DIE SOWJETVERFASSUNG Der Bourgeoisie das Wahlrecht entziehen, ist, wie ich schon gezeigt habe, kein unbedingtes und notwendiges Kennzeichen der Diktatur des Proletariats. Auch in Russland haben die Bolschewiki, die lange vor dem Oktober die Losung einer solchen Diktatur aufgestellt hatten, nicht von vornherein davon gesprochen, den Ausbeutern das Wahlrecht zu entziehen. Dieser Bestandteil der Diktatur erblickte das Licht der Welt nicht „nach dem Plan" irgendeiner Partei, sondern er erwuchs von selbst im Laufe des Kampfes. Der Historiker Kautsky hat das freilich nicht bemerkt. Er hat nicht begriffen, dass die Bourgeoisie noch unter der Herrschaft der Menschewiki (der Paktierer mit der Bourgeoisie) in den Sowjets sich selbst von den Sowjets absonderte, sie boykottierte, sich ihnen entgegenstellte, gegen sie intrigierte. Die Sowjets sind ohne jede Verfassung entstanden und haben über ein Jahr (vom Frühjahr 1917 bis zum Sommer 1918) ohne jede Verfassung existiert. Die Wut der Bourgeoisie gegen die selbständige und allmächtige (weil allumfassende) Organisation der Unterdrückten, der Kampf, und zwar der skrupelloseste, eigennützigste, schmutzigste Kampf der Bourgeoisie gegen die Sowjets und schließlich die offensichtliche Teilnahme der Bourgeoisie (von den Kadetten bis zu den rechten Sozialrevolutionären, von Miljukow bis zu Kerenski) am Kornilowputsch – eben das hat den formellen Ausschluss der Bourgeoisie aus den Sowjets vorbereitet. Kautsky hat von dem Kornilowputsch gehört, aber er spuckt majestätisch auf die historischen Tatsachen und auf den Verlauf, die Formen des Kampfes, die die Formen der Diktatur bestimmen: wirklich, wozu Tatsachen, wenn von der „reinen" Demokratie die Rede ist? Die gegen die Entziehung des Wahlrechts der Bourgeoisie gerichtete „Kritik" Kautskys zeichnet sich darum durch eine so… süßliche Naivität aus, die bei einem Kinde rührend wäre, die aber ekelerregend ist bei einem Menschen, der offiziell noch nicht für schwachsinnig erklärt worden ist. „ … Wenn sie (die Kapitalisten) bei allgemeinem Wahlrecht als bedeutungslose Minderheit erscheinen, werden sie sich eher in ihr Schicksal ergeben…" (S. 33.) Nett, nicht wahr? Der weise Kautsky hat oftmals in der Geschichte gesehen und kennt überhaupt aus der Beobachtung des lebendigen Lebens sehr gut solche Gutsbesitzer und Kapitalisten, die dem Willen der Mehrheit der Unterdrückten Rechnung tragen. Der weise Kautsky steht entschieden auf dem Standpunkt der „Opposition", d. h. auf dem Standpunkt des innerparlamentarischen Kampfes. So schreibt er denn auch buchstäblich: „Opposition" (S. 34 und an vielen anderen Stellen). Oh, Sie gelehrter Historiker und Politiker! Es würde Ihnen nicht schaden zu wissen, dass „Opposition" ein Begriff des friedlichen und nur parlamentarischen Kampfes ist, d. h. ein Begriff, der einer nichtrevolutionären Situation entspricht, ein Begriff, der dem Fehlen der Revolution entspricht. In der Revolution handelt es sich um einen erbarmungslosen Feind im Bürgerkrieg, – keinerlei reaktionäre Jeremiaden eines Kleinbürgers, der einen solchen Krieg fürchtet, wie Kautsky ihn fürchtet, werden an dieser Tatsache etwas ändern. Betrachtungen über die Fragen des erbarmungslosen Bürgerkrieges anstellen wenn die Bourgeoisie zu allen Verbrechen bereit ist – das Beispiel der Versailler und ihres Paktes mit Bismarck1 sagt jedem etwas, der sich nicht wie der Gogolsche Petruschka zur Geschichte verhält –, wenn die Bourgeoisie fremde Staaten zu Hilfe ruft und mit ihnen gegen die Revolution intrigiert, – das ist Komik. Das revolutionäre Proletariat soll, ähnlich dem „Konfusionsrat" Kautsky, eine Schlafmütze über die Ohren ziehen und die Bourgeoisie, die Dutowsche, Krasnowsche und tschechische konterrevolutionäre