen Arbeiter, der mit hungriger Familie daherkommt und 200 Rubel für ein Pud gibt. Ein solcher Bauer, der hunderte Pud verbirgt, der sie zurückhält, um den Preis in die Höhe zu treiben und vielleicht 100 Rubel für das Pud zu erhalten, wird zu einem Ausbeuter, schlimmer als ein Räuber. Was ist in einer solchen Lage zu tun, auf wen können wir uns in unserem Kampfe stützen? Wir wissen, dass die Sowjetrevolution und die Sowjetmacht sich von anderen Revolutionen und von jeder anderen Staatsmacht dadurch unterscheiden, dass sie nicht nur die Macht der Gutsbesitzer und der Kapitalisten gestürzt, nicht nur den fronherrlichen, den absolutistischen Staat zerstört haben; mehr als das: die Massen haben sich gegen alles Beamtentum erhoben, sie haben einen neuen Staat geschaffen, in dem die Macht den Arbeitern und Bauern gehören muss und nicht nur gehören muss, sondern schon gehört. In diesem Staat gibt es keine Polizei, kein Beamtentum, gibt es auch kein stehendes Heer, das für lange Jahre in Kasernen gesperrt, vom Volk isoliert und dazu gedrillt würde, aufs Volk zu schießen.

Wir bewaffnen die Arbeiter und Bauern, die das Waffenhandwerk erlernen sollen. Es gibt Abteilungen, die der Versuchung, dem Laster und dem Verbrechen erliegen, weil sie von der Welt der Unterdrückung, der Welt des Hungers, der Welt, wo der Satte sich an seiner Sattheit bereichern will, durch keine chinesische Mauer getrennt sind. Wir beobachten daher auf Schritt und Tritt die Erscheinung, dass klassenbewusste Arbeiter, die in Abteilungen Petrograd und Moskau verlassen, in der Provinz oft auf Abwege geraten, zu Verbrechern werden. Und wir beobachten, wie die Bourgeoisie Beifall klatscht und in den Spalten ihrer käuflichen Presse das Volk auf jede Art zu schrecken sucht: schaut, so sehen eure Abteilungen aus, was ist das für eine Unordnung, um wie viel besser waren doch die Abteilungen der Privatkapitalisten!

Besten Dank, ihr Herren Bourgeois! Nein, ihr werdet uns nicht ins Bockshorn jagen! Ihr wisst sehr gut, dass man die Übel und Eiterbeulen des Kapitalismus nicht auf einmal heilen kann. Und wir wissen, dass Heilung nur im Kampf kommt. Wir werden jeden solchen Fall zur Sprache bringen, nicht aus Bosheit, und nicht um dem konterrevolutionären Lächeln der Menschewiki und Kadetten Vorschub zu leisten, sondern um breitere Volksmassen zu belehren. Falls unsere Abteilungen ihrer Bestimmung nicht entsprechen, so gebt Abteilungen aus klassenbewussteren Arbeitern, Abteilungen, die größer sind in Bezug auf die Zahl der Arbeiter, die ihrer Klasse ergeben sind, deren Anzahl um ein Vielfaches die Zahl derjenigen übersteigt, die der Versuchung erlegen sind. Diese Abteilungen muss man organisieren. Die unaufgeklärten Werktätigen, Ausgebeuteten, Hungernden muss man aufklären, muss sie um jeden klassenbewussten Arbeiter zusammenschließen. Man muss die Dorfarmut aufrütteln, muss sie aufklären, muss ihr zeigen, dass die Sowjetmacht zu ihrer Unterstützung alles nur mögliche geben und tun wird, nur um das Getreidemonopol zu verwirklichen.

