WIE KAUTSKY MARX IN EINEN DUTZENDLIBERALEN VERWANDELT HAT Die grundlegende Frage, die von Kautsky in seiner Broschüre berührt wird, ist die Frage nach dem Wesensinhalt der proletarischen Revolution, die Frage nämlich der Diktatur des Proletariats. Das ist die Frage, die namentlich in der Gegenwart für alle Länder, besonders für die fortgeschrittenen, besonders für die kriegführenden, die allergrößte Bedeutung hat. Man kann ohne Übertreibung sagen, dass das die allerwichtigste Frage des ganzen proletarischen Klassenkampfes ist. Deshalb ist es nötig, aufmerksam auf sie einzugehen. Kautsky stellt die Frage folgendermaßen: „der Gegensatz der beiden sozialistischen Richtungen" (d. h. der Bolschewiki und der Nichtbolschewiki) sei der „Gegensatz zweier grundverschiedener Methoden: der demokratischen und der diktatorischen". (S. 3.) Bemerken wir nebenbei, dass Kautsky, indem er die Nichtbolschewiki in Russland, d. h. die Menschewiki und Sozialrevolutionäre Sozialisten nennt, sich von ihrem Namen, d. h. von einem Wort, leiten lässt, nicht aber von der tatsächlichen Stellung, die sie im Kampf des Proletariats gegen die Bourgeoisie einnehmen. Eine glänzende Auffassung und Anwendung des Marxismus! Aber darüber Ausführlicheres weiter unten. Zunächst die Hauptsache: die große Entdeckung Kautskys von dem „grundverschiedenen Gegensatz" zwischen „der demokratischen und der diktatorischen Methode". Das ist der Kern der Frage. Darin besteht das ganze Wesen der Kautskyschen Broschüre. Und das ist eine so ungeheuerliche theoretische Konfusion, eine so vollständige Verleugnung des Marxismus, dass Kautsky, man muss das anerkennen, Bernstein weit hinter sich lässt. Die Frage der Diktatur des Proletariats ist die Frage des Verhältnisses des proletarischen Staates zum bürgerlichen Staat, der proletarischen Demokratie zur bürgerlichen Demokratie. Man sollte meinen, das sei klar wie der Tag. Kautsky aber, genau wie irgendein durch ewiges Wiederholen der Geschichtslehrbücher vertrockneter Gymnasialprofessor, wendet sich hartnäckig mit dem Hintern zum 20. Jahrhundert, mit dem Gesicht zum 18. Jahrhundert und zum hundertsten Mal, unglaublich langweilig, in einer ganzen Reihe von Paragraphen, kaut und wiederkäut er das alte Zeug vom Verhältnis der bürgerlichen Demokratie zum Absolutismus und Mittelalter! Fürwahr, wie im Schlaf faselt er dummes Zeug! Das heißt doch aber schon, den Dingen vollkommen verständnislos gegenüberstehen. Die Bemühungen Kautskys, die Sache so hinzustellen, als gebe es Leute, die „Verachtung der Demokratie" (S. 11) u. a. m. predigten, rufen doch nur ein Lächeln hervor. Mit solchen Narrenpossen muss Kautsky die Frage vertuschen und verwirren, denn er stellt die Frage auf liberale Art, als Frage der Demokratie schlechthin und nicht der bürgerlichen Demokratie; er vermeidet sogar diesen genauen Klassenbegriff und bemüht sich, von einer „vorsozialistischen" Demokratie zu sprechen. Nahezu ein Drittel der Broschüre, 20 von 63 Seiten, hat unser Kannegießer mit einem Geschwätz gefüllt, das der Bourgeoisie sehr genehm ist, denn es kommt einer Beschönigung der bürgerlichen Demokratie gleich und vertuscht die Frage der proletarischen Revolution. Aber der Titel der Broschüre Kautskys lautet doch immerhin „Die Diktatur des Proletariats". Dass gerade darin das Wesen der Marxschen Lehre besteht, ist allgemein bekannt. Auch Kautsky musste nach dem ganzen Geschwätz, das nicht zum Thema gehört, die Marxschen Worte von der Diktatur des Proletariats anführen. Wie das der „Marxist" Kautsky macht, das ist schon eine richtige Komödie! Man höre: „Diese Auffassung" (in der Kautsky eine Verachtung