Lenin‎ > ‎1918‎ > ‎

Wladimir I. Lenin 19180311 Die Hauptaufgabe unserer Tage

Wladimir I. Lenin: Die Hauptaufgabe unserer Tage

[Abgefasst am 11. März 1918, „Iswestija" Nr. 46, 12. März 1918. Gezeichnet: N. Lenin. Nach Sämtliche Werke, Band 22, Zürich 1934, S. 412-417]

Du bist armselig und reich

Mächtig und ohnmächtig zugleich

Mütterchen Russland!1

Die Geschichte der Menschheit macht in unseren Tagen eine der größten, schwierigsten Wendungen, die von ungeheurer, – man kann ohne die geringste Übertreibung sagen – von weltgeschichtlicher Bedeutung für die Freiheitsbewegung ist. Die Wendung vom Krieg zum Frieden; vom Krieg zwischen Räubern, die Millionen Ausgebeuteter und Werktätiger auf die Schlachtbank schicken, um eine neue Art der Aufteilung der von den mächtigsten Räubern zusammengeraubten Beute festzusetzen, zum Krieg der Unterdrückten gegen die Unterdrücker, für die Befreiung vom Joch des Kapitals; von dem Abgrund der Leiden, Qualen, des Hungers, der Verwilderung zur lichten Zukunft der kommunistischen Gesellschaft, des allgemeinen Wohlstands und des dauernden Friedens. Kein Wunder, dass an den schwierigsten Punkten dieser scharfen Wendung, wo ringsum das Alte unter entsetzlichem Donnern und Krachen erschüttert wird und zusammenbricht, während daneben das Neue unter unerhörten Qualen entsteht, mancher schwindlig wird, von Verzweiflung erfasst wird, mancher vor der mitunter allzu bitteren Wirklichkeit unter den Fittichen der schönen, hinreißenden Phrasen Schutz sucht.

Russland hat die schärfsten Wendungen der Geschichte, die vom Imperialismus zur kommunistischen Revolution umschwenkt, besonders deutlich beobachtet, besonders schwer und qualvoll durchlebt. Wir haben in einigen wenigen Tagen eine der ältesten, mächtigsten, barbarischsten und bestialischsten Monarchien zerstört. Wir haben in einigen wenigen Monaten eine Reihe von Etappen der Kompromisspolitik mit der Bourgeoisie, der Überwindung der kleinbürgerlichen Illusionen zurückgelegt, wozu andere Länder Jahrzehnte brauchten. Wir haben nach dem Sturz der Bourgeoisie im Laufe von einigen Wochen ihren offenen Widerstand im Bürgerkrieg gebrochen. Der Bolschewismus hat einen Triumphzug durch das ganze gewaltige Land zurückgelegt. Wir haben die untersten der vom Zarismus und der Bourgeoisie unterdrückten Schichten der werktätigen Massen zur Freiheit und zum selbständigen Leben emporgehoben. Wir haben die Sowjetrepublik geschaffen und gefestigt, einen neuen Staatstypus, der unendlich höher und demokratischer ist als die besten der bürgerlich-parlamentarischen Republiken. Wir haben die Diktatur des Proletariats errichtet, die von der armen Bauernschaft unterstützt wird, und haben ein großzügig durchdachtes System der sozialistischen Umgestaltung in Angriff genommen. Wir haben in Millionen und aber Millionen Arbeitern aller Länder den Glauben an ihre eigenen Kräfte geweckt und das Feuer der Begeisterung entzündet. Wir haben überall den Schlachtruf der internationalen Arbeiterrevolution ausgeben. Wir haben den imperialistischen Räubern aller Länder den Fehdehandschuh hingeworfen.

Und im Laufe von einigen Tagen hat uns ein imperialistischer Räuber, der über Wehrlose hergefallen ist, zu Boden geworfen. Er hat uns gezwungen, einen unerhört schweren und erniedrigenden Frieden zu schließen – ein Tribut dafür, dass wir es wagten, uns, wenn auch nur auf ganz kurze Zeit, den eisernen Klauen des imperialistischen Krieges zu entwinden. Der Räuber drosselt und würgt Russland, reißt es in Stücke, mit um so größerer Wut, je drohender sich vor ihm das Gespenst der Arbeiterrevolution im eigenen Lande erhebt.