Und nun, als wir an diese Aufgabe herantraten, als die Sowjetmacht klar diese Fragen aufrollte, da erklärte sie: Genossen Arbeiter, organisiert euch; schließt die Kräfte, die Lebensmittel beschaffen, zusammen; bekämpft jeden Fall, wo solche Abteilungen sich nicht auf der Höhe ihrer Aufgabe erweisen; organisiert euch fester, beseitigt eure Mängel, schließt die Dorfarmut um euch zusammen. Die Kulaken wissen, dass ihr letztes Stündlein schlägt, wenn der Gegner nicht nur mit Predigten, mit Worten und Phrasen anrückt, sondern mit der Organisierung der Dorfarmut. Wenn wir die Dorfarmut organisieren, so werden wir über die Kulaken den Sieg davontragen. Die Kulaken wissen, dass jetzt der Augenblick des entscheidendsten, des allerletzten, des verzweifeltsten Kampfes um den Sozialismus kommt. Es könnte scheinen, als sei das nur ein Kampf um das Brot, aber in Wirklichkeit ist das der Kampf um den Sozialismus. Wenn die Arbeiter lernen werden, diese Aufgaben selbständig zu lösen – niemand wird ihnen zu Hilfe kommen –, wenn sie lernen werden, die Dorfarmut um sich zusammenzuschließen, dann werden wir auch siegen, dann wird es auch Brot, auch eine richtige Verteilung des Brotes, ja sogar eine richtige Verteilung der Arbeit geben, weil wir durch richtige Brotverteilung zu Herrschern über alle Gebiete der Arbeit, in allen Zweigen der Industrie werden.

Und eben weil die Kulaken das voraussahen, versuchten sie wiederholt, die Dorfarmut zu bestechen. Sie wissen, dass man dem Staat das Getreide für sechs Rubel je Pud verkaufen muss. Sie verkaufen es dem Nachbarn, einem verarmten Bauern, für drei Rubel und sagen ihm: „Du kannst zu den Spekulanten gehen und es ihnen für 40 Rubel verkaufen; wir haben die gleichen Interessen, wir müssen gegen den Staat, der uns ausplündert, zusammenhalten; man will uns nur sechs Rubel geben, nimm drei Pud, und du kannst, sagen wir, 60 Rubel gewinnen; was ich aber gewinne, brauchst du nicht zu wissen, das ist meine Sache."

Eben auf diesem Boden – ich weiß es – kommt es häufig bis zu bewaffneten Konflikten mit den Bauern, und die Feinde der Sowjetmacht grinsen darob schadenfroh und machen alle Anstrengungen, um die Sowjetmacht zu stürzen. Wir aber sagen: das kommt daher, weil unsere Abteilungen nicht bewusst genug vorgingen, aber je größer die Abteilungen waren, desto öfter sah man – und das hat man wiederholt beobachtet –, dass man das Getreide ohne einen einzigen Fall der Gewaltanwendung hergab, weil klassenbewusste Arbeiter im Auge behalten, dass sie keine Gewalttäter sind. Ihre Hauptkraft liegt darin, dass sie die Vertreter der organisierten, der aufgeklärten Armut sind, während im Dorf die Masse in Finsternis lebt, die Armut unaufgeklärt ist. Wenn man versteht, an sie heranzukommen, wenn man mit ihnen nicht in gelehrter Büchersprache spricht, sondern ihnen einfach, menschlich erklärt, dass in Petrograd, in Moskau, in Dutzenden von Kreisen die Menschen hungern, dem Hungertyphus verfallen, dass Zehntausende russischer Bauern und Arbeiter Hungers sterben, dass die Reichen das Getreide zu Unrecht zurückgehalten und auf den Hunger des Volkes spekuliert haben, dann wird es gelingen, die Dorfarmut zu organisieren und zu erreichen, dass die Getreideüberschüsse eingezogen werden, und dass das nicht durch Gewaltanwendung getan werden wird, sondern durch Organisierung der Dorfarmut. Ich habe Gelegenheit, von Genossen, die mit Abteilungen für die Beschaffung von Lebensmitteln in die Dörfer gehen und mit der Konterrevolution kämpfen, häufiger Berichte gegen die Kulaken zu hören. Ich möchte das Beispiel anführen, das deshalb besonders lebendig in meinem Gedächtnis ist, weil ich erst gestern Gelegenheit hatte zu hören, was sich im Kreise Jelez begeben hat. Dank der Organisation des Sowjets und dank dessen, dass sich dort klassenbewusste Arbeiter und arme Bauern in genügender Anzahl gefunden hatten, gelang es, die Macht der Armen fest zu begründen. Als mir die Vertreter des Kreises Jelez zum ersten Mal Bericht erstatteten, glaubte ich ihnen nicht, ich dachte, die Leute schneiden ein wenig auf, aber Genossen, die aus Moskau in andere Gouvernements speziell gesandt waren, bestätigten mir, man könne ihre Organisation der Arbeit nur begrüßen; sie bestätigten, dass es in Russland solche Kreise gebe, wo die örtlichen Sowjets sich auf der Höhe ihrer Aufgabe erwiesen, da sie es verstanden hätten, die vollständige Beseitigung der Kulaken und Ausbeuter aus den Sowjets zu erreichen und die Werktätigen, die Armut zu organisieren. Wer seinen Reichtum zur Profitmacherei benutzt, der soll sich von der Sowjetmacht wegscheren!

