Liebedienerei vor der Bourgeoisie unter dem Schein einer „ökonomischen Analyse"

LIEBEDIENEREI1 VOR DER BOURGEOISIE UNTER DEM SCHEIN EINER „ÖKONOMISCHEN ANALYSE"

Wie schon gesagt, hätte das Buch Kautskys, wenn der Titel den Inhalt richtig wiedergeben sollte, sich nicht „Die Diktatur des Proletariats", sondern „Nachbetung bürgerlicher Angriffe auf die Bolschewiki" nennen müssen.

Die alten „Theorien" der Menschewiki von dem bürgerlichen Charakter der russischen Revolution, d. h. die alte (von Kautsky 1905 zurückgewiesene!) Entstellung des Marxismus durch die Menschewiki, sind jetzt von unserem Theoretiker wieder aufgewärmt worden. Man wird auf diese Frage eingehen müssen, so langweilig sie auch für russische Marxisten sein mag.

Die russische Revolution ist eine bürgerliche Revolution, sagten alle Marxisten Russlands vor 1905. Die Menschewiki, die den Marxismus durch Liberalismus ersetzten, folgerten daraus: also darf das Proletariat nicht über das hinausgehen, was für die Bourgeoisie annehmbar ist, es muss eine Politik der Verständigung mit der Bourgeoisie treiben. Die Bolschewiki erklärten, das sei eine liberal-bürgerliche Theorie. Die Bourgeoisie ist bestrebt, die Reorganisation des Staates auf bürgerliche Weise, reformistisch und nicht revolutionär zu vollziehen und sowohl die Monarchie als auch den gutsherrlichen Grundbesitz usw. nach Möglichkeit zu erhalten. Das Proletariat muss die bürgerlich-demokratische Revolution zu Ende führen, ohne sich durch den Reformismus der Bourgeoisie „binden" zu lassen. Das Kräfteverhältnis der Klassen in der bürgerlichen Revolution formulierten die Bolschewiki folgendermaßen: das Proletariat, das die Bauernschaft um sich vereinigt, neutralisiert die liberale Bourgeoisie und vernichtet die Monarchie, den mittelalterlichen gutsherrlichen Grundbesitz vollständig.

In dem Bündnis des Proletariats mit der Bauernschaft überhaupt tritt auch der bürgerliche Charakter der Revolution zutage, denn die Bauern überhaupt sind Kleinproduzenten, die auf dem Boden der Warenproduktion stehen. Weiterhin, fügten damals schon die Bolschewiki hinzu, zieht das Proletariat das gesamte Halbproletariat (alle Ausgebeuteten und Werktätigen) zu sich herüber, neutralisiert die mittlere Bauernschaft und stürzt die Bourgeoisie: darin besteht die sozialistische Revolution zum Unterschied von der bürgerlich-demokratischen. (Siehe meine Broschüre aus dem Jahre 1905: „Zwei Taktiken", nachgedruckt in dem Sammelband: „Zwölf Jahre", Petersburg 1907.2)

Kautsky nahm 1905 an dieser Diskussion indirekt teil; auf eine Anfrage des damaligen Menschewiken Plechanow sprach er sich dem Wesen der Sache nach gegen Plechanow aus, was damals den besonderen Spott der bolschewistischen Presse hervorrief. Jetzt erwähnt Kautsky mit keinem Sterbenswort die damaligen Diskussionen (er fürchtet, durch seine eigenen Äußerungen bloßgestellt zu werden!) und nimmt dadurch dem deutschen Leser jede Möglichkeit, das Wesen der Sache zu begreifen. Herr Kautsky konnte den deutschen Arbeitern 1918 nicht erzählen, wie er 1905 für ein Bündnis der Arbeiter mit den Bauern, und nicht mit der liberalen Bourgeoisie gewesen war, und unter welchen Bedingungen er dieses Bündnis verteidigt, was für ein Programm er für dieses Bündnis entworfen hatte.

Kautsky, der sich zurückentwickelt hat, verteidigt heute unter dem Schein einer „ökonomischen Analyse" mit arroganten Phrasen über „historischen Materialismus" die Unterwerfung der Arbeiter unter die Bourgeoisie, indem er mit Hilfe von Zitaten aus den Schriften des Menschewiken Maslow die alten liberalen Ansichten der Menschewiki wiederkäut; dabei wird mit Zitaten der neue Gedanke von der Rückständigkeit Russlands bewiesen und aus diesem neuen Gedanken eine alte Schlussfolgerung gezogen in dem Sinne, man dürfe in einer bürgerlichen Revolution nicht weiter gehen als die Bourgeoisie! Und das trotz allem, was Marx und Engels beim Vergleich der bürgerlichen Revolution von 1789-1793 in Frankreich mit der bürgerlichen Revolution von 1848 in Deutschland gesagt haben!

Bevor wir zum wichtigsten „Argument" und zum Hauptinhalt der „ökonomischen Analyse" Kautskys übergehen, wollen wir bemerken, dass gleich die ersten Sätze einen grotesken Gedankenwirrwarr oder mangelnde Durchdachtheit der Gedanken des Verfassers offenbaren.

Die ökonomische Grundlage Russlands", verkündet unser „Theoretiker", „ist heute noch die Landwirtschaft, und zwar der bäuerliche Kleinbetrieb. Von ihm leben etwa vier Fünftel, vielleicht sogar fünf Sechstel seiner Bewohner." (S. 45.) Erstens, mein lieber Theoretiker, haben Sie darüber nachgedacht, wie groß die Zahl der Ausbeuter unter dieser Masse von Kleinproduzenten sein mag? Gewiss nicht größer als ein Zehntel ihrer Gesamtzahl, und in den Städten noch weniger, denn dort ist die Großproduktion stärker entwickelt. Nehmen Sie sogar eine unwahrscheinlich große Zahl, nehmen Sie an, dass ein Fünftel der Kleinproduzenten Ausbeuter sind, die das Stimmrecht verlieren. Auch dann ergibt sich, dass die 66 Prozent Bolschewiki auf dem V. Sowjetkongress die Mehrheit der Bevölkerung vertraten. Dem ist noch hinzuzufügen, dass unter den linken Sozialrevolutionären stets ein beträchtlicher Teil für die Sowjetmacht war, d. h. im Prinzip waren alle linken Sozialrevolutionäre für die Sowjetmacht, und als ein Teil von ihnen sich im Juli 1918 auf das Abenteuer des Aufstandes einließ, da sonderten sich von ihrer alten Partei zwei neue Parteien ab – die „Volkstümler-Kommunisten" und die „Revolutionären Kommunisten"3 (darunter waren angesehene linke Sozialrevolutionäre, die noch die alte Partei auf die wichtigsten Posten im Staate gestellt hatte; zu der ersteren gehörte z. B. Sachs, zur letzteren Kolegajew). Kautsky hat folglich selber – unversehens! – die lachhafte Mär widerlegt, dass hinter den Bolschewiki die Minderheit der Bevölkerung stehe.

Zweitens, mein lieber Theoretiker, haben Sie bedacht, dass der bäuerliche Kleinproduzent unvermeidlich zwischen Proletariat und Bourgeoisie hin und her schwankt? Diese durch die ganze neueste Geschichte Europas bestätigte marxistische Wahrheit hat Kautsky sehr zur rechten Zeit „vergessen", denn sie zerschlägt restlos die ganze von ihm wiederholte menschewistische „Theorie"! Hätte Kautsky das nicht „vergessen", so könnte er die Notwendigkeit der Diktatur des Proletariats in einem Lande, in dem die bäuerlichen Kleinproduzenten überwiegen, nicht verneinen.

Betrachten wir nun den Hauptinhalt der „ökonomischen Analyse" unseres Theoretikers.

Dass die Sowjetmacht eine Diktatur ist, ist unbestreitbar, sagt Kautsky. „Aber ob gerade Diktatur des Proletariats?"

Sie (die Bauern) bilden unter der Sowjetverfassung die Mehrheit der zur Teilnahme an der Gesetzgebung und Regierung berechtigten Bevölkerung. Was uns als Diktatur des Proletariats hingestellt wird, würde sich, wenn es konsequent durchgeführt würde und eine Klasse überhaupt direkt die Diktatur auszuüben vermöchte, was nur einer Partei möglich ist, zu einer Diktatur der Bauernschaft gestalten." (S. 35.)

Und, außerordentlich zufrieden mit dieser tiefsinnigen und geistreichen Argumentation, versucht der gute Kautsky zu witzeln: „Es scheint also, als sei die schmerzloseste Durchführung des Sozialismus dann gesichert, wenn sie in die Hände der Bauern gelegt wird." (S. 35.)