der Demokratie erblickt) „stützt sich auf ein Wort von Karl Marx" – so heißt es buchstäblich auf Seite 20. Und auf Seite 60 wird das sogar in der Form wiederholt: „Da erinnerte man" (die Bolschewiki) „sich rechtzeitig des Wörtchens" (buchstäblich so: des Wörtchens!!) „von der Diktatur des Proletariats, das Marx einmal 1875 in einem Briefe gebraucht hatte." Das „Wörtchen" von Marx lautet; „Zwischen der kapitalistischen und der kommunistischen Gesellschaft liegt die Periode der revolutionären Umwandlung der einen In die andere. Der entspricht auch eine politische Übergangsperiode, deren Staat nichts anderes sein kann, als die revolutionäre Diktatur des Proletariats. Erstens, diese berühmten Ausführungen von Marx, die das Fazit seiner ganzen revolutionären Lehre ziehen, als „ein Wort" oder gar als „Wörtchen" zu bezeichnen, heißt den Marxismus verhöhnen, heißt ihn völlig verleugnen. Man darf nicht vergessen, dass Kautsky Marx nahezu auswendig kennt, dass er, nach allen seinen Schriften zu urteilen, im Schreibtisch oder im Kopf eine Reihe hölzerner Kästchen besitzt, in denen alles, was Marx geschrieben hat, aufs genaueste und bequemste zum Zitieren geordnet ist. Kautsky muss unbedingt wissen, dass sowohl Marx als Engels in Briefen wie in ihren gedruckten Werken wiederholt von der Diktatur des Proletariats gesprochen haben, und das besonders sowohl vor als auch1 nach der Kommune. Kautsky muss doch wissen, dass die Formel „Diktatur des Proletariats" lediglich die historisch konkretere und wissenschaftlich genauere Darlegung der Aufgabe des Proletariats ist, die bürgerliche Staatsmaschinerie „zu zerbrechen", einer Aufgabe, von der sowohl Marx als auch Engels unter Berücksichtigung der Erfahrung der Revolutionen von 1848 und noch mehr der von 1871, seit 1852 bis 1891, vierzig Jahre lang sprechen. Wie ist die ungeheuerliche Entstellung des Marxismus durch den im Marxismus so bewanderten Kautsky zu erklären? Spricht man von den philosophischen Grundlagen dieser Erscheinung, so läuft die Sache auf die Vertauschung der Dialektik mit Eklektizismus und Sophistik hinaus. Kautsky ist ein großer Meister solch einer Unterschiebung. Spricht man praktisch politisch, so handelt es sich um Lakaientum gegenüber den Opportunisten, d. h. letzten Endes gegenüber der Bourgeoisie. Seit Kriegsbeginn hat Kautsky, immer rascher fortschreitend, die höchste Meisterschaft in dieser Kunst erreicht, Marxist in Worten und Lakai der Bourgeoisie in der Tat zu sein. Noch mehr überzeugt man sich davon, wenn man sich ansieht, wie wunderbar Kautsky das „Wörtchen" Marxens von der Diktatur des Proletariats „ausgelegt" hat. Man höre: „Marx hat es leider unterlassen, ausführlicher zu zeigen, wie er sich diese Diktatur vorstellt…" (Ein durch und durch verlogener Satz eines Renegaten, denn Marx und Engels haben ja gerade eine Reihe sehr ausführlicher Hinweise gegeben, die der marxistische Schriftgelehrte Kautsky absichtlich umgeht.) „… Buchstäblich genommen bedeutet das Wort die Aufhebung der Demokratie. Aber freilich buchstäblich genommen bedeutet es auch die Alleinherrschaft eines einzelnen, der an keinerlei Gesetze gebunden ist. Eine Alleinherrschaft, die sich von einem Despotismus dadurch unterscheidet, dass sie nicht als ständige Staatseinrichtung, sondern als eine vorübergehende Notstandsmaßregel gedacht ist. Der Ausdruck ,Diktatur des Proletariats', also Diktatur nicht eines einzelnen, sondern einer Klasse, schließt bereits aus, dass Marx hierbei an eine Diktatur im buchstäblichen Sinne des Ausdrucks gedacht hat. Er sprach hier nicht von einer Regierungsform, sondern einem Zustande, der notwendigerweise