Wir waren gezwungen, einen „Tilsiter" Frieden zu unterzeichnen. Wir dürfen uns keiner Selbsttäuschung hingeben. Wir müssen den Mut haben, der ungeschminkten bitteren Wahrheit gerade ins Antlitz zu schauen. Wir müssen jenen Abgrund der Niederlage, der Zerstückelung, Versklavung, Erniedrigung, in den man uns jetzt gestoßen hat, bis auf den Grund ausmessen. Je klarer wir das verstehen, desto fester, härter, stählerner wird unser Wille zur Befreiung sein, unser Streben, sich aus der Versklavung von neuem zur Selbständigkeit zu erheben, unsere unerschütterliche Entschlossenheit, um jeden Preis zu erreichen, dass Russland aufhöre, ein armseliges und ohnmächtiges Land zu sein, dass es im vollen Sinne des Wortes ein mächtiges und reiches Land werde.

Russland kann es werden, denn wir haben trotzdem genug Raum und Naturschätze behalten, um alle und jeden, wenn auch nicht mit einer reichlichen, so doch mit einer ausreichenden Menge von Mitteln zum Leben zu versorgen. Wir haben sowohl in den Naturschätzen als auch in den Reserven an menschlichen Kräften, als auch in dem herrlichen Elan, den die große Revolution der schöpferischen Kraft des Volkes verliehen hat, die Voraussetzung, um ein wirklich mächtiges und reiches Russland zu schaffen.

Russland wird ein solches Land werden, wenn es allen Kleinmut, alle Phrasen abstreift, wenn es die Zähne zusammenbeißt und alle seine Kräfte zusammennimmt, wenn es jeden Nerv anstrengt, jede Muskel spannt, wenn es begreift, dass die Rettung nur auf dem Wege der internationalen Revolution möglich ist, den wir beschritten haben. Auf diesem Wege voranzuschreiten, durch Niederlagen nicht kleinmütig zu werden, Stein um Stein zusammenzutragen für ein festes Fundament der sozialistischen Gesellschaft, an der Schaffung der Disziplin und Selbstdisziplin, an der allgemeinen Stärkung der Organisation, der Ordnung, der Sachlichkeit, des harmonischen Zusammenwirkens der Volkskräfte, der allgemeinen Rechnungslegung und Kontrolle über die Produktion und die Verteilung der Produkte rastlos zu arbeiten – das ist der Weg zur Schaffung einer militärischen Macht und einer sozialistischen Macht.

Es ist eines wirklichen Sozialisten unwürdig, sich aufzublasen oder in Verzweiflung zu geraten, wenn er eine schwere Niederlage erlitten hat. Es ist nicht wahr, dass uns kein Ausweg bleibt und dass wir nur zwischen einem „ruhmlosen" (vom Standpunkt eines Schlachtschitzen) Untergang, den der schwere Frieden darstellt, und einem „ruhmvollen" Untergang in einem aussichtslosen Kampf zu wählen haben. Es ist nicht wahr, dass wir unsere Ideale oder unsere Freunde durch die Unterzeichnung des „Tilsiter" Friedens verraten haben. Wir haben niemand und nichts verraten, wir haben keine einzige Lüge gerechtfertigt oder bemäntelt, wir haben keinen einzigen Freund und Genossen im Unglück in Stich gelassen, haben geholfen, womit wir nur konnten, mit allen Mitteln, die uns zur Verfügung standen. Der Heerführer, der die Reste eines geschlagenen oder von panischem Schrecken erfassten Heeres in das Innere des Landes zurückführt, der diesen Rückzug schützt, im äußersten Falle sogar mit einem sehr schweren und erniedrigenden Frieden, begeht keinen Verrat an denjenigen Truppenteilen, denen er nicht helfen kann und die vom Feinde abgeschnitten worden sind. Ein solcher Heerführer erfüllt nur seine Pflicht, wenn er den einzigen Weg wählt, um zu retten, was noch zu retten ist, sich nicht auf Abenteuer einlässt, dem Volke die bittere Wahrheit nicht beschönigt, der „Raum aufgibt, um Zeit zu gewinnen", der jede, auch die geringste Atempause ausnützt, um Kräfte zu sammeln, um der Armee, die an Zersetzung und Demoralisierung erkrankt ist, die Möglichkeit zu geben, sich zu erholen und zu gesunden.