Sehr ausführlich, an Hand einer ganzen Reihe außerordentlich gelehrter Zitate aus Publikationen des halbliberalen Maslow, beweist unser Theoretiker den neuen Gedanken, dass die Bauern an hohen Getreidepreisen, an niedrigen Löhnen der städtischen Arbeiter u. a. m. interessiert seien. Diese neuen Gedanken werden, nebenbei bemerkt, um so langweiliger dargelegt, je geringere Beachtung den wirklich neuen Erscheinungen der Nachkriegszeit geschenkt wird, z. B. der Tatsache, dass die Bauern für Getreide nicht Geld, sondern Waren fordern, dass es ihnen an Geräten mangelt, die man um keinen Preis in genügender Anzahl bekommen kann. Darauf kommen wir noch besonders zu sprechen.

Kautsky beschuldigt also die Bolschewiki, die Partei des Proletariats, dass sie die Diktatur, die Durchführung des Sozialismus in die Hände der kleinbürgerlichen Bauernschaft gelegt habe. Ausgezeichnet, Herr Kautsky! Welcher Art sollten denn nach Ihrer erleuchteten Meinung die Beziehungen der Partei des Proletariats zur kleinbürgerlichen Bauernschaft sein?

Unser Theoretiker hat es vorgezogen, sich darüber auszuschweigen, wohl eingedenk des Sprichwortes: „Reden ist Silber, Schweigen ist Gold." Durch die folgende Erörterung aber hat sich Kautsky selbst verraten:

In ihren (der Sowjetrepublik) Anfängen bildeten die bäuerlichen Sowjets die Organisationen der Bauernschaft überhaupt. Heute verkündet sie, die Sowjets stellten die Organisationen der Proletarier und der armen Bauern dar. Die Wohlhabenden verlieren das Wahlrecht zu den Sowjets. Der arme Bauer wird hier als dauerndes und massenhaftes Produkt der sozialistischen Agrarreform der ,Diktatur des Proletariats' anerkannt." (S. 481.)

Welch tödliche Ironie! Man kann sie in Russland von jedem beliebigen Bourgeois zu hören bekommen: voller Schadenfreude spotten sie alle darüber, dass die Sowjetrepublik offen die Existenz armer Bauern zugibt. Sie lachen über den Sozialismus. Das ist ihr gutes Recht. Ein „Sozialist" aber, der darüber lachen kann, dass es bei uns nach dem überaus verheerenden vierjährigen Kriege arme Bauern gibt – und noch lange geben wird –, ein solcher „Sozialist" konnte nur in einer Atmosphäre des Massenrenegatentums entstehen. Man höre weiter:

Sie (die Sowjetrepublik) greift allerdings in das Verhältnis zwischen reicheren und ärmeren Bauern ein, jedoch nicht durch eine neue Bodenverteilung. Um dem Mangel der Städter an Lebensmitteln abzuhelfen, wurden Abteilungen bewaffneter Arbeiter auf die Dörfer geschickt, die den reicheren Bauern ihren Überschuss an Lebensmitteln abnahmen. Ein Teil wurde der städtischen Bevölkerung zugewiesen, ein Teil den ärmeren Bauern." (S. 48.)

Selbstverständlich, der Sozialist und Marxist Kautsky ist tief empört bei dem Gedanken, dass sich eine solche Maßnahme über die Umgebung der größeren Städte hinaus erstrecken könnte (sie erstreckt sich aber bei uns auf das ganze Land). Der Sozialist und Marxist Kautsky bemerkt belehrend mit der unnachahmlichen, unvergleichlichen, entzückenden Kaltblütigkeit (oder mit dem Stumpfsinn) eines Philisters: „ … Nur tragen sie (die Expropriierungen wohlhabender Bauern) ein neues Element der Unruhe und des Bürgerkrieges in den Produktionsprozess hinein …" (der in den „Produktionsprozess" hinein getragene Bürgerkrieg – das ist schon etwas Übernatürliches!) „…der zu seiner Gesundung der Ruhe und Sicherheit dringend bedarf." (S. 49.)

Ja, ja, wegen der Ruhe und Sicherheit der Ausbeuter und Getreidespekulanten, die die Getreideüberschüsse verstecken, das Gesetz über das Getreidemonopol durchbrechen und die städtische Bevölkerung dem Hunger ausliefern – deswegen muss der Marxist und Sozialist Kautsky selbstverständlich seufzen und Tränen vergießen. Wir alle sind Sozialisten, Marxisten und Internationalisten – schreien im Chor die Herren Kautsky, Heinrich Weber4 (Wien), Longuet (Paris), Macdonald (London) usw.-, wir alle sind für die Revolution der Arbeiterklasse, aber… aber nur so, dass die Ruhe und Sicherheit der Getreidespekulanten nicht gestört werde! Und diese schmutzige Liebedienerei vor den Kapitalisten tarnen wir durch den „marxistischen" Hinweis auf den „Produktionsprozess"…Wenn das Marxismus ist, was nennt man dann Lakaientum gegenüber der Bourgeoisie?

Man sehe, was da bei unserem Theoretiker herausgekommen ist. Er beschuldigt die Bolschewiki, sie gäben die Diktatur der Bauernschaft für die Diktatur des Proletariats aus. Und gleichzeitig beschuldigt er uns, dass wir den Bürgerkrieg ins Dorf tragen (was wir uns als Verdienst anrechnen), dass wir bewaffnete Arbeiterabteilungen aufs Dorf schicken, die offen verkünden, dass sie die „Diktatur des Proletariats und der armen Bauern" verwirklichen, den letzteren helfen und bei den Spekulanten und Großbauern das überschüssige Getreide enteignen, das diese unter Verletzung des Gesetzes über das Getreidemonopol verstecken.

Einerseits tritt unser marxistischer Theoretiker für die reine Demokratie ein, für die Unterordnung der revolutionären Klasse, der Führerin der Werktätigen und Ausgebeuteten, unter die Mehrheit der Bevölkerung (einschließlich also auch der Ausbeuter). Anderseits setzt er gegen uns die Unvermeidlichkeit des bürgerlichen Charakters der Revolution auseinander, bürgerlich deshalb, weil die Bauernschaft in ihrer Gesamtheit auf dem Boden der bürgerlichen gesellschaftlichen Verhältnisse steht; gleichzeitig erhebt er aber Anspruch darauf, den proletarischen, marxistischen Klassenstandpunkt zu vertreten!

Anstatt einer „ökonomischen Analyse" – ein Brei und ein Wirrwarr erster Sorte. Anstatt Marxismus – Bruchstücke liberaler Lehren und die Predigt des Lakaientums gegenüber der Bourgeoisie und den Kulaken.

Die durch Kautsky verwirrte Frage haben die Bolschewiki bereits 1905 völlig geklärt. Ja, unsere Revolution ist eine bürgerliche, solange wir mit der Bauernschaft in ihrer Gesamtheit zusammengehen. Das erkannten wir klipp und klar, das haben wir seit 1905 hunderte und tausende Male gesagt, und niemals haben wir versucht, diese notwendige Stufe des historischen Prozesses zu überspringen oder durch Dekrete zu beseitigen. Die krampfhaften Bemühungen Kautskys, uns in diesem Punkt „bloßzustellen", stellen nur die Verworrenheit seiner Ansichten und seine Furcht bloß, sich an das zu erinnern, was er 1905 geschrieben hat, als er noch kein Renegat war.

Aber seit April 1917, lange vor der Oktoberrevolution, lange bevor wir die Macht ergriffen, sagten wir dem Volk offen und klärten es darüber auf, dass die Revolution nunmehr dabei nicht stehenbleiben könne, denn das Land ist vorwärtsgegangen, der Kapitalismus hat Fortschritte gemacht, unerhörte Ausmaße hat die Zerrüttung angenommen, die (ob,man will oder nicht) das Vorwärtsschreiten zum Sozialismus erfordern wird. Denn es ist unmöglich, anders vorwärtszukommen, anders das durch den Krieg erschöpfte Land zu retten, anders die Qualen der Werktätigen und Ausgebeuteten zu mildern.

Und es kam denn auch so, wie wir gesagt hatten. Der Verlauf der Revolution hat die Richtigkeit unserer Argumentation bestätigt. Zuerst zusammen mit der „ganzen" Bauernschaft gegen die Monarchie, gegen die Gutsbesitzer, gegen das Mittelalterliche (und insoweit bleibt die Revolution eine bürgerliche, bürgerlich-demokratische Revolution). Dann zusammen mit der armen Bauernschaft, zusammen mit dem Halbproletariat, zusammen mit allen Ausgebeuteten gegen den Kapitalismus, einschließlich der Reichen im Dorf, der Kulaken, der Spekulanten, und insofern wird die Revolution zu einer sozialistischen Revolution. Der Versuch, künstlich eine chinesische Mauer zwischen dieser und jener aufzurichten, sie voneinander durch etwas anderes zu trennen als durch den Grad der Schulung des Proletariats und den Grad seines Zusammenschlusses mit der Dorfarmut, ist die größte Entstellung des Marxismus, seine Vulgarisierung, seine Ersetzung durch den Liberalismus. Das würde bedeuten, durch quasigelehrte Hinweise auf die Fortschrittlichkeit der Bourgeoisie im Verhältnis zu dem Mittelalterlichen eine gegenüber dem sozialistischen Proletariat reaktionäre Verteidigung der Bourgeoisie einzuschmuggeln.