Aufstände organisiert, die Millionen an Saboteure zahlt, als legale „Opposition" betrachten. Oh, welcher Scharfsinn! Kautsky interessiert ausschließlich die formal-juristische Seite der Sache, so dass man beim Lesen seiner Betrachtungen über die Sowjetverfassung sich unwillkürlich der Worte Bebels erinnert: „Juristen, das sind durch und durch reaktionäre Leute." „In Wahrheit", schreibt Kautsky, „kann man aber die Kapitalisten allein gar nicht entrechten. Wer ist ein Kapitalist im juristischen Sinne? Ein Besitzender? Selbst in einem ökonomisch so weit vorgeschrittenen Lande wie Deutschland, dessen Proletariat so zahlreich ist, würde die Errichtung einer Sowjetrepublik große Massen politisch entrechten. Im Jahre 1907 betrug im Deutschen Reiche die Zahl der Berufszugehörigen (Erwerbstätige und ihre Familien) der drei großen Gruppen Landwirtschaft, Industrie und Handel, in der Gruppe der Angestellten und Lohnarbeiter etwas über 35 Millionen, die der Selbständigen 17 Millionen. Eine Partei könnte also sehr wohl die Mehrheit der Lohnarbeiter hinter sich haben und doch die Minderheit der Bevölkerung bilden." (S. 33.) Da haben wir eins der Muster Kautskyscher Betrachtungsweise. Nun, ist das denn etwa nicht das konterrevolutionäre Geflenne eines Bourgeois? Warum zählen Sie denn alle „Selbständigen" zu den Entrechteten, Herr Kautsky, wo Sie sehr wohl wissen, dass die ungeheure Mehrheit der russischen Bauern keine Lohnarbeiter beschäftigt, also ihrer Rechte nicht verlustig geht? Ist das etwa keine Fälschung? Warum haben Sie, der gelehrte Volkswirtschaftler, nicht die Ihnen gut bekannten und in eben derselben deutschen Statistik von 1907 enthaltenen Angaben über die Lohnarbeit in der Landwirtschaft nach Wirtschaftsgruppen angeführt? Warum gaben Sie den deutschen Arbeitern, den Lesern Ihrer Broschüre, nicht diese Unterlagen, aus denen ersichtlich gewesen wäre, wie viel Ausbeuter, oder wie wenig Ausbeuter es nach der deutschen Statistik unter der Gesamtzahl der „Landwirte" gibt? Weil Ihr Renegatentum Sie zu einem gewöhnlichen Sykophanten der Bourgeoisie gemacht hat. Der Kapitalist, das ist halt ein unbestimmter juristischer Begriff, und Kautsky wettert auf mehreren Seiten gegen die „Willkür" der Sowjetverfassung. Der englischen Bourgeoisie räumt dieser „ernsthafte Gelehrte" Jahrhunderte ein, um eine neue (für das Mittelalter neue) bürgerliche Verfassung auszuarbeiten und auszugestalten, uns aber, den Arbeitern und Bauern Russlands, gewährt dieser Vertreter der Lakaienwissenschaft keinerlei Frist. Von uns verlangt er in wenigen Monaten eine bis aufs I-Tüpfelchen ausgearbeitete Verfassung… … „Willkür!" Man denke bloß, welch ein Abgrund des schmutzigsten Lakaientums gegenüber der Bourgeoisie und der stumpfsinnigsten Pedanterie sich in einem solchen Vorwurf offenbart. Wenn die durch und durch bürgerlichen und zum größten Teil reaktionären Juristen der kapitalistischen Länder im Laufe von Jahrhunderten oder Jahrzehnten ganz ausführliche Bestimmungen ausarbeiteten, Dutzende und Hunderte von Gesetzbüchern und Kommentaren zu den Gesetzen schrieben, die den Arbeiter unterdrücken, den Armen an Händen und Füßen fesseln, jedem beliebigen einfachen werktätigen Mann aus dem Volke tausend Schikanen und Hindernisse in den Weg legten, – oh, dann erblicken die bürgerlichen Liberalen und Herr Kautsky da keine „Willkür"! Da herrscht „Ordnung" und „Gesetzlichkeit"! Da ist alles durchdacht und niedergeschrieben, wie der Arme „auszupressen" ist. Da gibt es Tausende von bürgerlichen Advokaten und Beamten (von ihnen schweigt Kautsky überhaupt, wahrscheinlich gerade darum, weil Marx dem Zerschlagen der Beamtenmaschinerie gewaltige Bedeutung beilegte…), – Advokaten und Beamte, die die Gesetze so auszulegen verstehen, dass