überall eintreten müsse, wo das Proletariat die politische Macht erobert hat. Dass er hier keine Regierungsform im Auge hatte, wird schon dadurch bezeugt, dass er der Ansicht war, in England und Amerika könne sich der Übergang friedlich, also auf demokratischem Wege vollziehen." (S. 20.) Wir haben absichtlich diese ganze Argumentation ungekürzt gebracht, damit der Leser klar sehen könne, mit welchen Methoden der „Theoretiker" Kautsky operiert. Es gefiel Kautsky, an die Frage in der Weise heranzutreten, dass er mit der Definition des „Wortes" Diktatur anfing. Schön. Es ist jedermanns gutes Recht, an eine Frage beliebig heranzutreten. Nur muss man das ernste und ehrliche Herantreten an eine Frage von dem unehrlichen unterscheiden. Wer bei der gegebenen Art der Behandlung des Problems sich ernst zur Sache verhalten wollte, der müsste seine eigene Definition des „Wortes" geben. Dann wäre die Frage klar und offen gestellt. Kautsky tut das nicht. „Buchstäblich genommen", schreibt er, „bedeutet das Wort Diktatur die Aufhebung der Demokratie." Erstens ist das keine Definition. Wenn es Kautsky beliebt, einer Definition des Begriffs Diktatur aus dem Wege zu gehen, wozu brauchte er auf die vorliegende Weise an die Frage heranzutreten? Zweitens ist das offenkundig falsch. Für einen Liberalen ist es natürlich, von „Demokratie" schlechthin zu sprechen. Ein Marxist wird nie vergessen zu fragen: „für welche Klasse?" Jedermann weiß beispielsweise – und der „Historiker" Kautsky weiß das ebenfalls –, dass Aufstände oder selbst starke Gärungen unter den Sklaven im Altertum sofort das Wesen des antiken Staates als einer Diktatur der Sklavenhalter offenbarten. Hob diese Diktatur die Demokratie unter den Sklavenhaltern, die Demokratie für sie auf? Jedermann weiß, dass das nicht der Fall war. Der „Marxist" Kautsky hat einen ungeheuerlichen Unsinn und eine Unwahrheit gesagt, denn er hat den Klassenkampf „vergessen" … Um aus der liberalen und verlogenen Behauptung, die Kautsky aufgestellt hat, eine marxistische und wahre Behauptung zu machen, muss man sagen: eine Diktatur bedeutet nicht unbedingt die Aufhebung der Demokratie für diejenige Klasse, die diese Diktatur über die andern Klassen ausübt; sie bedeutet aber unbedingt die Aufhebung der Demokratie (oder ihre äußerst wesentliche Einschränkung, was auch eine Form der Aufhebung ist) für die Klasse, über welche oder gegen welche die Diktatur ausgeübt wird. Aber wie wahr diese Behauptung auch sein mag, eine Definition des Begriffes Diktatur gibt sie dennoch nicht. Prüfen wir den folgenden Satz Kautskys: „Aber freilich buchstäblich genommen bedeutet es auch die Alleinherrschaft eines einzelnen, der an keinerlei Gesetze gebunden ist." Gleich einem blinden jungen Hund, der mit der Nase zufällig bald hierhin, bald dorthin tastet, ist Kautsky hier unversehens auf einen richtigen Gedanken gestoßen (nämlich, dass die Diktatur eine Macht ist, die an keinerlei Gesetze gebunden ist), hat aber dennoch keine Definition des Begriffes der Diktatur gegeben und außerdem eine offenkundige historische Unwahrheit gesagt, als ob Diktatur die Herrschaft eines einzelnen bezeichnete. Das ist auch grammatisch unrichtig, denn diktatorisch herrschen kann auch eine Handvoll Personen, auch eine Oligarchie, auch eine Klasse usw. Weiter verweist Kautsky auf den Unterschied der Diktatur vom Despotismus, aber obwohl seine Behauptung offensichtlich falsch ist, werden wir nicht auf sie eingehen, denn das hat mit der uns interessierenden Frage gar nichts zu tun. Kautskys Neigung, sich vom 20. Jahrhundert dem 18. Jahrhundert und vom 18. Jahrhundert der Antike zuzuwenden, ist