Die Sowjets sind unter anderem gerade deshalb eine unermesslich höhere Form und ein höherer Typus der Demokratie, weil sie dadurch, dass sie die Masse der Arbeiter und Bauern zusammenschließen und in die Politik hineinziehen, ein dem „Volke" (in dem Sinne, wie Marx 1871 von einer wirklichen Volksrevolution sprach5) überaus nahes, äußerst empfindliches Barometer der Entwicklung und des Wachstums der politischen Reife, der Klassenreife der Massen bilden. Die Sowjetverfassung ist nicht nach irgendeinem „Plan" ausgearbeitet, nicht in Studierstuben verfasst und den Werktätigen durch bürgerliche Juristen aufgedrängt worden. Nein, diese Verfassung erwuchs aus dem Entwicklungsgang des Klassenkampfes, in dem Maße, wie die Klassengegensätze heranreiften. Gerade die Tatsachen, die Kautsky zugeben muss, beweisen das.

Anfangs umfassten die Sowjets die Bauernschaft in ihrer Gesamtheit. Die Unreife, Rückständigkeit, Unwissenheit gerade der armen Bauern gab die Führung in die Hände der Kulaken, der Begüterten, der Kapitalisten, des Kleinbürgertums, der kleinbürgerlichen Intellektuellen. Das war die Zeit der Herrschaft des Kleinbürgertums, der Menschewiki und der Sozialrevolutionäre (diese und jene für Sozialisten halten, können nur Dummköpfe oder Renegaten vom Schlage Kautskys). Das Kleinbürgertum schwankte unvermeidlich, unausbleiblich zwischen der Diktatur der Bourgeoisie (Kerenski, Kornilow, Sawinkow) und der Diktatur des Proletariats, denn die grundlegenden Eigentümlichkeiten seiner ökonomischen Stellung machen es zu irgendwelchem selbständigen Handeln unfähig. Beiläufig bemerkt, Kautsky sagt sich völlig vom Marxismus los, wenn er sich bei der Analyse der russischen Revolution auf den juristischen, formalen Begriff der „Demokratie" beschränkt, der der Bourgeoisie zur Tarnung ihrer Herrschaft und zum Betrug der Massen dient, und wenn er vergisst, dass „Demokratie" in Wirklichkeit manchmal die Diktatur der Bourgeoisie bedeutet, manchmal den ohnmächtigen Reformismus des Kleinbürgertums, das sich dieser Diktatur unterordnet usw. Nach Kautsky gab es in dem kapitalistischen Lande bürgerliche Parteien, gab es eine proletarische Partei (die Bolschewiki), die die Mehrheit des Proletariats, die proletarische Masse, hinter sich halte, aber es gab keine kleinbürgerlichen Parteien! Die Menschewiki und Sozialrevolutionäre hätten keine Klassengrundlage gehabt, wären nicht im Kleinbürgertum verwurzelt gewesen!

Die Schwankungen des Kleinbürgertums, der Menschewiki und der Sozialrevolutionäre, haben die Massen aufgeklärt und sie in ihrer ungeheuren Mehrheit – alle „unteren Schichten", alle Proletarier und Halbproletarier – von diesen „Führern" abgestoßen.

In den Sowjets erhielten die Bolschewiki das Übergewicht (in Petrograd und Moskau gegen Oktober 1917), in den Reihen der Sozialrevolutionäre und der Menschewiki vertiefte sich die Spaltung.

Die siegreiche bolschewistische Revolution bedeutete das Ende der Schwankungen, bedeutete die völlige Zerstörung der Monarchie und des gutsherrlichen Grundbesitzes (bis zur Oktoberrevolution war er nicht zerstört). Die bürgerliche Revolution wurde von uns zu Ende geführt. Die Bauernschaft ging als Ganzes mit uns. Ihr Gegensatz zum sozialistischen Proletariat konnte nicht im Nu zutage treten. Die Sowjets umfassten die Bauernschaft überhaupt. Die Klassenteilung innerhalb der Bauernschaft war noch nicht herangereift, trat noch nicht zutage.

Dieser Prozess kam im Sommer und Herbst 1918 zur Entwicklung. Der tschechoslowakische konterrevolutionäre Aufstand rüttelte die Kulaken auf. Durch Russland lief eine Welle von Kulakenaufständen. Die arme Bauernschaft lernte nicht aus Büchern, nicht aus Zeitungen, sondern aus dem Leben, dass ihre Interessen mit denen der Kulaken, der Reichen, der Dorfbourgeoisie nicht zu versöhnen sind. Die „linken Sozialrevolutionäre" widerspiegelten, wie jede kleinbürgerliche Partei, die Schwankungen der Massen, und eben im Sommer 1918 spalteten sie sich: der eine Teil ging mit den Tschechoslowaken (der Aufstand in Moskau, als Proschjan das Telegraphenamt – für eine Stunde! – besetzte und Russland den Sturz der Bolschewiki verkündete, dann der Verrat Murawjows6, des Oberbefehlshabers der Armee gegen die Tschechoslowaken, usw.), der andere, oben erwähnte Teil blieb bei den Bolschewiki.

Die Verschärfung der Lebensmittelnot in den Städten spitzte die Frage des Getreidemonopols immer mehr zu (das der Theoretiker Kautsky in seiner ökonomischen Analyse „vergessen" hat, die die vor zehn Jahren bei Maslow herausgelesenen Abc-Weisheiten nachplappert!).

Der alte Staat der Gutsbesitzer und der Bourgeoisie, ja sogar der demokratisch-republikanische Staat schickte ins Dorf bewaffnete Abteilungen, die faktisch der Bourgeoisie; zur Verfügung standen. Davon weiß Herr Kautsky nichts! Darin erblickt er keine „Diktatur der Bourgeoisie". Gott bewahre! Das ist „reine Demokratie", besonders wenn ein bürgerliches Parlament seinen Segen dazu gegeben hätte! Dass Awxentjew und S. Maslow in trauter Gemeinschaft mit Kerenski, Zereteli und ähnlichem Volk der Sozialrevolutionäre und Menschewiki im Sommer und Herbst 1917 die Mitglieder der Bodenkomitees verhaften ließen – davon hat Kautsky „nichts gehört", darüber schweigt er!

Die Sache ist einfach die, dass der bürgerliche Staat, der die Diktatur der Bourgeoisie vermittels der demokratischen Republik verwirklicht, vor dem Volke nicht zugeben kann, dass er der Bourgeoisie dient, dass er die Wahrheit nicht sagen kann, dass er gezwungen ist, zu heucheln.

Ein Staat vom Typus der Kommune aber, der Sowjetstaat, sagt dem Volke offen und unumwunden die Wahrheit und erklärt ihm, dass er die Diktatur des Proletariats und der armen Bauernschaft ist; und gerade durch diese Wahrheit gewinnt er Millionen und aber Millionen neuer Bürger für sich, die in jeder beliebigen demokratischen Republik geduckt worden waren, die durch die Sowjets in die Politik, in die Demokratie, in die Verwaltung des Staates hineingezogen werden. Die Sowjetrepublik schickt bewaffnete Arbeiterabteilungen ins Dorf; in erster Linie die fortgeschritteneren Arbeiter der Hauptstädte. Diese Arbeiter tragen den Sozialismus ins Dorf, ziehen die Dorfarmut auf ihre Seite, organisieren sie und klären sie auf, helfen ihr, den Widerstand der Bourgeoisie zu unterdrücken.

Alle, die die Dinge kennen und im Dorfe waren, sagen, dass unser Dorf erst im Sommer und Herbst 1918 die „Oktoberrevolution" (d. h. die proletarische Revolution) selbst durchmacht. Es tritt eine Wendung ein. Die Welle der Kulakenaufstände wird von dem Aufschwung der Dorfarmut, von dem Anwachsen der „Komitees der Dorfarmut" abgelöst. In der Armee wächst die Zahl der Kommissare, Offiziere, Divisions- und Armeekommandeure aus den Reihen der Arbeiter. Während7 Kautsky, durch die Julikrise (1918) und das Geheul der Bourgeoisie aufgeschreckt, geschäftig hinter ihr herläuft und eine ganze Broschüre schreibt, die von der Überzeugung getragen ist, dass die Bolschewiki am Vorabend ihres Sturzes durch die Bauernschaft stehen, während Kautsky8 in der Absplitterung der linken Sozialrevolutionäre eine „Verengerung" (S. 37) des Kreises jener erblickt, die die Bolschewiki unterstützen, wächst der wirkliche Kreis der Anhänger des Bolschewismus ins Unermessliche, denn Millionen und aber Millionen der Dorfarmut erwachen zu selbständigem politischen Leben und befreien sich von der Vormundschaft und dem Einfluss der Kulaken und der Dorfbourgeoisie.

