Beilage II EIN NEUES BUCH VON VANDERVELDE ÜBER DEN STAAT Erst nach der Lektüre des Buches von Kautsky hatte ich Gelegenheit, mich mit dem Buche von Vandervelde; „Le socialisme contre l'Etat" (Der Sozialismus gegen den Staat) (Paris 1918) bekannt zu machen. Eine Gegenüberstellung beider Bücher drängt sich unwillkürlich auf. Kautsky ist der geistige Führer der Zweiten Internationale (1889-1914), Vandervelde als Vorsitzender des Internationalen Sozialistischen Büros ist formell ihr Repräsentant. Beide repräsentieren den vollen Bankrott der II. Internationale, beide bemänteln „geschickt" mit der ganzen Gewandtheit gewiegter Journalisten durch marxistische Redensarten diesen Bankrott, ihren eigenen Zusammenbruch und ihren Übergang auf die Seite der Bourgeoisie. Der eine zeigt uns besonders anschaulich das Typische im deutschen Opportunismus, dem gewichtigen, theoretisierenden, der den Marxismus grob fälscht, indem er ihm alles amputiert, was für die Bourgeoisie unannehmbar ist. Der andere ist typisch für die romanische – gewissermaßen könnte man sagen für die westeuropäische (in dem Sinne: westlich von Deutschland anzutreffende) – Spielart des herrschenden Opportunismus, den geschmeidigeren, weniger schwerfälligen, der den Marxismus vermittels derselben grundlegenden Methode eleganter fälscht. Beide verzerren von Grund aus sowohl die Lehre von Marx über den Staat als auch seine Lehre von der Diktatur des Proletariats, wobei Vandervelde mehr auf die erste, Kautsky jedoch auf die zweite Frage eingeht. Beide vertuschen den engsten, untrennbaren Zusammenhang der einen Frage mit der anderen. Beide sind in Worten Revolutionäre und Marxisten, in der Tat jedoch Renegaten, die alle Anstrengungen darauf richten, über die Revolution hinwegzureden. Bei beiden findet sich auch nicht eine Spur dessen, was alle Werke von Marx und Engels vollständig durchdringt, was den Sozialismus in der Tat von der bürgerlichen Karikatur auf ihn unterscheidet, nämlich: die Klärung der Aufgaben der Revolution zum Unterschied von den Aufgaben der Reform, die Klärung der revolutionären Taktik zum Unterschied von der reformistischen, die Klärung der Rolle des Proletariats bei der Zerstörung des Systems oder der Ordnung, des Regimes der Lohnsklaverei, zum Unterschied von der Rolle des Proletariats der „Groß"mächte, das mit der Bourgeoisie ein Teilchen ihrer imperialistischen Extraprofite und Extrabeute teilt. Wir wollen zur Bestätigung einer solchen Einschätzung einige der wesentlichsten Betrachtungen Vanderveldes anführen. Vandervelde zitiert, ähnlich wie Kautsky, außerordentlich eifrig Marx und Engels. Und er zitiert, ähnlich wie Kautsky, alles, was man will, außer dem, was für die Bourgeoisie absolut unannehmbar ist, was den Revolutionär von dem Reformisten unterscheidet. Über die Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat – soviel man möchte, denn das ist durch die Praxis schon in einen ausschließlich parlamentarischen Rahmen gebracht worden. Darüber, dass Marx und Engels nach den Erfahrungen der Kommune es für notwendig hielten, das teilweise veraltete „Kommunistische Manifest" zu ergänzen durch die Erläuterung der Wahrheit, dass die Arbeiterklasse nicht einfach von der fertigen Staatsmaschine Besitz ergreifen kann, dass sie diese Maschine zerschlagen muss, - davon findet sich nicht ein Sterbenswörtchen! Vandervelde wie auch Kautsky übergehen – als ob sie es miteinander verabredet hätten – mit völligem Stillschweigen gerade das Wesentlichste aus den Erfahrungen der proletarischen Revolution, gerade das, was die Revolution des Proletariats von der Reform der Bourgeoisie unterscheidet. Ebenso wie Kautsky spricht Vandervelde von der Diktatur des Proletariats, um, mit Redereien über sie hinwegzukommen. Kautsky machte das durch plumpe Fälschungen. Vandervelde verwirklicht dasselbe etwas raffinierter. In dem entsprechenden Paragraphen, dem