es dem Arbeiter und dem Mittelbauer niemals gelingt, die Drahtverhaue dieser Gesetze zu durchbrechen. Das ist keine „Willkür" der Bourgeoisie, das ist keine Diktatur eigennütziger und schmutziger Ausbeuter, die sich mit dem Blut des Volkes vollgesogen haben – keine Spur! Das ist „reine Demokratie", die mit jedem Tag immer reiner und reiner wird. Als aber die werktätigen und ausgebeuteten Klassen, die durch den imperialistischen Krieg von ihren Brüdern jenseits der Grenze abgeschnitten waren, zum ersten Mal in der Geschichte ihre eigenen Sowjets bildeten, zum politischen Aufbau diejenigen Massen herbeiriefen, die die Bourgeoisie unterdrückt, eingeschüchtert, abgestumpft hatte, und selbst anfingen, einen neuen, proletarischen Staat aufzubauen, anfingen, im Getümmel eines furchtbaren Kampfes, im Feuer des Bürgerkrieges, die Grundlagen für einen Staat ohne Ausbeuter zu entwerfen, – da erhoben alle Schurken der Bourgeoisie, erhob die ganze Bande der Blutsauger samt ihrem Trabanten Kautsky ein Gezeter über „Willkür"! Nun, woher sollten denn diese Ignoranten, diese Arbeiter und Bauern, dieser „Pöbel" es tatsächlich verstehen, ihre eigenen Gesetze auszulegen? Woher sollten sie denn das Gerechtigkeitsgefühl nehmen, sie, einfache Werktätige, die sich nicht der Ratschläge der gebildeten Advokaten, der bürgerlichen Schriftsteller, der Kautsky und der weisen alten Beamten bedienen? Aus meiner Rede vom 29. April 19182 zitiert Herr Kautsky die Worte: … „Die Massen selbst bestimmen die Ordnung und die Termine der Wahlen"… Und der „reine Demokrat" Kautsky zieht daraus die Schlussfolgerung: „Es scheint also, als könne jede Wahlversammlung das Wahlverfahren nach ihrem Belieben einrichten. Die Willkür und die Möglichkeit, sich unbequemer oppositioneller Elemente innerhalb des Proletariats selbst zu entledigen, würde dadurch aufs höchste gesteigert." (S. 37.) Nun, wodurch unterscheidet sich das von dem Gerede eines von den Kapitalisten gedungenen Tintenkulis, der Geschrei darüber erhebt, dass die Masse bei einem Streik die „arbeitswilligen", fleißigen Arbeiter unter Druck setzt? Warum ist die bürokratisch-bürgerliche Bestimmung des Wahlverfahrens in der „reinen" bürgerlichen Demokratie keine Willkür? Warum soll das Gerechtigkeitsgefühl bei den Massen, die sich zum Kampf gegen die sie jahrhundertelang Ausbeutenden erhoben haben, bei den Massen, die durch diesen verzweifelten Kampf aufgeklärt und gestählt werden, geringer entwickelt sein als bei den Häuflein in bürgerlichen Vorurteilen erzogener Beamten, Intellektuellen, Advokaten? Kautsky ist ein wahrer Sozialist, man wage nicht, die Aufrichtigkeit dieses ehrbaren Familienvaters, dieses redlichen Bürgers zu verdächtigen. Er ist ein glühender und überzeugter Anhänger des Sieges der Arbeiter, der proletarischen Revolution. Er möchte nur, dass salbadernde verspießerte Intellektuelle und Philister mit der Schlafmütze auf dem Kopf zuerst, vor der Bewegung der Massen, vor ihrem erbitterten Kampfe gegen die Ausbeuter und unbedingt ohne Bürgerkrieg, ein gemäßigtes und genaues Reglement für die Entwicklung der Revolution aufstellen… Mit tiefer sittlicher Entrüstung erzählt unser gelehrter Juduschka Golowljow3 den deutschen Arbeitern, dass das Allrussische Zentralexekutivkomitee der Sowjets am 14. Juni 1918 beschlossen habe, die Vertreter der Partei der rechten Sozialrevolutionäre und der Menschewiki aus den Sowjets auszuschließen4. „Diese Maßregel", schreibt Juduschka Kautsky, vor edler Entrüstung glühend, „richtet sich nicht etwa gegen bestimmte Personen, die bestimmte strafbare Handlungen begangen haben … Von einer Immunität der Abgeordneten zum Sowjet ist in der Verfassung der Sowjetrepublik keine Rede. Nicht bestimmte Personen, sondern bestimmte