bekannt, und wir hoffen, dass das deutsche Proletariat nach Erringung der Diktatur dieser Neigung Kautskys Rechnung tragen wird und ihn, sagen wir, als Gymnasialprofessor für die Geschichte des Altertums anstellen wird. Sich von einer Definition der Diktatur des Proletariats durch Philosophieren über den Despotismus drücken zu wollen, ist entweder eine kapitale Dummheit oder eine recht ungeschickte Gaunerei. Das Endergebnis ist, dass Kautsky, der sich anheischig machte, über die Diktatur zu reden, viel wissentlich Falsches zusammen geredet, aber keine Definition gegeben hat! Er hätte, ohne sich auf seine geistigen Fähigkeiten zu verlassen, sein Gedächtnis zu Hilfe nehmen und aus seinen „Kästchen" alle Fälle herausgreifen können, wo Marx über die Diktatur spricht. Dann wäre er bestimmt entweder zu der folgenden oder einer im wesentlichen mit ihr übereinstimmenden Definition gelangt: Die Diktatur ist eine sich unmittelbar auf Gewalt stützende Macht, die an keinerlei Gesetze gebunden ist. Die revolutionäre Diktatur des Proletariats ist eine Macht, die durch die Gewalt des Proletariats gegenüber der Bourgeoisie erobert wurde und behauptet wird, eine Macht, die an keinerlei Gesetze gebunden ist. Und eben diese einfache Wahrheit, die für jeden klassenbewussten Arbeiter so klar wie der lichte Tag ist (für den Vertreter der Masse und nicht der Oberschicht eines von den Kapitalisten gekauften kleinbürgerlichen Gesindels, das die Sozialimperialisten aller Länder darstellen), diese für jeden Vertreter der Ausgebeuteten, der für ihre Befreiung Kämpfenden, offensichtliche, diese für jeden Marxisten unbestreitbare Wahrheit muss dem so gelahrten Herrn Kautsky „im Kampfe abgerungen" werden. Wodurch ist das zu erklären? – Durch jenen Geist des Lakaientums, von dem die Führer der II. Internationale durchdrungen sind, die zu verächtlichen Sykophanten im Dienste der Bourgeoisie geworden sind. Zunächst vollzog Kautsky eine betrügerische Schiebung, indem er den offenbaren Unsinn behauptete, das Wort Diktatur bedeute im buchstäblichen Sinne die Alleinherrschaft eines Diktators, und dann erklärt er – auf Grund dieser Schiebung! –, dass also bei Marx die Worte von der Diktatur einer Klasse nicht im buchstäblichen Sinne zu verstehen seien (sondern in einem Sinne, bei dem die Diktatur nicht die revolutionäre Gewalt, sondern die „friedliche Eroberung der Mehrheit unter der bürgerlichen" – wohlgemerkt – Demokratie bedeute). Man muss halt den „Zustand" von der „Regierungsform" unterscheiden. Eine erstaunlich tiefsinnige Unterscheidung, ganz so, als wenn wir den „Zustand" der Dummheit eines Menschen, der unklug herumredet, von der „Form" seiner Dummheiten unterscheiden würden! Kautsky muss die Diktatur als „Zustand der Herrschaft" auslegen (dieser Ausdruck wird von ihm schon auf der folgenden Seite 21 buchstäblich so gebraucht), denn dann verschwindet die revolutionäre Gewalt, verschwindet die gewaltsame Revolution. Der „Zustand der Herrschaft" ist der Zustand, in dem sich eine beliebige Mehrheit unter der… „Demokratie" befindet. Mit Hilfe eines solchen betrügerischen Taschenspielerkunststücks verschwindet glücklich die Revolution. Aber der Schwindel ist zu plump, und er rettet Kautsky nicht. Dass die Diktatur den „Zustand" einer für die Renegaten unangenehmen revolutionären Gewalt einer Klasse über die andere voraussetzt und bedeutet, lässt sich beim besten Willen nicht verbergen. Die Unsinnigkeit der Unterscheidung zwischen „Zustand" und „Regierungsform" wird offensichtlich. Von einer Regierungsform zu reden, ist hier doppelt dumm, denn jedes Kind weiß, dass Monarchie und Republik