Wir haben einen „Tilsiter" Frieden unterzeichnet. Als Napoleon I. im Jahre 1807 Preußen zum Tilsiter Frieden zwang, da hatte der Eroberer alle Armeen der Deutschen vernichtet, die Hauptstadt und alle großen Städte besetzt, seine eigene Polizei eingeführt, die Besiegten gezwungen, ihm Hilfstruppen zur Führung neuer Raubkriege zur Verfügung zu stellen, da hatte er Deutschland zerstückelt und mit den einen deutschen Staaten Bündnisse gegen andere deutsche Staaten geschlossen. Und nichtsdestoweniger, sogar nach einem solchen Frieden, hat sich das deutsche Volk behauptet, hat es verstanden, seine Kräfte zu sammeln, sich zu erheben und sich das Recht auf Freiheit und Selbständigkeit zu erkämpfen.

Jedem, der denken will und zu denken versteht, zeigt das Beispiel des Tilsiter Friedens (der nur einer von jenen vielen schweren und erniedrigenden Friedensverträgen war, der den Deutschen in der damaligen Epoche aufgezwungen wurde) ganz klar, wie kindisch, wie naiv der Gedanke ist, dass ein schwerer Frieden unter allen Umständen den Untergang bedeute, ein Krieg aber der Weg zu Ruhm und Rettung sei. Die Epochen der Kriege lehren uns, dass der Frieden in der Geschichte nicht selten die Rolle einer Atempause und der Sammlung der Kräfte für neue Schlachten gespielt hat. Der Tilsiter Frieden war die größte Erniedrigung Deutschlands, gleichzeitig aber eine Wendung zu einem gewaltigen nationalen Aufschwung. Damals hat die historische Situation diesem Aufschwung keinen anderen Ausweg geboten, als den des bürgerlichen Staats. Damals, vor über 100 Jahren, machten einige Grüppchen Adliger und bürgerlicher Intellektueller Geschichte, während die Massen der Arbeiter und Bauern einen tiefen Schlaf schliefen. Damals konnte sich die Geschichte deshalb nur entsetzlich langsam vorwärts bewegen.

Jetzt hat der Kapitalismus die Kultur im Allgemeinen und die Kultur der Massen im Besonderen auf ein viel höheres Niveau emporgehoben. Der Krieg hat die Massen aufgerüttelt, hat sie durch unerhörte Schrecken und Leiden aus dem Schlaf geweckt. Der Krieg hat die Geschichte vorwärts getrieben. Sie fliegt jetzt mit der Geschwindigkeit einer Lokomotive dahin. Millionen und aber Millionen Menschen machen jetzt selbständig Geschichte. Der Kapitalismus ist jetzt reif geworden für den Sozialismus.

Und wenn also Russland jetzt – woran nicht gezweifelt werden kann – vom „Tilsiter" Frieden einem nationalen Aufschwung, einem großen vaterländischen Krieg entgegengeht, so ist der Ausweg für diesen Aufschwung nicht der bürgerliche Staat, sondern die internationale sozialistische Revolution. Wir sind seit dem 7. November (25. Oktober) 1917 Vaterlandsverteidiger. Wir sind für die „Vaterlandsverteidigung", aber der vaterländische Krieg, dem wir entgegengehen, ist ein Krieg für das sozialistische Vaterland, für den Sozialismus als Vaterland, für die Sowjetrepublik als Teil der Weltarmee des Sozialismus.

Hasse den Deutschen, hau den Deutschen!" – das war und ist die Losung des üblichen, d. h. bürgerlichen Patriotismus. Wir aber sagen: „Hasse den imperialistischen Räuber, hasse den Kapitalismus, Tod dem Kapitalismus!" und fügen gleichzeitig hinzu: „Lerne bei dem Deutschen! Bleibe dem brüderlichen Bündnis mit den deutschen Arbeitern treu. Sie haben sich mit der Unterstützung für uns verspätet. Wir werden Zeit gewinnen, werden auf sie warten, und sie werden uns zu Hilfe kommen."

Jawohl, lerne beim Deutschen! Der Weg der Geschichte führt über Krümmungen und Windungen. Es ist so gekommen, dass gerade der Deutsche neben dem bestialischen Imperialismus das Prinzip der Disziplin, der Organisation, des harmonischen Zusammenwirkens auf dem Boden der modernsten Maschinenindustrie, der strengsten Rechnungslegung und Kontrolle verkörpert.

Und gerade daran mangelt es uns. Gerade das müssen wir lernen. Gerade das fehlt unserer großen Revolution, um vom siegreichen Anfang über eine Reihe von schweren Prüfungen zum siegreichen Ende zu kommen. Gerade das braucht die Russische Sozialistische Sowjetrepublik, damit sie aufhöre, armselig und ohnmächtig zu sein, damit sie ein für allemal reich und mächtig werde.

1 Zitat aus dem Gedicht Nekrassows „Wem geht es gut in Russland?"

Kommentare