Wir haben Hunderte von linken Sozialrevolutionären, charakterlosen Intellektuellen und Kulaken aus den Reihen der Bauern verloren, haben aber Millionen Vertreter der Dorfarmut gewonnen.*

Ein Jahr nach der proletarischen Revolution in den Hauptstädten ist unter ihrem Einfluss und mit ihrer Hilfe die proletarische Revolution in den abgelegensten Winkeln des flachen Landes zum Durchbruch gekommen, sie hat die Sowjetmacht und den Bolschewismus endgültig gefestigt und endgültig bewiesen, dass es im Innern des Landes keine Kräfte gegen sie gibt.

Nachdem das Proletariat Russlands zusammen mit der Bauernschaft überhaupt die bürgerlich-demokratische Revolution vollendet hatte, ging es endgültig zur sozialistischen Revolution über, als es ihm gelang, das Dorf zu spalten, die Proletarier und Halbproletarier zu sich herüber zu ziehen und sie zum Kampf gegen die Kulaken und die Bourgeoisie, einschließlich der bäuerlichen Bourgeoisie, zusammenzuschließen.

Hätte das bolschewistische Proletariat der Hauptstädte und der großen Industriezentren es nicht verstanden, die Dorfarmut gegen die reichen Bauern um sich zu scharen, dann wäre damit die „Unreife" Russlands für die sozialistische Revolution bewiesen worden, dann wäre die Bauernschaft ein „Ganzes", d. h. unter der wirtschaftlichen, politischen und geistigen Führung der Kulaken, der Reichen, der Bourgeoisie geblieben, dann hätte die Revolution nicht die Grenzen der bürgerlich-demokratischen Revolution überschritten. (Aber auch damit wäre – in Klammern gesagt – nicht bewiesen, dass das Proletariat die Macht nicht hätte ergreifen dürfen, denn nur das Proletariat hat die bürgerlich-demokratische Revolution wirklich zu Ende geführt, nur das Proletariat hat etwas Ernsthaftes für das Herannahen der proletarischen Weltrevolution getan, nur das Proletariat hat den Sowjetstaat geschaffen, der nach der Kommune der zweite Schritt zum sozialistischen Staat ist.)

Hätte anderseits das bolschewistische Proletariat gleich im Oktober-November 1917, ohne die Klassendifferenzierung im Dorfe abzuwarten, ohne sie vorbereitet und durchgeführt zu haben, den Bürgerkrieg oder die „Einführung des Sozialismus" im Dorf zu „dekretieren" versucht, hätte es versucht, ohne einen zeitweiligen Block (ein Bündnis) mit der gesamten Bauernschaft, ohne eine Reihe von Zugeständnissen an den Mittelbauer usw. auszukommen, so wäre das eine blanquistische Entstellung des Marxismus gewesen, wäre der Versuch einer Minderheit, der Mehrheit ihren Willen aufzuzwingen, ein theoretischer Widersinn und ein Nichtverstehen dessen gewesen, dass eine Revolution der gesamten Bauernschaft noch eine bürgerliche Revolution ist und dass es in einem rückständigen Lande ohne eine Reihe von Übergängen, von Übergangsstufen nicht möglich ist, diese zu einer sozialistischen zu machen.

Kautsky hat in der höchst wichtigen theoretischen und politischen Frage alles durcheinander geworfen und sich in der Praxis einfach als Lakai der Bourgeoisie erwiesen, der gegen die Diktatur des Proletariats zetert.

* * *

Eine ebensolche, wenn nicht noch größere Verwirrung hat Kautsky in einer anderen, höchst interessanten und wichtigen Frage angerichtet, nämlich in der Frage, ob die gesetzgeberische Tätigkeit der Sowjetrepublik bei der Umgestaltung der Agrarverhältnisse, dieser äußerst schwierigen und gleichzeitig sehr wichtigen sozialistischen Umgestaltung, im Prinzip richtig angepackt und dann zweckmäßig durchgeführt worden ist. Wir wären jedem westeuropäischen Marxisten unendlich dankbar, wenn er nach Kenntnisnahme auch nur der wichtigsten Dokumente eine Kritik unserer Politik gäbe, denn damit würde er uns außerordentlich helfen, würde auch der in der ganzen Welt heranreifenden Revolution helfen. Kautsky aber gibt statt einer solchen Kritik einen heillosen theoretischen Wirrwarr, der den Marxismus in Liberalismus verwandelt, und bringt praktisch nichts als leere, boshafte, spießerhafte Ausfälle gegen die Bolschewiki. Der Leser urteile selbst:

Der Großgrundbesitz wurde durch die Revolution unhaltbar. Das trat sofort klar zutage. Ihn der bäuerlichen Bevölkerung zu übergeben, wurde unvermeidlich…" (Das stimmt nicht, Herr Kautsky: Sie setzen das für Sie „Klare" an die Stelle des Verhaltens der verschiedenen Klassen zu dieser Frage; die Geschichte der Revolution hat bewiesen, dass die Regierung der Koalition des Bourgeois mit dem Kleinbürger, mit den Menschewiki und Sozialrevolutionären, eine Politik der Erhaltung des Großgrundbesitzes getrieben hat. Das haben insbesondere das Gesetz S. Maslows9 und die Verhaftungen der Mitglieder der Bodenkomitees bewiesen. Ohne die Diktatur des Proletariats hätte die „bäuerliche Bevölkerung" den Gutsbesitzer, der sich mit dem Kapitalisten vereinigt hatte, nicht besiegt.)

„ … Indes war man keineswegs einig darüber, in welchen Formen das geschehen sollte. Verschiedene Lösungen waren denkbar…" (Kautsky ist vor allem um das „einig sein" der „Sozialisten" besorgt, wer immer sich diesen Namen auch beilegen mag. Dass die Hauptklassen der kapitalistischen Gesellschaft zu verschiedenen Entscheidungen kommen müssen, vergisst er.) „ … Vom sozialistischen Standpunkt die rationellste wäre die gewesen, die Großbetriebe in Staatsbesitz zu übernehmen und durch die Bauern, die auf ihnen bisher als Lohnarbeiter tätig gewesen waren, nun in genossenschaftlichen Formen bearbeiten zu lassen. Indessen setzt diese Lösung eine Landarbeiterschaft voraus, wie sie Russland nicht besitzt. Eine andere Lösung hätte dahin gehen können, dass der Großgrundbesitz in Staatseigentum überging, jedoch in kleine Güter verteilt wurde, die von den landarmen Bauern in Pacht genommen wurden. Da wäre noch etwas vom Sozialismus dabei verwirklicht worden."

Kautsky zieht sich, wie immer, mit dem berühmten „einerseits – andrerseits" aus der Affäre. Er stellt verschiedene Lösungen nebeneinander, ohne dass ihm der Gedanke – der einzig reale, einzig marxistische Gedanke – kommt, welches die Übergangsstufen vom Kapitalismus zum Kommunismus unter den und den besonderen Verhältnissen sein müssen. In Russland gibt es landwirtschaftliche Lohnarbeiter, aber ihrer sind wenige, und die von der Sowjetregierung aufgeworfene Frage des Überganges zur Bodenbearbeitung durch Kommunen und Genossenschaften hat Kautsky nicht berührt. Das Sonderbarste ist jedoch, dass Kautsky in der Verpachtung kleiner Güter „etwas vom Sozialismus" erblicken will. In Wirklichkeit ist das eine kleinbürgerliche Losung, und „vom Sozialismus" gibt es hier keine Spur. Ist der den Boden verpachtende „Staat" nicht ein Staat vom Typus der Kommune, sondern eine parlamentarische bürgerliche Republik (eben das ist die ständige Voraussetzung Kautskys), so wird die Verpachtung kleiner Bodenstücke eine typisch liberale Reform sein.

Dass die Sowjetmacht jegliches Eigentum an Grund und Boden aufgehoben hat, verschweigt Kautsky. Noch schlimmer. Er begeht eine unglaubliche Fälschung und zitiert die Dekrete der Sowjetmacht so, dass das Wesentlichste unterschlagen wird.

Nachdem Kautsky erklärt hat, dass „der Kleinbetrieb, wo er nur kann, nach dem vollen Privateigentum an seinen Produktionsmitteln trachtet", dass die Konstituante die „einzige Autorität" wäre, die imstande sei, die Aufteilung zu verhindern (eine Behauptung, die in Russland Gelächter hervorrufen wird, denn jedermann weiß, dass bei den Arbeitern und Bauern nur die Sowjets Autorität besitzen, während die Konstituante zur Losung der Tschechoslowaken und Gutsbesitzer geworden ist) – fährt er fort:

Einer der ersten Beschlüsse der Sowjetregierung verordnete:

1. Das gutsherrliche Eigentum an Grund und Boden wird ohne Entschädigung sofort aufgehoben.

2. Die Güter der Grundherren sowie die Apanagen-, Kloster- und Kirchengüter mit ihrem gesamten lebenden und toten Inventar, ihren Wirtschaftsgebäuden und allem Zubehör gehen, bis zur Entscheidung der Bodenfrage durch die Konstituierende Versammlung, in die Verfügung der Bezirksbodenkomitees der Kreisräte der Bauerndeputierten über."