Parteien werden hier von den Sowjets ausgeschlossen." (S. 37.) Ja, das ist wirklich entsetzlich, das ist eine unerträgliche Abweichung von der reinen Demokratie, nach deren Regeln unser revolutionärer Juduschka Kautsky die Revolution machen wird. Wir russischen Bolschewiki hätten zuerst den Sawinkow und Konsorten, den Liberdan5 und Potressow (den „Aktivisten")6 und Konsorten Immunität zusichern, dann ein Strafgesetzbuch verfassen sollen, das die Teilnahme am tschechoslowakischen konterrevolutionären Krieg oder das Bündnis mit den deutschen Imperialisten in der Ukraine oder in Georgien gegen die Arbeiter des eigenen Landes für „strafbar" erklärt, und erst dann, auf Grund dieses Strafgesetzbuches, wären wir, gemäß der „reinen Demokratie", berechtigt gewesen, „bestimmte Personen" aus den Sowjets auszuschließen. Es versteht sich dabei von selbst, dass die Tschechoslowaken, die über die Sawinkow, Potressow und Liberdan7 oder mit Hilfe deren Agitation Geld von den englischen und französischen Kapitalisten erhalten, und ebenso die Krasnow, die mit Hilfe der ukrainischen und Tifliser Menschewiki Granaten von den Deutschen bekommen, gerade so lange ruhig gesessen hätten, bis von uns ein regelrechtes Strafgesetzbuch ausgefertigt worden wäre, und sich, als allerreinste Demokraten, auf die Rolle der „Opposition" beschränkt hätten… Eine nicht geringere sittliche Entrüstung ruft es bei Kautsky hervor, dass die Sowjetverfassung das Wahlrecht denen entzieht, die „Lohnarbeiter zum Zwecke des Gewinnes beschäftigen". „Ein Heimarbeiter oder Kleinmeister", schreibt Kautsky, „mit einem Gesellen mag ganz proletarisch leben und fühlen, er hat kein Wahlrecht." (S. 36.) Welche Abweichung von der „reinen Demokratie"! Welche Ungerechtigkeit! Bis jetzt haben allerdings alle Marxisten angenommen, und tausende Tatsachen haben es bestätigt, dass die Kleinunternehmer die gewissenlosesten Ausbeuter sind, die die Lohnarbeiter am meisten schikanieren, aber Juduschka Kautsky nimmt natürlich nicht die Klasse der Kleinunternehmer (wer hat bloß die schädliche8 Theorie vom Klassenkampf ausgedacht?), sondern einzelne Personen, solche Ausbeuter, die „ganz proletarisch leben und fühlen". Die berühmte „Spar-Agnes", die man längst tot wähnte, ist unter der Feder Kautskys wieder auferstanden. Diese „Spar-Agnes" hat vor einigen Jahrzehnten ein „reiner" Demokrat, der Bourgeois Eugen Richter, erfunden und in der deutschen Literatur in Umlauf gesetzt. Er prophezeite unsagbares Unheil von der Diktatur des Proletariats, von der Konfiskation des Kapitals der Ausbeuter, er fragte mit unschuldiger Miene, wer denn Kapitalist im juristischen Sinne sei. Er führte das Beispiel einer armen, sparsamen Schneiderin (der „Spar-Agnes") an, der die bösen „Diktatoren des Proletariats" die letzten Groschen wegnehmen. Es gab eine Zeit, da die gesamte deutsche Sozialdemokratie sich über diese „Spar-Agnes" des reinen Demokraten Eugen Richter lustig machte. Aber das ist lange, so lange her, als Bebel noch lebte, der offen und ohne Umschweife die Wahrheit sagte, als er erklärte, in unserer Partei gebe es viele Nationalliberale; das war in jener fernen Zeit, als Kautsky noch kein Renegat war. Jetzt ist die „Spar-Agnes" in der Person des „ganz proletarisch lebenden und fühlenden Kleinmeisters mit einem Gesellen" wieder auferstanden. Die bösen Bolschewiki tun ihm Unrecht, entziehen ihm das Wahlrecht. Freilich, „jede Wahlversammlung", wie derselbe Kautsky sagt, kann in der Sowjetrepublik einem, sagen wir, mit dem betreffenden Betrieb verbundenen armen Kleinmeister die Teilnahme an ihr gestatten, wenn er ausnahmsweise kein Ausbeuter ist, wenn er tatsächlich „ganz proletarisch lebt und fühlt". Aber kann man sich etwa auf die Lebenskenntnis, auf das