Was ist Internationalismus?

WAS IST INTERNATIONALISMUS?

Kautsky hält sich aus tiefster Überzeugung für einen Internationalisten und bezeichnet sich auch als einen solchen. Die Scheidemänner erklärt er für „Regierungssozialisten". Dadurch, dass Kautsky die Menschewiki in Schutz nimmt (Kautsky sagt nicht geradeheraus, dass er mit ihnen solidarisch ist, vertritt aber vollkommen ihre Auffassungen) offenbarte er sehr anschaulich, von welcher Sorte sein „Internationalismus" ist. Da aber Kautsky kein Einzelgänger, sondern der Vertreter einer Strömung ist, die in dem Milieu der II. Internationale unvermeidlich entstehen musste (Longuet in Frankreich, Turati in Italien, Nobs und Grimm, Graber und Naine in der Schweiz, Ramsay Macdonald in England usw.), so wird es lehrreich sein, auf den „Internationalismus" Kautskys einzugehen.

Kautsky betont, dass auch die Menschewiki in Zimmerwald waren (zweifelsohne eine Legitimation, wenn auch eine… angefaulte Legitimation), und schildert die Ansichten der Menschewiki, mit denen er einverstanden ist, folgendermaßen:

„…die Menschewiki wollten den allgemeinen Frieden, und sie wollten, dass alle Kriegführenden die Parole annehmen: Keine Annexionen und Kontributionen. Solange dies nicht erreicht sei, solle die russische Armee Gewehr bei Fuß schlagfertig bleiben. Die Bolschewiki dagegen forderten den sofortigen Frieden um jeden Preis, sie waren bereit, wenn es sein müsse, ihn als Sonderfrieden zu schließen, und sie suchten ihn zu erzwingen, indem sie die ohnehin schon große Desorganisation der Armee nach Kräften förderten." (S. 27.) Die Bolschewiki hätten, nach der Meinung Kautskys, die Macht nicht an sich reißen und sich mit der Konstituante begnügen sollen.

Also, der Internationalismus Kautskys und der Menschewiki besteht in Folgendem: von der imperialistischen bürgerlichen Regierung Reformen verlangen, aber fortfahren, sie zu unterstützen; den von dieser Regierung geführten Krieg nach wie vor zu unterstützen, bis alle Kriegführenden die Parole angenommen haben: Keine Annexionen und Kontributionen. Eine solche Ansicht haben sowohl Turati als auch die Kautskyaner (Haase und andere) und auch Longuet und Konsorten wiederholt geäußert, indem sie erklärten: wir sind für die „Vaterlandsverteidigung".

Theoretisch ist das die vollkommene Unfähigkeit, sich von den Sozialchauvinisten zu trennen, sowie ein völliger Wirrwarr in der Frage der Vaterlandsverteidigung. Politisch ist das das Vertauschen des Internationalismus mit kleinbürgerlichem Nationalismus, sowie der Übergang ins Lager des Reformismus, das Verleugnen der Revolution.

Die Anerkennung der „Vaterlandsverteidigung" ist vom Standpunkt des Proletariats die Rechtfertigung des gegebenen Krieges, die Anerkennung seiner Rechtmäßigkeit. Und da der Krieg (sowohl unter der Monarchie als auch unter der Republik) ein imperialistischer Krieg bleibt, unabhängig davon, wo im gegebenen Augenblick – in meinem oder im fremden Lande – die feindlichen Truppen stehen, so ist die Anerkennung der Vaterlandsverteidigung in Wirklichkeit die Unterstützung der imperialistischen, räuberischen Bourgeoisie, ist völliger Verrat am Sozialismus. In Russland blieb auch unter Kerenski, in der bürgerlich-demokratischen Republik, der Krieg ein imperialistischer Krieg, denn er wurde von der Bourgeoisie als der herrschenden Klasse geführt (der Krieg ist aber die „Fortsetzung der Politik"); und besonders anschaulich kam der imperialistische Charakter des Krieges in den Geheimverträgen über die Aufteilung der Welt und die Ausplünderung fremder Länder zum Ausdruck, die der gewesene Zar mit den Kapitalisten Englands und Frankreichs geschlossen hatte.