Paragraph 4 über die „Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat", widmet er den Absatz ,,b" der Frage über „die kollektive Diktatur des Proletariats", „zitiert" er Marx und Engels (wie gesagt, indem er gerade das weglässt, was sich auf das Hauptsächlichste, auf die Zerschlagung der alten, bürgerlich-demokratischen Staatsmaschine bezieht) und zieht die Schlussfolgerung: „ … In sozialistischen Kreisen stellt man sich gewöhnlich die soziale Revolution so vor: Eine neue Kommune, die dieses Mal siegreich ist, und nicht nur an einer Stelle, sondern in den Hauptzentren der kapitalistischen Welt. Eine Hypothese, aber eine Hypothese, die nichts Unwahrscheinliches an sich hat in einer Zeit, da es schon offensichtlich wird, dass die Nachkriegsperiode in vielen Ländern unerhörte Antagonismen der Klassen und soziale Konvulsionen sehen wird. Wenn der Misserfolg der Pariser Kommune – nicht zu reden von den Schwierigkeiten der russischen Revolution – auch nur irgend etwas beweist, so gerade die Unmöglichkeit, mit der kapitalistischen Gesellschaftsordnung Schluss zu machen, bevor das Proletariat genügend vorbereitet ist, die Macht auszunutzen, die durch die Umstände in seine Hände fallen könnte." (S. 73.) Und absolut nichts weiter über den Kern der Sache! Das sind sie, die Führer und Repräsentanten der II. Internationale. Im Jahre 1912 unterschreiben sie das Baseler Manifest, in dem ausdrücklich über den Zusammenhang eben des Krieges, der 1914 ausbrach, mit der proletarischen Revolution gesprochen wird, drohen geradezu mit der Revolution. Als aber der Krieg kam und eine revolutionäre Situation sich herausbildete, beginnen sie, diese Kautsky und Vandervelde, die Revolution mit Redensarten abzutun. Man beachte bitte: eine Revolution nach dem Typus der Kommune sei lediglich eine nicht unwahrscheinliche Hypothese! Das ist völlig analog den Darlegungen Kautskys über die mögliche Rolle der Sowjets in Europa. Aber so urteilt doch jeder gebildete Liberale, der ohne Zweifel jetzt damit einverstanden sein wird, dass eine neue Kommune „nicht unwahrscheinlich" sei, dass den Sowjets eine große Rolle bevorstehe usw. Der proletarische Revolutionär unterscheidet sich vom Liberalen dadurch, dass er als Theoretiker eben die neue staatliche Bedeutung der Kommune und der Sowjets analysiert. Vandervelde verschweigt alles, was Marx und Engels in ihrer Analyse der Erfahrungen der Kommune ausführlich über dieses Thema darlegen. Als Praktiker, als Politiker, müsste der Marxist klarstellen, dass nur Verräter am Sozialismus sich jetzt der Aufgabe entziehen könnten, die Notwendigkeit der proletarischen Revolution (vom Typus der Kommune, der Sowjets oder, nehmen wir an, von irgendeinem dritten Typus) zu erklären, die Notwendigkeit ihrer Vorbereitung zu erläutern, die Revolution unter den Massen zu propagieren, die kleinbürgerlichen Vorurteile gegen die Revolution zu widerlegen usw. Weder Kautsky noch Vandervelde tun etwas dergleichen, eben weil sie selbst Verräter am Sozialismus sind, die unter den Arbeitern den guten Ruf als Sozialisten, als Marxisten bewahren möchten. Man nehme die theoretische Fragestellung. Der Staat ist auch in der demokratischen Republik nichts anderes als eine Maschine zur Unterdrückung der einen Klasse durch die andere. Kautsky kennt, anerkennt und teilt diese Wahrheit – aber… aber er umgeht die grundlegendste Frage, welche Klasse denn, warum und mit welchen Mitteln, vom Proletariat unterdrückt werden soll, wenn es den proletarischen Staat erkämpft haben wird. Vandervelde kennt, anerkennt, teilt, zitiert diesen Grundsatz des Marxismus (Seite 72 seines Buches) aber… kein Sterbenswort über das (für die Herren Kapitalisten) „unangenehme" Thema betreffs der Unterdrückung des Widerstandes der Ausbeuter!! Vandervelde wie auch Kautsky sind diesem „unangenehmen" Thema vollständig ausgewichen. Und darin besteht