Kautsky zitiert nur diese zwei Punkte und zieht dann die Schlussfolgerung:

Die Verweisung auf die Konstituierende Versammlung blieb toter Buchstabe. Tatsächlich konnten die Bauern der einzelnen Bezirke mit dem Gutsbesitz anfangen, was sie wollten." (S. 47.)

Da haben wir Musterbeispiele Kautskyscher „Kritik"! Da haben wir die „wissenschaftliche" Arbeit, die eher einer Fälschung gleichkommt. Dem deutschen Leser wird beigebracht, die Bolschewiki hätten in der Frage des Privateigentums am Boden vor den Bauern kapituliert! Die Bolschewiki hätten den Bauern anheim gestellt, einzeln („der einzelnen Bezirke") zu machen was sie wollen!

In Wirklichkeit aber besteht das von Kautsky zitierte Dekret – das erste, am 8. November (26. Oktober) 191710 erlassene Dekret – nicht aus zwei, sondern aus fünf Artikeln plus acht Paragraphen der „Instruktion", von der ausdrücklich gesagt wird, dass sie „als Richtschnur dienen soll".

Im Artikel 3 des Dekrets heißt es, dass die Wirtschaften „ins Eigentum des Volkes" übergehen, dass die Aufstellung eines „genauen Verzeichnisses des gesamten der Beschlagnahme unterliegenden Besitzes" und die „strengste revolutionäre Bewachung" obligatorisch sind. Und in der „Instruktion" heißt es, dass „das Recht des Privateigentums an Grund und Boden für immer aufgehoben wird", dass „Ländereien mit hochentwickelten Wirtschaften" „nicht der Aufteilung unterliegen", dass „das gesamte tote und lebende Inventar der konfiszierten Ländereien, je nach ihrer Größe und Bedeutung", ohne jede Entschädigung in die ausschließliche Nutzung des Staates oder der Gemeinden übergeht, dass „der gesamte Boden in den Bodenfonds übergeht, der Eigentum des ganzen Volkes ist".

Ferner wurde gleichzeitig mit der Auflösung der Konstituierenden Versammlung (5. I. 1918) von dem III. Sowjetkongress die „Deklaration der Rechte des werktätigen und ausgebeuteten Volkes"11 angenommen, die jetzt in das Grundgesetz der Sowjetrepublik aufgenommen worden ist. In Artikel 2, Punkt 1 dieser Deklaration heißt es, dass das „Privateigentum an Grund und Boden abgeschafft wird" und dass die „Mustergüter und landwirtschaftlichen Musterbetriebe zu Nationaleigentum erklärt werden".

Die Verweisung auf die Konstituierende Versammlung ist also kein toter Buchstabe geblieben, denn eine andere allgemeine Volksvertretung, die in den Augen der Bauern unvergleichlich angesehener ist, hat die Lösung der Agrarfrage auf sich genommen.

Weiter, am 19. (6.) Februar 1918 wurde das Gesetz über die Sozialisierung des Grund und Bodens veröffentlicht, das nochmals die Abschaffung jeglichen Eigentums an Grund und Boden bestätigt und die Verfügung sowohl über den Boden als auch über das gesamte private Inventar den Sowjetbehörden, unter Kontrolle der föderativen Sowjetmacht, überträgt; als Aufgaben der Verfügung über den Grund und Boden werden aufgestellt

die Entwicklung der kollektiven Wirtschaft in der Landwirtschaft als vorteilhafter im Sinne einer Ersparnis an Arbeit und Produkten, auf Kosten der Einzelwirtschaften, zum Zweck des Überganges zur sozialistischen Wirtschaft". (Artikel 11, Punkt e.)

Indem dieses Gesetz die ausgleichende Bodennutzung einführt, antwortet es auf die grundlegende Frage: „Wer ist zur Bodennutzung berechtigt?" folgendermaßen:

Artikel 20. Einzelne Bodenparzellen dürfen im Bereich der Russischen Föderativen Sowjetrepublik für gesellschaftliche sowie für persönliche Bedürfnisse benutzen: A. Zu Kultur- und Bildungszwecken: 1. Der Staat, vertreten durch die Organe der Sowjetmacht (Föderative, Gebiets-, Gouvernements-, Kreis-, Bezirks- und Dorfbehörden); 2. gesellschaftliche Organisationen (unter Kontrolle, und mit Genehmigung der örtlichen Sowjetbehörden). B. Zu landwirtschaftlicher Benutzung: 3. landwirtschaftliche Kommunen; 4. landwirtschaftliche Genossenschaften; 5. Dorfgemeinden; 6. einzelne Familien und Personen…"

Der Leser sieht, dass Kautsky die Sache vollkommen entstellt und die Agrarpolitik und die Agrargesetzgebung des proletarischen Staates in Russland dem deutschen Leser absolut falsch dargestellt hat.

Die theoretisch wichtigen, grundlegenden Fragen hat Kautsky nicht einmal aufzuwerfen verstanden! Diese Fragen sind die folgenden:

1. Die Ausgleichung der Bodennutzung und

2. Die Nationalisierung des Grund und Bodens – das Verhältnis dieser beiden Maßnahmen zum Sozialismus im Allgemeinen und zum Übergang vom Kapitalismus zum Kommunismus, im Besonderen.

3. Die gesellschaftliche Bodenbearbeitung als Übergang von dem kleinen, zersplitterten zum großen, gesellschaftlichen Ackerbau. Entspricht die Behandlung dieser Frage in der Sowjetgesetzgebung den Anforderungen des Sozialismus?

Zur ersten Frage muss man vor allen Dingen die beiden folgenden grundlegenden Tatsachen feststellen: a) Die Bolschewiki haben sowohl bei der Auswertung der Erfahrung von 1905 (ich verweise z. B. auf meine Arbeit über die Agrarfrage in der ersten russischen Revolution)12 auf die demokratisch-fortschrittliche, demokratisch-revolutionäre Bedeutung der Losung von der ausgleichenden Bodennutzung hingewiesen als auch im Jahre 1917, vor der Oktoberrevolution, mit aller Bestimmtheit darüber gesprochen, b) Bei der Durchführung des Gesetzes über die Sozialisierung des Bodens – eines Gesetzes, dessen „Seele" die Losung von der ausgleichenden Bodennutzung ist – haben die Bolschewiki mit der größten Genauigkeit und Bestimmtheit erklärt: diese Idee ist nicht die unsere, wir sind mit einer solchen Losung nicht einverstanden, wir halten es für unsere Pflicht, sie durchzuführen, weil sie die Forderung der überwältigenden Mehrheit der Bauern ist. Die Ideen und Forderungen der Mehrheit der Werktätigen aber müssen von ihnen selbst überwunden werden; diese Forderungen kann man weder „aufheben" noch „überspringen". Wir Bolschewiki werden der Bauernschaft helfen, die kleinbürgerlichen Losungen zu überwinden, von ihnen so schnell und so leicht wie möglich zu sozialistischen Losungen überzugehen.

Ein marxistischer Theoretiker, der mit seiner wissenschaftlichen Analyse der Arbeiterrevolution helfen wollte, müsste erstens darauf antworten, ob es richtig ist, dass die Idee der ausgleichenden Bodennutzung demokratisch-revolutionäre Bedeutung hat, die Bedeutung, dass die bürgerlich-demokratische Revolution bis ans Ende geführt wird? Zweitens, ob die Bolschewiki richtig gehandelt haben, als sie mit ihren Stimmen das kleinbürgerliche Gesetz über die ausgleichende Bodennutzung zur Annahme brachten (und es in loyalster Weise einhielten)?

Kautsky war nicht einmal imstande zu bemerken, worin, theoretisch gesehen, der Kern des Problems besteht!

Es dürfte Kautsky nie gelingen, die fortschrittliche und revolutionäre Bedeutung der Idee der ausgleichenden Bodennutzung in der bürgerlich-demokratischen Umwälzung zu widerlegen. Weiter kann diese Umwälzung nicht gehen. Bis zu Ende durchgeführt, enthüllt sie vor den Massen um so klarer, um so schneller und leichter die Unzulänglichkeit der bürgerlich-demokratischen Lösungen, die Notwendigkeit, über ihre Rahmen hinaus zum Sozialismus überzugehen.

Nachdem die Bauernschaft den Zarismus und die Gutsbesitzer abgeschüttelt hat, träumt sie von der ausgleichenden Bodennutzung, und keine Macht hätte sich den sowohl von den Gutsbesitzern als auch von dem bürgerlich-parlamentarischen, republikanischen Staat befreiten Bauern in den Weg stellen können. Die Proletarier sagen den Bauern: Wir werden euch helfen, den „idealen" Kapitalismus zu erreichen, denn die ausgleichende Bodennutzung ist eine Idealisierung des Kapitalismus vom Standpunkt des Kleinproduzenten. Und gleichzeitig werden wir euch die Unzulänglichkeit dieser Maßnahme und die Notwendigkeit des Überganges zur gesellschaftlichen Bodenbearbeitung nachweisen.