Gerechtigkeitsgefühl einer ungeordneten und (wie schrecklich!) ohne Statut handelnden Betriebsversammlung einfacher Arbeiter verlassen? Ist es etwa nicht klar, dass es besser wäre, allen Ausbeutern, allen, die Lohnarbeiter beschäftigen, das Stimmrecht zu geben, als Gefahr zu laufen, dass der „Spar-Agnes" und einem „proletarisch lebenden und fühlenden Kleinmeisler" von den Arbeitern Unrecht geschehe? * * * Mögen die verächtlichen Schurken des Renegatentums unter dem Beifall der Bourgeoisie und der Sozialchauvinisten* unsere Sowjetverfassung verunglimpfen, weil sie den Ausbeutern das Wahlrecht nimmt. Das ist gut so, denn das wird den Bruch der revolutionären Arbeiter Europas mit den Scheidemann und Kautsky, den Renaudel und Longuet, den Henderson und Ramsay Mäcdonald, mit den alten Führern und alten Verrätern des Sozialismus beschleunigen und vertiefen. Die Massen der unterdrückten Klassen, die klassenbewussten und ehrlichen Führer aus den Reihen der revolutionären Proletarier werden für uns sein. Es genügt, diese Proletarier und diese Massen mit unserer Sowjetverfassung bekannt zu machen, und sie werden sofort sagen: das dort sind wirklich unsere Leute, das dort ist die richtige Arbeiterpartei, die richtige Arbeiterregierung. Denn sie betrügt nicht die Arbeiter mit Geschwätz über Reformen, wie uns alle eben genannten Führer betrogen haben, sondern sie kämpft ernsthaft gegen die Ausbeuter, führt ernsthaft die Revolution durch, kämpft wirklich für die volle Befreiung der Arbeiter. Wenn den Ausbeutern nach einjähriger „Praxis" der Sowjets das Stimmrecht durch die Sowjets entzogen worden ist, so bedeutet das, dass diese Sowjets wirklich Organisationen der unterdrückten Massen sind und keine Organisationen der Sozial-Imperialisten und Sozialpazifisten, die sich der Bourgeoisie verkauft haben. Wenn diese Sowjets den Ausbeutern das Stimmrecht entzogen haben, so bedeutet das, dass die Sowjets keine Organe des kleinbürgerlichen Paktierens mit den Kapitalisten, keine Organe des parlamentarischen Geschwätzes (der Kautsky, Longuet und Macdonald), sondern Organe des wirklich revolutionären Proletariats sind, das einen Kampf auf Tod und Leben gegen die Ausbeuter führt. „Kautskys Büchlein ist hier fast unbekannt", schreibt mir dieser Tage (heute haben wir den 30. Oktober) ein gut unterrichteter Genosse aus Berlin. Ich würde unseren Botschaftern in Deutschland und der Schweiz raten, sich Tausende nicht leid tun zu lassen für den Ankauf und die kostenlose Verteilung dieser Schrift unter die klassenbewussten Arbeiter, um jene „europäische" – lies: imperialistische und reformistische – Sozialdemokratie, die längst zu einem „stinkenden Leichnam" geworden ist, in den Schmutz zu treten. * * * Am Ende seines Buches, auf Seite 61 und 63, weint Herr Kautsky bitterlich darüber, dass die „neue Theorie" (so nennt er den Bolschewismus, weil er sich fürchtet, die Analyse der Pariser Kommune durch Marx und Engels zu berühren) „sogar Anhänger in den alten Demokratien findet, wie der Schweiz". Es ist „unbegreiflich", für Kautsky, „wenn deutsche Sozialdemokraten … diese Theorie annehmen". Nein, das ist durchaus begreiflich, denn nach den ernsten Lehren des Krieges werden sowohl die Scheidemänner als auch die Kautskys den revolutionären Massen zuwider. „Wir" waren stets für die Demokratie – schreibt Kautsky – und plötzlich sollten wir uns von ihr lossagen! „Wir", die Opportunisten der Sozialdemokratie, waren stets gegen die Diktatur des Proletariats, und die Kolb und Konsorten haben das längst offen ausgesprochen. Kautsky weiß das und glaubt vergebens, vor seinen Lesern die offensichtliche Tatsache seiner „Rückkehr in den Schoß" der Bernstein und Kolb verheimlichen zu können. „Wir", die revolutionären Marxisten, haben