Die Menschewiki betrogen schnöde das Volk dadurch, dass sie diesen Krieg einen Verteidigungs- oder revolutionären Krieg nannten, und Kautsky, der die menschewistische Politik gutheißt, billigt damit auch den Betrug am Volke, billigt die Rolle der Kleinbürger, die dem Kapital dadurch dienten, dass sie die Arbeiter prellten und sie vor den Karren der Imperialisten spannten. Kautsky treibt eine typisch spießbürgerliche, philisterhafte Politik, wenn er sich einbildet (und den Massen diesen albernen Gedanken einflößt), das Aufstellen einer Losung ändere etwas an der Sache, Die ganze Geschichte der bürgerlichen Demokratie entlarvt diese Illusion: um das Volk zu betrügen, haben die bürgerlichen Demokraten stets die beliebigsten „Losungen" ausgegeben und geben sie immer aus. Es handelt sich darum, ihre Aufrichtigkeit zu prüfen, die Worte mit den Taten zu vergleichen, sich nicht mit einer idealistischen oder marktschreierischen Phrase zufrieden zu geben, sondern zu suchen, der Klassenrealität auf den Grund zu kommen. Nicht dann hört der imperialistische Krieg auf, ein imperialistischer Krieg zu sein, wenn Scharlatane, Phrasendrescher oder kleinbürgerliche Philister eine süßliche „Losung" ausgeben, sondern erst dann, wenn die Klasse, die den imperialistischen Krieg führt und mit ihm durch Millionen wirtschaftlicher Fäden (sogar auch Taue) verknüpft ist, tatsächlich gestürzt worden ist und wenn die wirklich revolutionäre Klasse, das Proletariat, sie an der Macht ablöst. Anders ist dem imperialistischen Kriegund ebenso einem imperialistischen Raubfriedenunmöglich zu entrinnen.

Dadurch, dass Kautsky die Außenpolitik der Menschewiki gutheißt und sie als eine internationalistische, als Zimmerwalder Politik bezeichnet, beweist er erstens die ganze Verkommenheit der opportunistischen Zimmerwalder Mehrheit (nicht umsonst haben wir, die Zimmerwalder Linke, uns sofort von einer solchen Mehrheit abgegrenzt!), und zweitens – und das ist die Hauptsache – geht Kautsky von der Position des Proletariats zu der des Kleinbürgertums, von der revolutionären zu einer reformistischen Position über.

Das Proletariat kämpft für den revolutionären Sturz der imperialistischen Bourgeoisie, das Kleinbürgertum für eine reformistische „Vervollkommnung" des Imperialismus, für die Anpassung an ihn bei Unterordnung unter ihn. Als Kautsky noch Marxist war, z. B. im Jahre 1909, als er den „Weg zur Macht" verfasste, verfocht er gerade den Gedanken von der Unausbleiblichkeit der Revolution im Zusammenhang mit einem Krieg, sprach er von dem Nahen einer Ära der Revolutionen. Das Baseler Manifest von 1912 spricht klar und bestimmt von der proletarischen Revolution in Verbindung mit eben dem imperialistischen Krieg zwischen der deutschen und der englischen Mächtegruppe, der dann 1914 auch ausgebrochen ist. Und im Jahre 1918, als im Zusammenhang mit dem Krieg die Revolutionen begonnen hatten, da fing Kautsky an, anstatt ihre Unvermeidlichkeit zu erläutern, anstatt über die revolutionäre Taktik, über die Methoden und Wege zur Vorbereitung der Revolution nachzusinnen und sie konsequent zu durchdenken, die reformistische Taktik der Menschewiki als Internationalismus zu bezeichnen. Ist das etwa nicht Renegatentum?

Kautsky lobt die Menschewiki, weil sie auf Erhaltung der Kampffähigkeit des Heeres bestanden. Die Bolschewiki tadelt er, weil sie „die ohnehin schon große Desorganisation der Armee" noch verstärkten. Das heißt den Reformismus und die Unterordnung unter die imperialistische Bourgeoisie loben, die Revolution tadeln, sich von ihr lossagen. Denn die Erhaltung der Kampffähigkeit des Heeres bedeutete und war unter Kerenski die Erhaltung einer Armee unter bürgerlichem (wenn auch republikanischem) Kommando. Es ist allgemein bekannt – und der Gang der Ereignisse hat es anschaulich bestätigt –, dass diese republikanische Armee infolge des Kornilowschen Kommandobestandes den Kornilow-Geist bewahrt hatte. Das bürgerliche Offizierkorps musste vom Kornilow-Geist beseelt sein, musste zum Imperialismus, zur gewaltsamen Niederhaltung des Proletariats hinneigen. Alle Grundlagen des imperialistischen Krieges, alle Grundlagen der bürgerlichen Diktatur beim Alten lassen, an Kleinigkeiten herum flicken, Nichtigkeiten ein wenig übertünchen („Reformen") – darauf lief in Wirklichkeit die Taktik der Menschewiki hinaus.