Es wäre interessant gewesen zu sehen, wie Kautsky die Richtigkeit einer solchen Führung des bäuerlichen Kampfes seitens des Proletariats zu widerlegen versucht hätte!

Kautsky hat es vorgezogen, der Frage auszuweichen…

Weiter, Kautsky hat die deutschen Leser direkt betrogen, indem er vor ihnen verheimlichte, dass die Sowjetmacht in dem Gesetz über den Boden die Kommunen und Genossenschaften direkt bevorzugte und sie an die erste Stelle setzte.

Zusammen mit der Bauernschaft bis zur Vollendung der bürgerlich-demokratischen Revolution – zusammen mit dem armen, dem proletarischen und halbproletarischen Teil der Bauernschaft vorwärts zur sozialistischen Revolution! Das war die Politik der Bolschewiki, und das war die einzige marxistische Politik.

Kautsky jedoch wird konfus und ist außerstande, auch nur eine einzige Frage aufzuwerfen! Einerseits wagt er nicht zu sagen, dass die Proletarier in der Frage der ausgleichenden Bodennutzung mit den Bauern hätten auseinandergehen sollen, denn er fühlt die Unsinnigkeit eines solchen Auseinandergehens (zudem hat er ja im Jahre 1905, als er noch kein Renegat war, klar und deutlich das Bündnis zwischen den Arbeitern und Bauern als Bedingung für den Sieg der Revolution verfochten). Anderseits zitiert Kautsky zustimmend liberale Plattheiten des Menschewiken Maslow, der den vom Standpunkt des Sozialismus utopischen und reaktionären Charakter der kleinbürgerlichen Gleichheit „beweist" und den vom Standpunkt der bürgerlich-demokratischen Revolution fortschrittlichen und revolutionären Charakter des kleinbürgerlichen Kampfes für die Gleichheit, für die Ausgleichung der Bodennutzung mit Stillschweigen übergeht.

Bei Kautsky kommt ein heilloser Wirrwarr heraus. Wohlgemerkt: Kautsky hält (1918) an dem bürgerlichen Charakter der russischen Revolution fest. Kautsky fordert (1918): überschreitet diesen Rahmen nicht! Und derselbe Kautsky erblickt „noch etwas vom Sozialismus" (für die bürgerliche Revolution) in einer kleinbürgerlichen Reform, in der Verpachtung kleiner Bodenstücke an die armen Bauern (d.h. in der Annäherung an die Ausgleichung der Bodennutzung)!!

Das verstehe, wer kann!

Kautsky offenbart außerdem noch ein philisterhaftes Unvermögen, sich an die tatsächliche Politik einer bestimmten Partei zu halten. Er zitiert Phrasen des Menschewiken Maslow, will aber nicht die tatsächliche Politik der Menschewiki im Jahre 1917 sehen, als sie, in „Koalition" mit Gutsbesitzern und Kadetten, faktisch für eine liberale Agrarreform und eine Verständigung mit den Gutsbesitzern eintraten. (Beweis: Die Verhaftung von Mitgliedern der Bodenkomitees und der Gesetzentwurf S. Maslows.)

Kautsky hat nicht bemerkt, dass die Phrasen P. Maslows über den reaktionären und utopischen Charakter der kleinbürgerlichen Gleichheit in Wirklichkeit die menschewistische Politik verschleiern, die an die Stelle des revolutionären Sturzes der Gutsbesitzer durch die Bauern die Verständigung zwischen Bauern und Gutsbesitzern (d. h. die Prellerei der Bauern durch die Gutsbesitzer) setzt.

Ein schöner „Marxist", dieser Kautsky!

Gerade die Bolschewiki haben den Unterschied der bürgerlich-demokratischen von der sozialistischen Revolution streng berücksichtigt: dadurch, dass sie jene zu Ende führten, öffneten sie das Tor für den Übergang zu dieser. Das ist die einzig revolutionäre und einzig marxistische Politik.

Vergebens wiederholt Kautsky die saftlosen liberalen Witze: „Noch nirgends und zu keiner Zeit sind Kleinbauern auf Grund theoretischer Überzeugungen zu kollektiver Produktion übergegangen." (S. 50.) Sehr geistreich!

Nirgends und zu keiner Zeit standen die Kleinbauern eines großen Landes unter dem Einfluss eines proletarischen Staates.

Nirgends und zu keiner Zeit gingen die Kleinbauern bis zum offenen Klassenkampf der armen Bauern gegen die reichen, bis zum Bürgerkrieg zwischen ihnen unter Verhältnissen, da die armen Bauern propagandistisch, politisch, wirtschaftlich und militärisch von der proletarischen Staatsmacht unterstützt werden.

Nirgends und zu keiner Zeit gab es eine solche Bereicherung der Spekulanten und Reichen durch den Krieg bei einer solchen Verelendung der Bauernmasse.

Kautsky wiederholt altes Zeug, drischt leeres Stroh und fürchtet sich, an die neuen Aufgaben der proletarischen Diktatur auch nur zu denken.

Was aber, verehrter Herr Kautsky, wenn es den Bauern an Geräten für den Kleinbetrieb mangelt und der proletarische Staat ihnen bei der Beschaffung von Maschinen- für die kollektive Bearbeitung des Bodens hilft, ist das „theoretische Überzeugung"?

Gehen wir zur Frage der Nationalisierung des Bodens über. Unsere Volkstümler, einschließlich aller linken Sozialrevolutionäre, leugnen, dass die bei uns durchgeführte Maßnahme eine Nationalisierung des Bodens ist. Sie sind theoretisch im Unrecht. Insoweit wir im Rahmen der Warenproduktion und des Kapitalismus verbleiben, ist die Aufhebung des Privateigentums an Grund und Boden die Nationalisierung des Bodens. Das Wort „Sozialisierung" drückt lediglich die Tendenz, den Wunsch, die Vorbereitung des Überganges zum Sozialismus aus.

Welche Stellung müssen nun die Marxisten zur Nationalisierung des Bodens einnehmen?

Kautsky versteht es auch hier nicht, die theoretische Frage auch nur zu stellen, oder – was noch schlimmer ist – er umgeht die Frage absichtlich, obgleich aus der russischen Literatur bekannt ist, dass Kautsky über die früheren Diskussionen unter den russischen Marxisten in der Frage der Nationalisierung des Bodens, der Munizipalisierung des Bodens (Übergabe der grollen Güter an die örtlichen Selbstverwaltungen) und der Bodenaufteilung unterrichtet ist.

Es ist geradezu ein Hohn auf den Marxismus, wenn Kautsky behauptet, dass durch den Übergang der großen Güter an den Staat und ihre Verpachtung in kleinen Parzellen an landarme Bauern „etwas vom Sozialismus" verwirklicht worden wäre. Wir haben bereits gezeigt, dass es hier nichts von Sozialismus gibt. Aber nicht genug damit: hier gibt es auch nichts von einer bis zu Ende durchgeführten bürgerlich- demokratischen Revolution.

Kautsky hat das große Pech gehabt, sich den Menschewiki anzuvertrauen. Daraus entstand das Kuriosum, dass Kautsky, der den bürgerlichen Charakter unserer Revolution verteidigt und die Bolschewiki beschuldigt, sie hätten sich in den Kopf gesetzt, zum Sozialismus zu kommen, selbst eine liberale Reform für Sozialismus ausgibt, ohne diese Reform bis zur vollständigen Säuberung der Besitzverhältnisse in der Landwirtschaft von dem ganzen mittelalterlichen Wust weiterzuführen! Kautsky hat sich, gleich seinen menschewistischen Ratgebern, als Verteidiger der liberalen Bourgeoisie, die vor der Revolution Angst hat, und nicht als Verteidiger einer konsequenten bürgerlich-demokratischen Revolution erwiesen.

In der Tat. Weshalb sollen nur die großen Güter und nicht alle Ländereien in Staatseigentum übergehen? Die liberale Bourgeoisie erreicht dadurch die weitestgehende Erhaltung des Alten (d. h. die geringste Konsequenz in der Revolution) und die größte Erleichterung für eine Rückkehr zum Alten. Die radikale Bourgeoisie, d. h. jene, die die bürgerliche Revolution bis zu Ende durchführt, stellt die Losung der Nationalisierung des Bodens auf.

Kautsky, der in längst vergangenen Zeiten, vor nahezu zwanzig Jahren, eine vortreffliche marxistische Arbeit über die Agrarfrage geschrieben hat, muss den Hinweis von Marx kennen, dass die Nationalisierung des Bodens gerade eine konsequente Losung der Bourgeoisie ist. Kautsky muss die Polemik Marxens gegen Rodbertus und die glänzenden Erläuterungen von Marx in den „Theorien über den Mehrwert"13 kennen, wo auch die im bürgerlich-demokratischen Sinne revolutionäre Bedeutung der Nationalisierung des Bodens besonders anschaulich nachgewiesen wird.

