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Wladimir I. Lenin 19180107 Die durch den Zusammenbruch des Alten Verängstigten und die Kämpfer für das Neue

Wladimir I. Lenin: Die durch den Zusammenbruch des Alten Verängstigten und die Kämpfer für das Neue

[Abgefasst am 7.–10. Januar 1918 (25.–28. Dezember 1917) Zum ersten Mal veröffentlicht in „Prawda" Nr. 18 22. Januar 1929 Gezeichnet: Lenin. Nach Sämtliche Werke, Band 22 1934, S. 155-159]

Die Bolschewiki sind bereits zwei Monate an der Macht, und anstatt eines sozialistischen Paradieses sehen wir eine Hölle des Chaos, des Bürgerkrieges und eine noch größere Zerrüttung." So schreiben, sprechen und denken die Kapitalisten zusammen mit ihren bewussten und halb bewussten Anhängern.

Die Bolschewiki sind kaum zwei Monate an der Macht – antworten wir darauf – und doch ist bereits ein gewaltiger Schritt vorwärts zum Sozialismus getan worden. Das sieht derjenige nicht, der es nicht sehen will oder es nicht versteht, die historischen Ereignisse in ihrem Zusammenhang zu würdigen. Man will nicht sehen, dass im Laufe von wenigen Wochen die undemokratischen Einrichtungen in der Armee, auf dem Lande, in den Betrieben, fast vollständig zerstört worden sind. Aber einen anderen Weg zum Sozialismus als den Weg über eine solche Zerstörung gibt es nicht und kann es nicht geben. Man will nicht sehen, dass im Laufe von wenigen Wochen an die Stelle der imperialistischen Verlogenheit in der Außenpolitik, die den Krieg in die Länge zieht und den Raub und die Eroberung durch Geheimverträge verhüllt, eine wirklich revolutionäre, demokratische Politik für einen wirklich demokratischen Frieden getreten ist, die bereits einen so bedeutenden praktischen Erfolg gebracht hat, wie den Waffenstillstand und die hundertfache Steigerung der propagandistischen Kraft unserer Revolution. Man will nicht sehen, dass mit der Durchführung der Arbeiterkontrolle und der Nationalisierung der Banken begonnen worden ist. Das aber sind gerade die ersten Schritte zum Sozialismus.

Die historische Perspektive vermögen diejenigen nicht zu verstehen, die erdrückt sind von der Routine des Kapitalismus, die betäubt sind durch den gewaltigen Zusammenbruch des Alten, durch das Krachen und Bersten, durch das „Chaos" (das scheinbare Chaos) der auseinander fallenden, einstürzenden, Jahrhunderte alten Gebäude des Zarismus und der Bourgeoisie, die verängstigt sind durch die äußerste Verschärfung des Klassenkampfes, durch sein Umschlagen in den Bürgerkrieg, in den einzig rechtmäßigen, gerechten, heiligen Krieg, nicht im Sinne der Pfaffen, sondern im menschlichen Sinne des Wortes, in den heiligen Krieg der Unterdrückten gegen die Unterdrücker, für den Sturz dieser Unterdrücker, für die Befreiung der Werktätigen von jeder Unterdrückung. Im Grunde genommen lassen sich alle diese erschrockenen, betäubten, verängstigten Bourgeois, Kleinbourgeois und „Kommis der Bourgeoisie", oft ohne sich dessen selbst bewusst zu sein, von jener alten, naiven, sentimentalen, trivialen Vorstellung der Intellektuellen von der „Einführung des Sozialismus" leiten, die sie „vom Hören-Sagen" sich angeeignet haben, wobei sie Bruchstücke der sozialistischen Lehre herausgreifen, die Entstellungen dieser Lehre durch Ignoranten und Halbgebildete wiederholen und uns Marxisten den Gedanken und sogar den Plan einer „Einführung" des Sozialismus zuschreiben.

Uns Marxisten sind solche Gedanken, geschweige denn Pläne fremd. Wir haben stets gewusst, erklärt, wiederholt, dass man den Sozialismus nicht „einführen" kann, dass er im Laufe des angespanntesten, schärfsten, wildesten, verzweifeltsten Klassenkampfes und Bürgerkrieges entsteht, dass zwischen dem Kapitalismus und Sozialismus eine lange Periode der „Geburtswehen" liegt, dass die Gewalt stets die Hebamme der alten Gesellschaft war, dass der Übergangsperiode von der bürgerlichen zur sozialistischen Gesellschaft ein besonderer Staat entspricht (d. h. ein besonderes System der organisierten Gewalt über eine bestimmte Klasse), nämlich: die Diktatur des Proletariats. Die Diktatur des Proletariats aber setzt voraus und bedeutet einen Zustand des latenten Krieges, einen Zustand militärischer Kampfmaßnahmen gegen die Feinde der proletarischen Staatsmacht. Die Kommune war die Diktatur des Proletariats, und Marx und Engels haben der Kommune vorgeworfen, haben für eine der Ursachen ihres Unterganges den Umstand gehalten, dass sie ihre bewaffnete Macht nicht energisch genug zur Unterdrückung des Widerstandes der Ausbeuter ausgenutzt hat.