Und umgekehrt. Ohne „Desorganisation" der Armee ist noch keine große Revolution ausgekommen und kann auch nicht auskommen. Denn die Armee ist das verknöchertste Werkzeug zur Unterstützung des alten Regimes, das festeste Bollwerk der bürgerlichen Disziplin, ein Werkzeug zur Stützung der Kapitalsherrschaft, zur Erhaltung und Züchtung sklavischer Unterwürfigkeit und Unterordnung der Werktätigen unter das Kapital. Die Konterrevolution hat nie bewaffnete Arbeiter neben der Armee geduldet und konnte sie nicht dulden. In Frankreich – schrieb Engels – waren nach jeder Revolution die Arbeiter bewaffnet; „für die am Staatsruder befindlichen Bourgeois war daher Entwaffnung der Arbeiter erstes Gebot." Die bewaffneten Arbeiter waren Keim einer neuen Armee, Organisationszelle der neuen Gesellschaftsordnung. Diese Zelle zu zertreten, sie nicht wachsen zu lassen, war das erste Gebot der Bourgeoisie. Das erste Gebot jeder siegreichen Revolution – Marx und Engels haben das viele Male betont – war: die alte Armee zu zerschlagen, sie aufzulösen, sie durch eine neue zu ersetzen. Eine neue zur Herrschaft aufsteigende Gesellschaftsklasse konnte niemals und kann auch jetzt nicht diese Herrschaft erlangen und befestigen, ohne das alte Heer völlig zersetzt zu haben („Desorganisation" – zetern aus diesem Anlass die reaktionären oder einfach feigen Spießer); ohne eine überaus schwere, qualvolle Zeit ohne jede Armee durchzumachen (diese qualvolle Periode hat auch die Große Französische Revolution durchgemacht); ohne im harten Bürgerkrieg allmählich die neue Armee, die neue Disziplin, die neue Militärorganisation der neuen Klasse herauszuarbeiten. Der Historiker Kautsky hat das früher begriffen. Der Renegat Kautsky hat es vergessen.

Welches Recht hat Kautsky, die Scheidemänner „Regierungssozialisten" zu nennen, wenn er die Taktik der Menschewiki in der russischen Revolution billigt? Die Menschewiki, die Kerenski unterstützten und in sein Ministerium eintraten, waren genauso Regierungssozialisten. Kautsky könnte sich dieser Schlussfolgerung keinesfalls entziehen, wenn er nur versuchen wollte, die Frage nach der herrschenden Klasse aufzuwerfen, die den imperialistischen Krieg führt. Aber Kautsky vermeidet es, die Frage nach der herrschenden Klasse aufzurollen, eine für den Marxisten obligatorische Frage; denn allein die Aufrollung dieser Frage würde den Renegaten entlarven.

Die Kautskyaner in Deutschland, die Longuetisten in Frankreich, die Turati und Konsorten in Italien argumentieren folgendermaßen: der Sozialismus setzt Gleichheit und Freiheit der Nationen, ihre Selbstbestimmung voraus; darum ist es Recht und Pflicht der Sozialisten, die Heimat zu verteidigen, wenn man unser Land überfällt oder wenn feindliche Heere in unser Land eingedrungen sind. Eine solche Argumentation ist aber theoretisch entweder eine vollkommene Verhöhnung des Sozialismus oder ein Gaunertrick, praktisch-politisch jedoch deckt sich diese Argumentation mit der eines ganz unwissenden Bäuerleins, das nicht fähig ist, sich über den sozialen, den Klassencharakter des Krieges und über die Aufgaben einer revolutionären Partei in einem reaktionären Krieg auch nur Gedanken zu machen.

Der Sozialismus ist gegen die Vergewaltigung der Nationen. Das ist unbestreitbar. Aber der Sozialismus ist überhaupt gegen die Gewaltanwendung Menschen gegenüber. Daraus hat jedoch außer den christlichen Anarchisten und Tolstoianern noch niemand gefolgert, dass der Sozialismus gegen die revolutionäre Gewalt sei. Von „Gewalt" schlechthin reden, ohne die Bedingungen zu analysieren, die die reaktionäre von der revolutionären Gewalt unterscheiden, heißt also ein Spießbürger sein, der die Revolution verleugnet, oder heißt einfach sich selbst und andere durch Sophistik betrügen.