Der Menschewik P. Maslow, den sich Kautsky so unglücklich zum Ratgeber auserkoren hat, bestritt, dass die russischen Bauern auf die Nationalisierung des gesamten Bodens (einschließlich ihres eigenen) eingehen könnten. Bis zu einem gewissen Grade mochte diese Ansicht Maslows mit seiner „originellen" Theorie (die eine Wiederholung der bürgerlichen Marx-Kritiken darstellt) in Verbindung stehen, nämlich mit der Ablehnung der absoluten Rente und mit der Anerkennung des „Gesetzes" (oder der „Tatsache", wie Maslow sich ausdrückte) vom „abnehmenden Bodenertrag".

In Wirklichkeit stellte sich schon in der Revolution von 1905 heraus, dass die ungeheure Mehrheit der russischen Bauern, sowohl der Bauern der Dorfgemeinde als auch der Einzelhofbesitzer, für die Nationalisierung des gesamten Bodens eintritt. Die Revolution von 1917 hat das bestätigt und nach dem Übergang der Macht an das Proletariat auch verwirklicht. Die Bolschewiki sind dem Marxismus treu geblieben und haben nicht den Versuch gemacht, die bürgerlich-demokratische Revolution zu „überspringen" (entgegen den Behauptungen Kautskys, der uns, ohne den Schatten eines Beweises, dessen beschuldigt). Die Bolschewiki haben vor allem den radikalsten, den revolutionärsten, dem Proletariat am nächsten stehenden bürgerlich-demokratischen Ideologen der Bauernschaft, nämlich den linken Sozialrevolutionären geholfen, das durchzuführen, was faktisch die Nationalisierung des Bodens war. Das Privateigentum an Grund und Boden ist in Russland seit dem 8. November (26. Oktober) 1917, d. h. seit dem ersten Tage der proletarischen, sozialistischen Revolution, abgeschafft.

Damit ist das vom Standpunkt der Entwicklung des Kapitalismus vollkommenste Fundament (was Kautsky nicht bestreiten kann, ohne mit Marx zu brechen) und gleichzeitig auch das im Sinne des Übergangs zum Sozialismus geschmeidigste Agrarsystem geschaffen worden. Vom bürgerlich-demokratischen Standpunkt aus gesehen, kann die revolutionäre Bauernschaft in Russland nicht weiter gehen: etwas von diesem Standpunkt „Idealeres", etwas „Radikaleres" (von dem gleichen Standpunkt aus) als die Nationalisierung des Bodens und die Gleichheit der Bodennutzung kann es nicht geben. Gerade die Bolschewiki, nur die Bolschewiki, haben den Bauern lediglich infolge des Sieges der proletarischen Revolution dazu verholfen, die bürgerlich-demokratische Revolution wirklich zu Ende zu führen. Und nur dadurch haben sie ein Maximum geleistet für die Erleichterung und Beschleunigung des Überganges zur sozialistischen Revolution.

Danach kann man sich ein Bild machen von dem unglaublichen Wirrwarr, den Kautsky dem Leser vorsetzt, Kautsky, der die Bolschewiki beschuldigt, sie hätten den bürgerlichen Charakter der Revolution nicht begriffen, und der selbst eine solche Abkehr vom Marxismus offenbart, dass er die Nationalisierung des Bodens mit Stillschweigen übergeht und eine (vom bürgerlichen Standpunkt) am wenigsten revolutionäre liberale Agrarreform als „etwas vom Sozialismus" hinstellt! – –

Hier kommen wir zu der dritten der oben aufgeworfenen Fragen, zu der Frage, inwieweit die proletarische Diktatur in Russland der Notwendigkeit des Überganges zur gesellschaftlichen Bodenbearbeitung Rechnung getragen hat. Kautsky begeht hier wiederum etwas, das einer Fälschung sehr ähnlich ist: er zitiert nur die „Thesen" eines Bolschewiken, in denen von der Aufgabe des Überganges zur kollektiven Bodenbearbeitung die Rede ist! Nach der Zitierung einer dieser Thesen verkündet unser „Theoretiker" siegesbewusst:

Damit, dass man etwas für eine Aufgabe erklärt, ist sie leider noch nicht gelöst. Die kollektive Landwirtschaft ist in Russland einstweilen noch dazu verurteilt, auf dem Papier zu bleiben. Noch nirgends und zu keiner Zeit sind Kleinbauern auf Grund theoretischer Überzeugungen zu kollektiver Produktion übergegangen." (S. 50.)

Noch nirgends und zu keiner Zeit hat es eine solche literarische Gaunerei gegeben wie die, zu der Kautsky hinab gesunken ist. Er zitiert „Thesen" und verschweigt das Gesetz der Sowjetmacht. Er spricht von „theoretischer Überzeugung" und verschweigt, dass es eine proletarische Staatsmacht gibt, die sowohl die Betriebe als auch die Waren in ihren Händen hat! Alles, was der Marxist Kautsky im Jahre 1899 in der „Agrarfrage" über die Mittel geschrieben hat, die der proletarische Staat für die allmähliche Überführung der Kleinbauern in den Sozialismus in der Hand hat, ist von dem Renegaten Kautsky im Jahre 1918 vergessen.

Gewiss, einige hundert vom Staat unterstützte landwirtschaftliche Kommunen und Sowjetwirtschaften (d. h. von Arbeitergenossenschaften auf Staatsrechnung bearbeitete Großwirtschaften) ist noch sehr wenig. Kann man aber die Umgehung dieser Tatsache durch Kautsky etwa eine „Kritik" nennen?

Die in Russland von der proletarischen Diktatur durchgeführte Nationalisierung des Bodens gewährleistet am besten die vollständige Durchführung der bürgerlich-demokratischen Revolution – sogar für den Fall, dass der Sieg der Konterrevolution von der Nationalisierung zurück zur Aufteilung führen sollte (diesen Fall habe ich in der Broschüre über das Agrarprogramm der Marxisten in der Revolution von 1905 besonders analysiert14). Außerdem aber hat die Nationalisierung des Bodens dem proletarischen Staat die größten Möglichkeiten gegeben, zum Sozialismus in der Landwirtschaft überzugehen.

Das Fazit: Kautsky hat uns in der Theorie einen unglaublichen Brei sowie den völligen Verzicht auf den Marxismus, und in der Praxis Lakaientum gegenüber der Bourgeoisie und ihrem Reformismus vorgesetzt. Da ist nichts zu sagen: eine nette Kritik!

* * *

Die „ökonomische Analyse" der Industrie beginnt bei Kautsky mit der folgenden famosen Erörterung:

In Russland gibt es eine kapitalistische Großindustrie. Sollte sich auf dieser Grundlage nicht die sozialistische Produktionsweise aufrichten lassen? „Man könnte so meinen, wenn der Sozialismus darin bestände, dass die Arbeiter einzelner Fabriken und Bergwerke diese sich aneigneten, um jede von ihnen besonders zu bewirtschaften." (S. 52.) „Eben, wie ich das schreibe, am 5. August", fügt Kautsky hinzu, „wird aus Moskau eine Rede Lenins vom 2. August15 mitgeteilt, in der er gesagt haben soll: ,Die Arbeiter halten die Fabriken fest in ihren Händen, und die Bauern werden das Land den Gutsbesitzern nicht zurückgeben.' Die Parole: ,Die Fabrik den Arbeitern, der Boden den Bauern', war bisher nicht eine sozialdemokratische, sondern eine anarchistisch-syndikalistische Forderung." (S. 52-53.)

Wir haben diese Betrachtung ungekürzt wiedergegeben, damit die russischen Arbeiter, die früher Kautsky geachtet, und mit Recht geachtet haben, selbst die Methoden des Überläufers zur Bourgeoisie kennenlernen.

Man denke nur: am 5. August, als schon eine Menge von Dekreten über die Nationalisierung der Fabriken in Russland vorlag, wobei die Arbeiter sich keine einzige Fabrik „angeeignet" haben, sondern alle Fabriken in das Eigentum der Republik übergingen, am 5. August schärft Kautsky den deutschen Lesern auf Grund einer offensichtlich betrügerischen Auslegung eines Satzes aus einer meiner Reden ein, in Russland würden die Fabriken den einzelnen Arbeitern übergeben! Und dann wiederkäut er in Dutzenden und aber Dutzenden von Zeilen das alte Zeug, dass die Fabriken nicht einzeln an die Arbeiter übergeben werden dürfen!

Das ist keine Kritik, sondern die Methode eines Lakaien der Bourgeoisie, der von den Kapitalisten in Sold genommen ist, um die Arbeiterrevolution zu verleumden.

Die Fabriken müssen an den Staat, die Gemeinde oder die Konsumgenossenschaften übergeben werden – wiederholt Kautsky immer und immer wieder und fügt zum Schluss hinzu:

Diesen Weg hat man ja auch versucht, jetzt in Russland zu gehen." … Jetzt!! Was soll das denn heißen? Im August? Wie denn, konnte Kautsky nicht bei seinen Stein, Axelrod oder seinen anderen Freunden der russischen Bourgeoisie die Übersetzung wenigstens eines Dekrets über die Fabriken bestellen?