auch ihr Renegatentum. Vandervelde ist ebenso wie Kautsky ein großer Meister in Sachen der Ersetzung der Dialektik durch den Eklektizismus. Einerseits ist es unmöglich nicht zu bekennen, andrerseits muss man anerkennen. Einerseits kann man unter Staat „die Gemeinschaft der Nation" verstehen (siehe das Wörterbuch von Littre – eine gelehrte Arbeit, was soll man da sagen – Seite 87 bei Vandervelde) , andrerseits kann man unter Staat die „Regierung" verstehen (ebenda). Diese gelehrte Banalität, die Vandervelde gutheißt, schreibt er in eine Reihe mit Zitaten aus Marx hin. „Der marxistische Sinn des Wortes ,Staat' unterscheidet sich von dem gewöhnlichen Sinn", schreibt Vandervelde. „Es sind infolgedessen ,Missverständnisse' möglich. Der ,Staat' ist bei Marx und Engels nicht der Staat im weiten Sinn, nicht der Staat als Organ der Führung, als Repräsentant der allgemeinen Interessen der Gesellschaft (intérêts généraux de la société). Er ist die Staatsmacht, der Staat ist das Organ der Autorität, der Staat ist das Werkzeug der Herrschaft einer Klasse über eine andere." (S. 75/76 bei Vandervelde.) Über die Vernichtung des Staates sprechen Marx und Engels lediglich in diesem zweiten Sinne… „Allzu absolute Behauptungen würden Gefahr laufen, sich als ungenau zu erweisen. Zwischen dem Staat der Kapitalisten, der auf die ausschließliche Herrschaft einer Klasse gegründet ist, und dem Staat des Proletariats, der das Ziel verfolgt, die Klassen aufzuheben, gibt es viele Übergangsstufen." (S. 156.) Da hat man die „Manier" Vanderveldes, die sich nur ein ganz klein wenig von der Manier Kautskys unterscheidet, im Wesen jedoch mit ihr identisch ist. Die Dialektik, die den Wechsel der Gegensätze und die Bedeutung der Krisen in der Geschichte klarstellt, verneint absolute Wahrheiten. Der Eklektiker will keine „allzu absolute" Behauptungen, um seinen kleinbürgerlichen, philisterhaften Wunsch, durch „Übergangsstufen" die Revolution zu ersetzen, anbringen zu können. Darüber, dass die Übergangsstufe zwischen dem Staat als Organ der Herrschaft der Kapitalistenklasse und dem Staat als Herrschaftsorgan des Proletariats eben die Revolution ist, die im Sturz der Bourgeoisie und im Zerbrechen, im Zerschlagen ihrer Staatsmaschine besteht, darüber schweigen die Kautsky und Vandervelde. Dass die Diktatur der Bourgeoisie abgelöst werden muss von der Diktatur einer Klasse, des Proletariats, dass auf die „Übergangsstufen" der Revolution die „Übergangsstufen" des allmählichen Absterbens des proletarischen Staates folgen, das vertuschen die Kautsky und Vandervelde. Darin eben besteht ihr politisches Renegatentum. Darin eben besteht theoretisch, philosophisch die Vertauschung der Dialektik mit Eklektizismus und Sophistik. Die Dialektik ist konkret und revolutionär, den „Übergang" von der Diktatur einer Klasse zur Diktatur einer anderen Klasse unterscheidet sie von dem „Übergang" des demokratischen proletarischen Staates zum Nicht-Staat („das Absterben des Staates"). Der Eklektizismus und die Sophistik der Kautsky und Vandervelde verkleistern der Bourgeoisie zuliebe alles Konkrete und Genaue im Klassenkampf, indem sie den allgemeinen Begriff des „Überganges" auftischen, wohinter man die Abkehr von der Revolution verbergen kann (und wohinter neun Zehntel der offiziellen Sozialdemokraten unserer Epoche diese Abkehr verbergen). Vandervelde ist als Eklektiker und Sophist geschickter und raffinierter als Kautsky, denn vermittels der Phrase: „Übergang vom Staat im engen Sinn zum Staat im weiten Sinn" kann man alle Fragen der Revolution, welche es auch seien, umgehen, kann man alle Unterschiede zwischen Revolution und Reform, sogar die Unterschiede zwischen einem Marxisten und einem Liberalen umgehen. Denn welcher europäisch gebildete Bourgeois denkt schon daran, „schlechthin" die „Übergangsstufen" in einem solchen „allgemeinen" Sinne zu verneinen? „Ich bin mit Guesde darin einverstanden", schreibt Vandervelde, „dass es unmöglich ist, die Produktions- und Tauschmittel zu sozialisieren ohne vorherige Erfüllung der beiden folgenden Bedingungen: 1. Die Umwandlung des heutigen Staates, des Organs der Herrschaft einer Klasse über die anderen, in das, was Menger den Volksstaat der Arbeit nennt, vermittels der Erringung der politischen Macht durch das Proletariat. 