verschiedene Regierungsformen sind. Herrn Kautsky muss man erst beweisen, dass diese beiden Regierungsformen, wie auch alle dazwischenliegenden ineinander übergehenden „Regierungsformen" unter dem Kapitalismus, nur Spielarten des bürgerlichen Staates, d. h. der Diktatur der Bourgeoisie sind. Von Regierungsformen zu sprechen, ist schließlich nicht nur eine dumme, sondern auch eine täppische Verfälschung von Marx, der hier klipp und klar von der Form oder dem Typus des Staates und nicht von der Form der Regierung spricht. Die proletarische Revolution ist unmöglich ohne gewaltsame Zerstörung der bürgerlichen Staatsmaschinerie und ohne ihre Ersetzung durch eine neue, die nach den Worten von Engels „schon kein Staat im eigentlichen Sinne mehr"2 ist. Kautsky muss das alles verkleistern und umlügen – das erfordert sein Renegatenstandpunkt. Man betrachte, zu welch kläglichen Ausflüchten er greift. Erste Ausflucht: „Dass er" (Marx) „hier keine Regierungsform im Auge hatte, wird schon dadurch bezeugt, dass er der Ansicht war, in England und Amerika könne sich der Übergang friedlich, also auf demokratischem Wege vollziehen…" Die Regierungsform tut hier absolut nichts zur Sache, denn es gibt Monarchien, die für den bürgerlichen Staat nicht typisch sind, die sich beispielsweise durch das Nichtvorhandensein eines stehenden Heeres auszeichnen, und es gibt Republiken, die3 durchaus typisch sind, z. B. solche mit stehendem Heer und Bürokratie. Das ist eine allbekannte geschichtliche und politische Tatsache, und Kautsky wird es nicht gelingen, sie zu verfälschen. Wollte Kautsky ernsthaft und ehrlich argumentieren, so würde er sich fragen: gibt es historische Gesetze, die für Revolutionen gelten und keine Ausnahmen kennen? Die Antwort würde läuten: nein, solche Gesetze gibt es nicht. Solche Gesetze haben nur das Typische im Auge, das, was Marx einmal als das „Ideale" im Sinne eines durchschnittlichen, normalen, typischen Kapitalismus bezeichnet hat. Weiter. Gab es in den siebziger Jahren irgend etwas, was England und Amerika in dieser Beziehung zu einer Ausnahme machte? Es ist für jeden, der auch nur einigermaßen mit den Erfordernissen der Wissenschaft in geschichtlichen Fragen vertraut ist, offensichtlich, dass diese Frage gestellt werden muss. Sie nicht stellen, heißt die Wissenschaft verfälschen, heißt mit Sophismen spielen. Stellt man aber diese Frage, so kann an der Antwort nicht gezweifelt werden: die revolutionäre Diktatur des Proletariats ist Gewalt gegenüber der Bourgeoisie; die Notwendigkeit dieser Gewalt wird eben, wie Marx und Engels aufs ausführlichste und wiederholt (besonders im „Bürgerkrieg in Frankreich" und im Vorwort dazu) dargelegt haben, insbesondere durch das Vorhandensein des stehenden Heeres und der Bürokratie hervorgerufen. Gerade in den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts, als Marx diese Bemerkung machte, waren gerade diese Institutionen gerade in England und Amerika nicht vorhanden. (Heute dagegen bestehen sie sowohl in England als auch in Amerika.) Kautsky muss auf Schritt und Tritt buchstäblich schwindeln, um sein Renegatentum zu verbergen! Und man beachte, wie er hier unversehens seine Eselsohren gezeigt hat. Er schrieb: „friedlich", d. h. auf demokratischem Wege!! Bei der Definition des Begriffes Diktatur bemühte sich Kautsky nach Kräften, vor dem Leser das Hauptmerkmal dieses Begriffs zu verbergen, nämlich: die revolutionäre Gewalt. Nun aber trat die Wahrheit zutage: es handelt sich um den Gegensatz zwischen friedlicher und gewaltsamer Umwälzung. Hier liegt der Hund begraben. Alle Ausflüchte, Sophismen, betrügerische Fälschungen