„ … Wie weit man dabei kommt, ist noch nicht abzusehen. Diese Seite der Sowjetrepublik ist jedenfalls von höchstem Interesse für uns, doch schwebt sie leider noch völlig im Dunkeln. An Dekreten fehlt es freilich nicht" (darum ignoriert Kautsky ihren Inhalt oder verschweigt ihn seinen Lesern), „wohl aber an zuverlässigen Nachrichten über das Wirken der Dekrete. Eine sozialistische Produktion ist unmöglich ohne eine umfassende, detaillierte, zuverlässige und rasch informierende Statistik. Zu einer solchen hat aber bisher die Sowjetrepublik noch nicht kommen können. Was wir über ihr ökonomisches Wirken erfahren, ist höchst widerspruchsvoll und entzieht sich jeder Nachprüfung. Auch das ist eine der Wirkungen der Diktatur und der Unterdrückung der Demokratie. Da die Freiheit der Presse und des Wortes fehlt,..'" (S. 53.)

So wird Geschichte geschrieben! Aus der „freien" Presse der Kapitalisten und der Dutow-Leute hätte Kautsky Nachrichten über die an die Arbeiter übergehenden Fabriken erhalten können… Wahrlich, er ist prächtig, dieser über den Klassen stehende „ernste Gelehrte"! Auch nicht eine einzige von den unendlich vielen Tatsachen, die bezeugen, dass die Fabriken nur der Republik übergeben werden, dass über die Fabriken ein Organ der Sowjetmacht, der Oberste Volkswirtschaftsrat, verfügt, das überwiegend aus von den Gewerkschaften gewählten Arbeitern gebildet ist, – nicht eine einzige dieser Tatsachen will Kautsky auch nur zur Sprache bringen. Hartnäckig, mit dem Starrsinn des „Mannes im Futteral", wiederholt Kautsky immer wieder das eine: gebt mir friedliche Demokratie ohne Bürgerkrieg, ohne Diktatur, nebst guter Statistik. (Die Sowjetrepublik hat ein Statistisches Amt geschaffen und alle besten statistischen Kräfte Russlands herangezogen, aber selbstverständlich kann man eine ideale Statistik nicht so bald bekommen.) Mit einem Wort: eine Revolution ohne Revolution, ohne rasenden Kampf, ohne Gewalt – das ist es, was Kautsky fordert. Das ist dasselbe, als wenn man Streiks ohne stürmische Leidenschaftlichkeit der Arbeiter und Unternehmer fordern würde. Man unterscheide doch einmal solchen „Sozialisten" von einem liberalen Dutzendbeamten!

Und gestützt auf solches „Tatsachenmaterial", d. h. mit voller Verachtung absichtlich den zahlreichen Tatsachen ausweichend, zieht Kautsky den „Schluss":

Es ist fraglich, ob das russische Proletariat an wirklichen praktischen Errungenschaften, nicht an Dekreten, in der Sowjetrepublik mehr erlangt hat, als es durch die Konstituante erlangt hätte, in der ebenfalls wie in den Sowjets Sozialisten, wenn auch anderer Färbung, überwogen." (S. 58.)

Eine Perle, nicht wahr? Wir raten den Verehrern Kautskys, diesen Ausspruch möglichst weit unter den russischen Arbeitern zu verbreiten, denn besseres Material zur Einschätzung seines politischen Niederganges hätte Kautsky nicht liefern können. Auch Kerenski war „Sozialist", Genossen Arbeiter, nur „anderer Färbung"! Der Historiker Kautsky begnügt sich mit dem Namen, dem Ruf, den sich die rechten Sozialrevolutionäre und die Menschewiki „angeeignet" haben. Von den Tatsachen, die davon sprechen, dass die Menschewiki und die rechten Sozialrevolutionäre unter Kerenski die imperialistische Politik und die Räubereien der Bourgeoisie unterstützt haben, will der Historiker Kautsky nicht einmal hören; dass die Konstituante gerade diesen Helden des imperialistischen Krieges und der bürgerlichen Diktatur die Mehrheit gebracht hatte, darüber schweigt er bescheiden. Und das nennt sich „ökonomische Analyse"!…

Zum Schluss noch ein Musterbeispiel „ökonomischer Analyse":

In der Tat sehen wir, dass die Sowjetrepublik nach neun Monaten des Bestehens, statt allgemeinen Wohlstand zu verbreiten, sich gezwungen fühlte zu erklären, woher der allgemeine Notstand herrühre." (S. 41.)

Die Kadetten haben uns an solche Äußerungen gewöhnt. Alle Lakaien der Bourgeoisie urteilen so in Russland: her mit dem allgemeinen Wohlstand nach Verlauf von neun Monaten – nach dem vierjährigen verheerenden Kriege, bei der allseitigen Unterstützung der Sabotage und der Aufstände der Bourgeoisie in Russland durch das ausländische Kapital. In der Sache ist absolut kein Unterschied, nicht die Spur eines Unterschiedes zwischen Kautsky und einem konterrevolutionären Bourgeois geblieben. Die süßlichen Reden, die „auf Sozialismus" gefälscht sind, wiederholen dasselbe, was die Kornilow-, Dutow- und Krasnow-Leute in Russland grob, ohne Umschweife, unverblümt sagen.

* * *

Die vorhergehenden Zeilen waren am 9. November 1918 niedergeschrieben. In der Nacht vom 9. zum 10. trafen aus Deutschland Nachrichten ein über den Beginn der siegreichen Revolution zuerst in Kiel und anderen nördlichen Städten und Hafenstädten, wo die Macht in die Hände der Arbeiter- und Soldatenräte übergegangen ist, dann auch in Berlin, wo ebenfalls der Rat die Macht übernommen hat.

Der Schluss, der mir noch zu der Broschüre über Kautsky und die proletarische Revolution zu schreiben übrigblieb, wird dadurch überflüssig.

10. November 1918

1 Im Manuskript: „Verteidigung".

2Siehe Sämtl. Werke, Bd. VIII, S. 33-144

3 „Volkstümler-Kommunisten" und „Revolutionäre Kommunisten" – Gruppen ehemaliger Mitglieder der Partei der „linken" Sozialrevolutionäre, die nach dem Putsch der „linken" Sozialrevolutionäre gegen die Sowjetmacht (6.-7. Juli 1918) aus dieser Partei austraten und unter den oben angeführten Namen eigene Gruppen organisierten.

4 Pseudonym von Otto Bauer.

5 Karl Marx, Brief an Kugelmann, 12. April 1871, Karl Marx, Friedrich Engels, Werke, Bd. 33, S. 205.

6 Murawjow, ein ehemaliger Generalstabsoffizier, war Oberbefehlshaber der Sowjettruppen, die im Osten Russlands gegen das tschechoslowakische Armeekorps operierten; er war eng verbunden mit den „linken" Sozialrevolutionären, die in Moskau gegen die Sowjetmacht einen Putsch unternahmen. Um den Putsch zu unterstützen, gab Murawjow verräterischerweise für die gesamte Front den Befehl, dass „die nach dem Osten vorrückenden Truppen umkehren und zum Angriff längs der Wolga übergehen" sollen, mit der Absicht, Moskau zu besetzen. Dieser Plan scheiterte, weil die Massen Murawjow nicht unterstützten und die Truppenteile, auf die der Verräter gerechnet hatte, ihm nicht folgten.

Am 11. Juli 1918 wurde Murawjow verhaftet; er leistete bei seiner Verhaftung Widerstand und wurde dabei getötet.

7 Im Manuskript folgt: „der Tropf".

8 Im Manuskript: „dieser Tropf".

* Auf dem VI. Rätekongress (7.-9. November 1918) waren 967 Delegierte mit beschließender Stimme anwesend, davon 950 Bolschewiki, und 851 Delegierte mit beratender Stimme, davon 335 Bolschewiki. Insgesamt 97 Prozent Bolschewiki. [Diese Fußnote fehlt im Manuskript.]

9 W. I. Lenin meint den Gesetzentwurf der Sozialrevolutionäre über die Übergabe der landwirtschaftlich genutzten Ländereien an die Bodenkomitees

Dieser Entwurf wurde der Provisorischen Regierung durch den Landwirtschaftsminister S. L. Maslow einige Tage vor der Oktoberrevolution zur Annahme vorgelegt. Infolge des Sturzes der Provisorischen Regierung durch die Oktoberrevolution wurde der Entwurf nicht zum Gesetz.

10 Siehe Sämtl. Werke, Bd. XXII, S. 19-23.

11 Siehe Sämtl. Werke, Bd. XXII, S. 617.

12 Siehe Lenin, Ausgew. Werke, Bd. 3, S. 167-168.

13 Karl Marx, Theorien über den Mehrwert. Hrsg. von Karl Kautsky. Stuttgart 1905 ff.

14 Siehe Sämtl. Werke, Band XI, S. 419 russ.

15 Siehe Sämtl. Werke, Band XXIII, S. 214-215.

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