2. Die Trennung des Staates als Organ der Autorität vom Staat als Organ der Leitung, oder, um einen Sainl-Simondistischen Ausdruck zu gebrauchen, die Trennung der Regierung der Menschen von der Verwaltung der Sachen." (S. 89.) Das schreibt Vandervelde kursiv, um die Bedeutung dieser Sätze besonders zu betonen. Aber das ist doch der reinste eklektische Brei, der völlige Bruch mit dem Marxismus! Der „Volksstaat der Arbeit" ist doch lediglich ein Abklatsch des alten „freien Volksstaates", mit dem die deutschen Sozialdemokraten in den siebziger Jahren prunkten und den Engels als Unsinn brandmarkte. Der Ausdruck „Volksstaat der Arbeit" ist eine Phrase, würdig eines kleinbürgerlichen Demokraten (nach Art unserer linken Sozialrevolutionäre) – eine Phrase, die die Klassenbegriffe durch außerhalb der Klassen liegende Begriffe ersetzt. Vandervelde stellt die Eroberung der Staatsmacht durch das Proletariat (eine Klasse) in eine Reihe mit dem „Volks"staat, ohne zu bemerken, dass da ein Brei entsteht. Bei Kautsky ergibt sich bei seiner „reinen Demokratie" derselbe Brei, dieselbe anti-revolutionäre kleinbürgerliche Ignorierung der Aufgaben der Klassenrevolution, der proletarischen Klassendiktatur, des (proletarischen) Klassenstaates. Weiter. Die Regierung der Menschen wird erst dann verschwinden, wird erst dann der Verwaltung von Sachen Platz machen, wenn jeglicher Staat abgestorben sein wird. Mit dieser verhältnismäßig fernen Zukunft verrammelt und verdunkelt Vandervelde die Aufgabe des morgigen Tages: die Bourgeoisie zu stürzen! Ein solches Verfahren kommt wiederum der Liebedienerei vor der liberalen Bourgeoisie gleich. Der Liberale ist einverstanden, darüber zu sprechen, was dann sein wird, wenn die Menschen nicht mehr regiert werden müssen. Warum sollte man sich auch nicht mit derart unschädlichen Phantasien beschäftigen? Aber über die Unterdrückung des Widerstandes der Bourgeoisie durch das Proletariat, der Bourgeoisie, die ihrer Enteignung Widerstand entgegensetzt, – darüber wird geschwiegen. Das erfordert das Klasseninteresse der Bourgeoisie. „Der Sozialismus gegen den Staat." Das ist eine Verbeugung Vanderveldes vor dem Proletariat. Sich verbeugen ist nicht schwer, jeder „demokratische" Politiker versteht, vor seinen Wäldern Verbeugungen zu machen. Aber unter dem Deckmantel der „Verbeugung" wird ein antirevolutionärer, antiproletarischer Inhalt angebracht. Vandervelde erzählt ausführlich Ostrogorski nach, wie viel Betrug, Gewalt, Bestechung, Lüge, Heuchelei, Bedrückung der Armen sich hinter dem zivilisierten, geleckten, glatten Äußeren der modernen bürgerlichen Demokratie verbirgt. Aber eine Schlussfolgerung zieht Vandervelde nicht daraus. Dass die bürgerliche Demokratie die werktätige und ausgebeutete Masse unterdrückt, die proletarische Demokratie jedoch die Bourgeoisie wird unterdrücken müssen, bemerkt er nicht. Kautsky und Vandervelde sind demgegenüber blind. Das Klasseninteresse der Bourgeoisie, hinter der diese kleinbürgerlichen Verräter des Marxismus einher trotten, fordert das Umgehen dieser Frage, das Totschweigen dieser Frage oder die direkte Verneinung der Notwendigkeit einer solchen Unterdrückung. Kleinbürgerlicher Eklektizismus gegen den Marxismus, Sophistik gegen die Dialektik, philisterhafter Reformismus gegen die proletarische Revolution, – so hätte das Buch Vanderveldes betitelt werden müssen. |
Lenin > 1918 > Wladimir I. Lenin 19181110 Die proletarische Revolution und der Renegat Kautsky >