braucht Kautsky gerade, um über die gewaltsame Revolution hinwegzureden, um seine Verleugnung der Revolution, seinen Übergang auf die Seite der liberalen Arbeiterpolitik, d. h. auf die Seite der Bourgeoisie, zu verhüllen. Hier liegt der Hund begraben. Der „Historiker" Kautsky fälscht die Geschichte so schamlos, dass er das Grundlegende vergisst: der vormonopolistische Kapitalismus – dessen Höhepunkt gerade die siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts waren – zeichnete sich infolge seiner grundlegenden ökonomischen Eigenschaften, die in England und Amerika besonders typisch zum Ausdruck kamen, durch eine verhältnismäßig sehr große Friedens- und Freiheitsliebe aus. Der Imperialismus dagegen, d. h. der monopolistische Kapitalismus, der erst im 20. Jahrhundert seine volle Reife erlangt hat, zeichnet sich infolge seiner grundlegenden ökonomischen Eigenschaften durch eine sehr geringe Friedens- und Freiheitsliebe, und durch eine sehr große Entwicklung des Militarismus aus. Das bei der Beurteilung, inwieweit eine friedliche oder eine gewaltsame Umwälzung typisch oder wahrscheinlich ist, „nicht bemerken", heißt zu einem ganz alltäglichen Lakaien der Bourgeoisie hinab sinken. Zweite Ausflucht. Die Pariser Kommune war die Diktatur des Proletariats, wurde aber nach allgemeinem Stimmrecht, ohne dass der Bourgeoisie das Wahlrecht entzogen wurde, ,,demokratisch" gewählt. Und Kautsky triumphiert:… „Die Diktatur des Proletariats war ihm (Marx) ein Zustand, der bei überwiegendem Proletariat aus der reinen Demokratie notwendig hervorgeht." (S. 21.) Dieses Argument Kautskys ist so ergötzlich, dass man wahrlich geradezu ein embarras des richesses empfindet (durch die Fülle der Einwendungen in eine schwierige Lage gerät). Erstens ist bekannt, dass die Blüte, der Stab, die Spitzen der Bourgeoisie aus Paris nach Versailles geflüchtet waren. In Versailles befand sich der „Sozialist" Louis Blanc, was u. a. die Verlogenheit der Kautskyschen Behauptung beweist, dass an der Kommune „alle Richtungen" des Sozialismus beteiligt gewesen seien. Ist es nicht lächerlich, die Trennung der Einwohner von Paris in zwei kämpfende Lager, von denen das eine die ganze kampfbereite, politisch aktive Bourgeoisie vereinigte, als „reine Demokratie" mit „allgemeinem Stimmrecht" hinzustellen? Zweitens kämpfte die Kommune gegen Versailles als die Arbeiterregierung Frankreichs gegen die bürgerliche Regierung. Was sollen hier „reine Demokratie" und ,,allgemeines Stimmrecht", wenn Paris die Geschicke Frankreichs entschied? Als Marx fand, die Kommune habe einen Fehler begangen, als sie nicht von der ganz Frankreich gehörenden Bank Besitz ergriff, ist er da etwa von den Prinzipien und der Praxis der „reinen Demokratie" ausgegangen? Man sieht wahrhaftig, dass Kautsky in einem Lande schreibt, in dem die Polizei den Menschen verbietet, „gemeinschaftlich" zu lachen, sonst wäre er durch Gelächter getötet worden. Drittens. Ich gestatte mir ehrerbietigst, Herrn Kautsky, der die Schriften von Marx und Engels auswendig kennt, an die folgende Einschätzung der Kommune durch Engels vom Standpunkt der … „reinen Demokratie" zu erinnern: „Haben sie einmal eine Revolution gesehen, diese Herren" (Antiautoritären)? „Eine Revolution ist gewiss die autoritärste Sache, die es gibt, ein Akt, durch den ein Teil der Bevölkerung seinen Willen dem andern Teil durch Flinten, Bajonette und Kanonen, alles das sehr autoritäre Mittel, aufzwingt; und die Partei, die gesiegt hat, muss ihre Herrschaft durch den Schrecken, den ihre Waffen den Reaktionären einflößen, behaupten. Und hätte sich die Pariser Kommune nicht der Autorität eines