uns niemals aus der „reinen" (bürgerlichen) Demokratie einen Fetisch gemacht. Plechanow war bekanntlich 1903 ein revolutionärer Marxist (bis zu seiner traurigen Wendung, die ihn in die Stellung eines russischen Scheidemann brachte). Und Plechanow erklärte damals auf dem Parteitag, der das Programm annahm, dass das Proletariat in der Revolution nötigenfalls den Kapitalisten das Stimmrecht entziehen und jedes beliebige Parlament auseinanderjagen werde, wenn es sich als konterrevolutionär erweisen sollte. Dass eben diese Ansicht einzig und allein dem Marxismus entspricht, wird ein jeder wenigstens aus den von mir weiter oben angeführten Erklärungen von Marx und Engels ersehen, das geht handgreiflich aus allen Grundgedanken des Marxismus hervor. „Wir", die revolutionären Marxisten, haben dem Volke nie solche Reden gehalten, wie es die Kautskyaner aller Nationalitäten zu tun liebten, die vor der Bourgeoisie liebedienerten, den bürgerlichen Parlamentarismus nachäfften, den bürgerlichen Charakter der heutigen Demokratie verschwiegen und nur ihre Erweiterung, ihre restlose Durchführung forderten. „Wir" haben der Bourgeoisie gesagt: „Ihr Ausbeuter und Heuchler sprecht von Demokratie, während ihr gleichzeitig der Teilnahme der unterdrückten Massen an der Politik auf Schritt und Tritt tausend Hindernisse in den Weg legt. Wir nehmen euch beim Wort und fordern im Interesse dieser Massen die Erweiterung eurer bürgerlichen Demokratie, um die Massen zur Revolution vorzubereiten, um euch Ausbeuter zu stürzen. Und wenn ihr Ausbeuter versuchen solltet, unserer proletarischen Revolution Widerstand zu leisten, so werden wir euch erbarmungslos unterdrücken, werden euch entrechten, mehr noch: wir werden euch kein Brot geben, denn in unserer proletarischen Republik werden die Ausbeuter rechtlos sein, Feuer und Wasser wird ihnen entzogen werden, denn wir sind im Ernst und nicht im Scheidemannschen oder Kautskyschen Sinne Sozialisten." So haben „wir" gesprochen und so werden „wir" revolutionären Marxisten sprechen, und eben darum werden die unterdrückten Massen für uns und mit uns sein, die Scheidemann und Kautsky dagegen werden auf dem Misthaufen der Renegaten enden. 1 1871 gegen die Pariser Kommune 2 Siehe Sämtl. Werke, Bd. XXII, S. 535. 3 Juduschka Golowljow – eine der Hauptfiguren aus dem Roman des russischen Satirikers Saltykow-Schtschedrin, „Die Herren GolowIjow"; ein Gutsbesitzer aus der Zeit der Leibeigenschaft, ein habgieriger Räuber, Typus des Heuchlers und Verräters. W. I. Lenin verglich oft mit Juduschka Golowljow die Feinde und Verräter der Arbeiterklasse. 4 Der Ausschluss der Vertreter der Partei der rechten Sozialrevolutionäre und der Menschewiki aus den Sowjets erfolgte am 14. Juni 1918 auf Beschluss des Allrussischen Zentralexekutivkomitees wegen aktiver konterrevolutionärer, sowjetfeindlicher Tätigkeit dieser Parteien. – S. 478. 5 Liberdan – ironische Bezeichnung der Menschewiki in der bolschewistischen Presse 1917/18, zusammengesetzt aus den Namen der beiden menschewistischen Führer Liber und Dan. 6 „Aktivisten" – eine Gruppe von Mitgliedern der menschewistischen Partei, die sich zum bewaffneten Kampf gegen die Sowjetmacht bekannten und ihn auch durchführten. 7 Im Manuskript fehlt diese Wendung 8 Im Manuskript: „dumme“ * Soeben habe ich den Leitartikel der „Frankfurter Zeitung" (vom 22. Oktober 1918, Nr. 293) gelesen, in dem der Inhalt der Broschüre Kautskys mit Begeisterung wiedergegeben wird. Das Blatt der Börsianer ist zufrieden Warum auch nicht! Und ein Genosse aus Berlin schreibt mir, dass der „Vorwärts", die Zeitung der Scheidemänner, in einem besonderen Artikel erklärt habe, er unterschreibe fast jede Zeile Kautskys. 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