Als sie die Kulaken vertrieben hatten, zogen sie nach Jelez, einer Handelsstadt, und dort warteten sie nicht erst auf ein Dekret, um das Getreidemonopol zu verwirklichen, denn sie waren dessen eingedenk, dass die Sowjets eine Macht sind, die dem Volke nahesteht, dass jeder, sofern er ein Revolutionär, ein Sozialist ist, der wirklich auf Seiten der Werktätigen steht, rasch und entschlossen handeln muss. Sie organisierten alle Arbeiter und armen Bauern und stellten so viele Abteilungen zusammen, dass in der ganzen Stadt Jelez Haussuchungen vorgenommen werden konnten. Sie ließen nur die Bevollmächtigten und die verantwortlichen Führer der Abteilungen in die Häuser hinein; keinen einzigen, der nicht ihr volles Vertrauen besaß, ließen sie die Häuser betreten, denn sie wussten, wie oft Schwankungen vorkommen, sie wussten, dass der Sowjetmacht nichts solche Schande bereitet wie Fälle von Plünderung durch Vertreter und unwürdige Diener der Sowjetmacht. Sie erreichten, dass gewaltige Getreideüberschüsse aufgebracht wurden, dass in der ganzen Handelsstadt Jelez kein Haus blieb, wo die Bourgeoisie aus der Spekulation hätte Vorteile ziehen können.

Gewiss, ich weiß, dass so etwas in einer kleinen Stadt viel leichter zu machen ist als in einer Stadt wie Moskau, aber man darf auch nicht vergessen, dass es in keiner Kreisstadt solche proletarischen Kräfte geben kann wie sie in Moskau vorhanden sind.

In Tambow hatte vor kurzem die Konterrevolution für einige Stunden gesiegt. Sie gab sogar eine menschewistische und rechts-sozialrevolutionäre Zeitungsnummer heraus, in der sie zur Konstituierenden Versammlung, zum Sturz der Sowjetmacht aufrief und davon sprach, wie stabil der Sieg der neuen Macht sei – bis aus dem Landkreis Rotarmisten und Bauern kamen, die binnen einem Tage die neue, „stabile", sich angeblich auf die Konstituierende Versammlung stützende Macht verjagten.