bewaffneten Volkes gegen die Bourgeoisie bedient, hätte sie sich länger als einen Tag behauptet? Können wir sie nicht umgekehrt tadeln, dass sie sich zu wenig dieser Autorität bedient habe?" Da habt ihr die „reine Demokratie"! Wie hätte Engels den banalen Spießer und „Sozialdemokraten" (der vierziger Jahre im französischen und der Jahre 1914-1918 im allgemein-europäischen Sinne) lächerlich gemacht, der auf den Gedanken verfallen wäre, in einer in Klassen gespaltenen Gesellschaft schlechthin von „reiner Demokratie" zu reden! Doch genug damit. Es ist ein Ding der Unmöglichkeit, alle einzelnen Ungereimtheiten aufzuzählen, die Kautsky sich leistet, denn jeder seiner Sätze birgt einen bodenlosen Abgrund von Renegatentum. Marx und Engels haben die Pariser Kommune aufs Ausführlichste analysiert, haben gezeigt, dass der Versuch, die „fertige Staatsmaschine" zu zerschlagen, zu zerbrechen, ihr Verdienst war. Marx und Engels hielten diese Schlussfolgerung für so wichtig, dass sie 1872 an dem (teilweise) „veralteten" Programm des „Kommunistischen Manifestes" nur diese Korrektur vornahmen. Marx und Engels haben gezeigt, dass die Kommune das Heer und das Beamtentum beseitigte, den Parlamentarismus vernichtete, den „Schmarotzerauswuchs Staat" zerstörte usw., aber der neunmalweise Kautsky zieht die Schlafmütze über die Ohren und wiederholt, was die liberalen Professoren tausendmal erzählt haben, – die Märchen von der „reinen Demokratie". Nicht umsonst erklärte Rosa Luxemburg am 4. August 1914, dass die deutsche Sozialdemokratie jetzt ein stinkender Leichnam ist. Die dritte Ausflucht ist die: „Wenn wir von der Diktatur als Regierungsform sprechen, so können wir nicht von der Diktatur einer Klasse sprechen. Denn eine Klasse kann, wie wir schon bemerkten, nur herrschen, nicht regieren…" Regieren können nur „Organisationen" oder „Parteien". Konfusion, gottverlassene Konfusion, Herr „Konfusionsrat"! Die Diktatur ist keine „Regierungsform", das ist lächerlicher Unsinn. Auch Marx spricht nicht von einer Regierungsform, sondern von der Form oder dem Typus des Staates. Das ist nicht dasselbe, absolut nicht dasselbe. Es ist auch ganz und gar unrichtig, dass eine Klasse nicht regieren könne; solchen Unsinn konnte nur ein „parlamentarischer Kretin" reden, der nichts sieht außer dem bürgerlichen Parlament, der nichts bemerkt außer den „regierenden Parteien". Jedes beliebige europäische Land könnte Kautsky Beispiele der Regierung durch seine herrschende Klasse zeigen, z. B. durch die Grundherren im Mittelalter ungeachtet ihrer mangelhaften Organisiertheit. Das Fazit. Kautsky hat den Begriff der Diktatur des Proletariats aufs unerhörteste entstellt und hat Marx in einen Dutzendliberalen verwandelt, d. h. er ist selbst auf dem Niveau eines Liberalen angelangt, der banale Phrasen über „reine Demokratie" drischt, den Klasseninhalt der bürgerlichen Demokratie beschönigt und vertuscht und am meisten die revolutionäre Gewalt der unterdrückten Klasse fürchtet. Als Kautsky den Begriff der „revolutionären Diktatur des Proletariats" so „auslegte", dass die revolutionäre Gewalt der unterdrückten Klasse gegenüber den Unterdrückern verschwand, schlug er in der liberalen Entstellung Marxens den Weltrekord. Der Renegat Bernstein erwies sich als ein Waisenknabe im Vergleich zu dem Renegaten Kautsky. 1 Im Manuskript fehlen die Worte: „sowohl vor als auch". 2 Das Zitat ist dem Brief von F. Engels an Bebel vom 18./28. März 1875 entnommen, Karl Marx, Friedrich Engels, Werke Band 34, S. 125-131, hier S. 128 3 Im Manuskript folgt hier: „in dieser Hinsicht" |
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