Im Grunde genommen ist dieses ganze Intellektuellengeschrei über die Unterdrückung des Widerstandes der Kapitalisten nichts anderes als eine Äußerung des alten „Kompromisslertums", wenn man „höflich" sein will. Wenn man aber mit proletarischer Offenheit sprechen will, so muss man sagen: die fortdauernde Kriecherei vor dem Geldsack – das ist der wirkliche Grund für das Geschrei gegen die jetzige Anwendung der Gewalt (leider noch allzu schwach und nicht energisch genug) durch die Arbeiter gegen die Bourgeoisie, gegen die Saboteure, gegen die Konterrevolutionäre. „Der Widerstand der Kapitalisten ist gebrochen"74, verkündete der gute Pjeschechonow, der Minister der Kompromissler, im Juni 1917. Dieser gute Mann hatte nicht einmal eine Ahnung davon, dass der Widerstand wirklich gebrochen werden muss, dass er gebrochen werden wird, dass eben dieses Brechen des Widerstandes wissenschaftlich als Diktatur des Proletariats bezeichnet wird, dass eine ganze historische Epoche charakterisiert wird durch die Unterdrückung des Widerstandes der Kapitalisten, und folglich durch die systematische Gewaltanwendung gegen eine ganze Klasse (die Bourgeoisie), gegen ihre Helfershelfer.

Habgier, schmutzige, giftige, tolle Habgier des Geldsacks. Verängstigung und Speichelleckerei seiner Kostgänger – das ist die wirkliche soziale Grundlage des jetzigen Geheuls der kläglichen Intellektuellen von der „Rjetsch" bis zur „Nowaja Schisn" gegen die Gewaltanwendung durch das Proletariat und die revolutionäre Bauernschaft. Das ist die objektive Bedeutung ihres Geheuls, ihres elenden Gestammels, ihres komödiantenhaften Geschreis von der „Freiheit" (der Freiheit der Kapitalisten, die Völker zu unterdrücken) usw. usw. Sie wären „bereit", den Sozialismus anzuerkennen, wenn die Menschheit auf einmal, durch einen effektvollen Sprung zum Sozialismus käme, ohne Reibungen, ohne Kampf, ohne Zähneknirschen der Ausbeuter, ohne mannigfache Versuche der Ausbeuter, die alte Ordnung zu verteidigen oder sie auf Umwegen, unmerklich, wiederherzustellen, ohne immer neue „Antworten" der revolutionären proletarischen Gewalt auf solche Versuche. Diese intellektuellen Kostgänger der Bourgeoisie wären „bereit", den Pelz zu waschen, wie es in einem bekannten deutschen Sprichwort heißt, aber nur dann, wenn der Pelz immer trocken bliebe.

Wenn die Bourgeoisie und die Beamten, die daran gewöhnt sind, ihr zu dienen, die Angestellten, die Ärzte, die Ingenieure u. a. zu den schärfsten Widerstandsmaßnahmen greifen, so ruft das das Entsetzen dieser kläglichen Intellektuellen hervor. Sie zittern vor Angst und erheben ein noch lauteres Gekreisch über die Notwendigkeit der Rückkehr zur „Kompromisspolitik". Uns und alle aufrichtigen Freunde der unterdrückten Klasse können die scharfen Widerstandsmaßnahmen der Ausbeuter nur freuen, denn das Proletariat wird nicht durch Abmachungen und Überredungen, nicht in der Schule der süßlichen Predigten oder lehrreichen Deklamationen, sondern in der Schule des Lebens,, in der Schule des Kampfes heranreifen. Um zur herrschenden Klasse zu werden und die Bourgeoisie endgültig zu besiegen, muss das Proletariat lernen, denn auf einmal kann es sich diese Fähigkeit nicht erwerben. Und lernen muss man im Kampfe. Nur durch ernsten, hartnäckigen, verzweifelten Kampf kann man lernen. Je schärfer der Widerstand der Ausbeuter ist, desto energischer, fester, erbarmungsloser, erfolgreicher die Unterdrückung dieses Widerstandes durch die Ausgebeuteten. Je mannigfaltiger die Versuche und Bestrebungen der Ausbeuter, die alte Ordnung zu verteidigen, sein werden, desto schneller wird das Proletariat es lernen, seine Klassenfeinde aus ihren letzten Schlupfwinkeln zu vertreiben, die Wurzeln ihrer Herrschaft auszurotten, den eigentlichen Boden zu beseitigen, auf dem die Lohnknechtschaft, das Elend der Massen, die Bereicherung und die Niedertracht des Geldsacks gedeihen konnten (und mussten).

In dem Maße, wie der Widerstand der Bourgeoisie und ihrer Kostgänger wächst, wächst die Kraft des Proletariats und der sich ihm anschließenden Bauernschaft. Die Ausgebeuteten erstarken, reifen heran, wachsen, lernen, werfen den „alten Adam" der Lohnsklaverei von sich in dem Maße, wie der Widerstand ihrer Feinde, der Ausbeuter, wächst. Den Sieg werden die Ausgebeuteten davontragen, denn auf ihrer Seite ist das Leben, die zahlenmäßige Stärke die Stärke der Masse, die Macht der unerschöpflichen Quellen alles Selbstlosen, Ideellen, Ehrlichen, Vorwärtsstrebenden, zum Aufbau eines neuen Erwachenden, jenes ganzen gewaltigen Reservoirs der Energie und Talente des sogenannten „gemeinen Volkes", der Arbeiter und Bauern. Ihnen wird der Sieg gehören.

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