Ähnlich, Genossen, lagen die Dinge auch in anderen Kreisen des Gouvernements Tambow, eines Gouvernements von gewaltigem Umfang. Seine nördlichen Kreise reichen bis an die nichtlandwirtschaftliche Zone, die südlichen sind außergewöhnlich fruchtbar; dort ist die Ernte sehr groß. Dort gibt es viele Bauern, die Getreideüberschüsse haben, und man muss verstehen, dort mit besonderer Energie und mit besonders festem, klarem Bewusstsein an die Sache heranzugehen, um gestützt auf die armen Bauern die Kulaken zu überwältigen. Dort sind die Kulaken jeder Arbeiter- und Bauernmacht gegenüber feindlich gesinnt, dort ist man genötigt, die Unterstützung der Petrograder und Moskauer Arbeiter abzuwarten. Sie, die sich auf die Waffe ihrer Organisiertheit stützen, verjagen jedes Mal die Kulaken aus den Sowjets, organisieren die Dorfarmut und machen zusammen mit der örtlichen Bauernschaft die Erfahrung des Kampfes für das staatliche Getreidemonopol durch, die Erfahrung bei der Organisation der Dorfarmut und der Werktätigen der Städte, dieser Organisation, die uns den letzten, vollen Sieg bringen wird. Hier, Genossen, habe ich mir erlaubt, euch an Hand dieser Beispiele zu schildern, wie die Dinge in Bezug auf die Verpflegung liegen, weil mir scheint, dass vom Standpunkt der Werktätigen eine Charakteristik des Kampfes um das Getreide gegen die Kulaken für uns, für die Arbeiter, für das klassenbewusste Proletariat wichtig ist nicht durch die einzelnen zahlenmäßigen Berechnungen über die Millionen Pud Getreide, die wir erhalten können. Das muss ich den Fachleuten im Verpflegungswesen überlassen. Ich muss sagen: wenn es gelänge, die Getreideüberschüsse aus den Gouvernements zu bekommen, die an das Moskauer Getreidezuschuss-Gebiet sowie an das getreidereiche Sibirien grenzen, so würden wir selbst da für diese schweren Wochen, die uns bis zur neuen Ernte geblieben sind, genügend Getreide finden, um die hungernden Getreidezuschuss-Gouvernements vor dem Hungertode zu retten. Zu diesem Zweck muss man eine noch größere Zahl klassenbewusster, fortgeschrittener Arbeiter organisieren. Das ist eine grundlegende Lehre aller früheren Revolutionen, das ist eine grundlegende Lehre auch unserer Revolution. Je größer die Organisation sein wird, je breiter sie in Erscheinung treten wird, je besser die Arbeiter der Fabriken und Werke begreifen werden, dass ihre Stärke nur darin liegt, dass sie sich und die Dorfarmut organisieren, desto besser wird es um die Sache des Kampfes gegen den Hunger und um die Sache des Kampfes für den Sozialismus bestellt sein; denn – ich wiederhole – unsere Aufgabe ist es nicht, eine neue Macht auszuklügeln, sondern jeden armen Bauern im entlegensten Dorf aufzurütteln, aufzuklären, zu selbständigem Handeln zu organisieren. Einigen klassenbewussten städtischen Arbeitern aus Petrograd und Moskau sollte es nicht schwerfallen, selbst im entlegensten Dorf den Leuten klarzumachen, wie unrecht es ist, Getreide zurückzuhalten, damit zu spekulieren, Fusel daraus zu brennen, während in Moskau Hunderttausende zugrunde gehen. Um das zu erreichen, müssen die Petrograder und Moskauer Arbeiter, müsst ganz besonders ihr, Genossen, Vertreter der Betriebskomitees, Vertreter der verschiedensten Berufe, Fabriken und Werke, euch nur darüber klar werden und es euch fest einprägen, dass euch niemand zu Hilfe kommen wird, dass aus einer anderen Klasse keine Helfer, sondern Feinde zu euch kommen, dass die Sowjetmacht keine ihr treu ergebene Intelligenz in ihren Diensten hat. Die Intelligenz stellt ihre Erfahrungen und ihr Wissen — das höchste Gut des Menschen — in den Dienst der Ausbeuter und nutzt alles aus, um uns den Sieg über die Ausbeuter zu erschweren; sie wird es so weit bringen, dass Hunderttausende verhungern werden, aber sie wird den Widerstand der Werktätigen nicht brechen. Wir haben niemanden außer der Klasse, mit der wir die Revolution vollbracht haben, mit der wir durch die uns bevorstehenden allergewaltigsten Schwierigkeiten und allerschwersten Zeiten hindurchgehen werden: die Industriearbeiterschaft, das städtische und ländliche Proletariat, das untereinander eine allen verständliche Sprache spricht, das in Stadt und Land alle Feinde — die Kulaken und die Reichen — zu besiegen verstehen wird.

Aber um das zu schaffen, muss man dessen eingedenk sein, wie oft Arbeiter den wichtigsten Grundsatz der sozialistischen Revolution vergessen: um die sozialistische Revolution zustande zu bringen, um sie zu vollbringen, um das Volk von der Unterdrückung zu befreien, dazu muss man die Klassen aufheben, die klassenbewussten, die bestorganisierten Arbeiter müssen die Macht in ihre Hände nehmen. Die Arbeiter müssen im Staat zur herrschenden Klasse werden. Das ist eine Wahrheit, die die meisten von euch schon in dem vor mehr als 70 Jahren verfassten, in allen Ländern und Sprachen bekannten „Kommunistischen Manifest“ von Marx und Engels gelesen haben. Überall trat die Wahrheit zutage: um die Kapitalisten zu besiegen, ist es nötig, dass für die Zeit des Kampfes gegen die Ausbeutung, solange noch Unwissenheit herrscht, solange man noch nicht an die neue Ordnung glaubt, die organisierten, städtischen Industriearbeiter die herrschende Klasse sind. Wenn ihr euch in euren Betriebskomitees versammelt, um über eure Angelegenheiten zu entscheiden, so seid dessen eingedenk, dass die Revolution keine einzige ihrer Errungenschaften behaupten kann, wenn ihr euch in euren Betriebskomitees mit technischen Fragen oder mit den rein finanziellen Interessen der Arbeiter beschäftigen werdet. Schon mehr als einmal ist es den Arbeitern und den unterdrückten Klassen gelungen, die Macht zu ergreifen, aber noch niemals ist es ihnen gelungen, diese Macht zu behaupten. Dazu ist es nötig, dass die Arbeiter nicht nur über die Fähigkeit verfügen, sich zum heldenhaften Kampf zu erheben und die Ausbeutung abzuschütteln, sondern sie müssen auch zu Organisation, Disziplin und Ausdauer fähig sein, sie müssen urteilsfähig sein, wenn ringsum alles wankt und schwankt, wenn man überfallen wird, wenn zahllose unsinnige Gerüchte durch die Luft schwirren. Eben in solchen Zeiten liegt auf den Betriebskomitees, die in allen Dingen eng mit der breiten Millionenmasse verbunden sind, die gewaltige staatliche Aufgabe, in erster Linie zu einem Organ zur Lenkung des Staatslebens zu werden. Das ist die grundlegende Staatsfrage der Sowjetmacht: wie sollen wir eine richtige Getreideverteilung sicherstellen. Hat Jelez es vermocht, die örtliche Bourgeoisie zu bändigen, so ist das in Moskau wohl schwerer durchzuführen, aber hier ist die Organisation unvergleichlich größer, und hier könnt ihr leichter Zehntausende ehrlicher Menschen auftreiben, die eure Parteiorganisationen, eure Gewerkschaften euch zur Verfügung stellen und für die sie gutstehen können, Menschen, die imstande sein werden, Abteilungen zu führen mit voller Verantwortung dafür, dass sie trotz aller Schwierigkeiten, trotz aller Lockungen und ungeachtet aller Hungerqualen der Idee treu ergebene Menschen bleiben. Eine andere Klasse, die heute dieses Werk in Angriff nehmen könnte, die fähig wäre, das häufig der Verzweiflung anheimfallende Volk zu führen, eine andere Klasse, außer dem städtischen Industrieproletariat, gibt es nicht. Eure Betriebskomitees müssen aufhören, nur Betriebskomitees zu sein, sie müssen zu den staatlichen Grundzellen der herrschenden Klasse werden. Von eurer Organisiertheit, von eurer Geschlossenheit, von eurer Energie hängt es ab, ob wir die schwere Übergangszeit so standhaft ertragen werden, wie die Sowjetmacht sie ertragen soll. Geht selber ans Werk, nehmt es von allen Seiten in Angriff, enthüllt Tag für Tag die Missbräuche, korrigiert auf Grund eigener Erfahrung jeden begangenen Fehler – ihrer werden jetzt viele gemacht, denn die Arbeiterklasse ist noch unerfahren –, aber wichtig ist, dass die Arbeiterklasse selbst die Sache in die Hand nehme, dass sie selber ihre Fehler korrigiere. Wenn wir so handeln werden, wenn jedes Betriebskomitee begreifen wird, dass es ein Führer der größten Revolution der Welt ist, dann werden wir den Sozialismus für die ganze Welt erobern!

Kommentare