Das gleiche gilt auch für die Vergewaltigung von Nationen. Jeder Krieg ist Gewaltanwendung gegenüber Nationen, das hindert aber die Sozialisten nicht, für einen revolutionären Krieg zu sein. Der Klassencharakter des Krieges – das ist die grundlegende Frage, die vor dem Sozialisten auftaucht (wenn er kein Renegal ist). Der imperialistische Krieg von 1914 bis 1918 ist ein Krieg zwischen zwei Gruppen der imperialistischen Bourgeoisie um die Teilung der Welt, um die Teilung der Beute, um die Ausplünderung und Erdrosselung der kleinen und schwachen Nationen. Eine solche Einschätzung des Krieges gab das Baseler Manifest im Jahre 1912, eine solche Einschätzung bestätigten die Tatsachen. Wer diesen Standpunkt in Bezug auf den Krieg aufgibt, ist kein Sozialist.

Wenn ein Deutscher unter Wilhelm oder ein Franzose unter Clemenceau sagt: ich als Sozialist habe das Recht und die Pflicht, meine Heimat zu verteidigen, falls der Feind in mein Land eingedrungen ist, so ist das nicht die Argumentation eines Sozialisten, eines Internationalisten, eines revolutionären Proletariers, sondern die eines kleinbürgerlichen Nationalisten. Denn in dieser Argumentation verschwindet der revolutionäre Klassenkampf des Arbeiters gegen das Kapital, verschwindet die Einschätzung des gesamten Krieges als Ganzes vom Standpunkt der Weltbourgeoisie und des Weltproletariats, d. h. es verschwindet der Internationalismus, und übrigbleibt nur ein armseliger, verknöcherter Nationalismus. Meinem Lande geschieht Unrecht, alles andere geht mich nichts an – darauf läuft eine solche Argumentation hinaus, darin liegt ihre spießbürgerlich-nationalistische Beschränktheit. Das ist genau so, als wollte jemand hinsichtlich einer individuellen Gewaltanwendung gegenüber einer einzelnen Person erklären: „Der Sozialismus ist gegen Gewalt, also will ich lieber Verrat üben als im Gefängnis sitzen."

Der Franzose, der Deutsche oder der Italiener, der da sagt: der Sozialismus ist gegen die Vergewaltigung der Nationen, deshalb verteidige ich mich, wenn der Feind in mein Land eingedrungen ist, übt Verrat am Sozialismus und Internationalismus. Denn ein solcher Mensch sieht nur sein „Land", stellt „seine"… „Bourgeoisie" über alles, ohne an die internationalen Zusammenhänge zu denken, die den Krieg zu einem imperialistischen, die seine Bourgeoisie zu einem Glied in der Kette des imperialistischen Raubzuges machen!

Alle Spießbürger und alle stumpfsinnigen und unwissenden Bäuerlein argumentieren gerade so wie die Renegaten, die Kautskyaner, Longuetisten, die Turati und Konsorten, nämlich: in meinem Lande steht der Feind, alles übrige geht mich gar nichts an.*

Ein Sozialist, ein revolutionärer Proletarier, ein Internationalist argumentiert anders: Der Charakter eines Krieges (ob er ein reaktionärer oder ein revolutionärer Krieg ist) hängt nicht davon ab, wer angegriffen hat und in wessen Land der „Feind" steht, sondern davon, welche Klasse den Krieg führt, welche Politik durch den gegebenen Krieg fortgesetzt wird. Ist der gegebene Krieg ein reaktionärer, imperialistischer Krieg, d. h. ein Krieg, der von zwei Weltgruppen der imperialistischen, gewalttätigen, räuberischen, reaktionären Bourgeoisie geführt wird, so wird jede Bourgeoisie (sogar die eines kleinen Landes) zur Teilnehmerin am Raube, und es ist meine Aufgabe, die Aufgabe eines Vertreters des revolutionären Proletariats, die proletarische Weltrevolution als einzige Rettung vor den Schrecken des Weltkrieges vorzubereiten. Nicht vom Standpunkt „meines" Landes darf ich urteilen (denn so würde ein kläglicher Dummkopf, ein nationalistischer Spießer urteilen, der nicht versteht, dass er ein Spielzeug in den Händen der imperialistischen Bourgeoisie ist), sondern vom Standpunkt meiner Teilnahme an der Vorbereitung, der Propagierung, der Beschleunigung der proletarischen Weltrevolution.

Das ist eben Internationalismus, das ist die Aufgabe eines Internationalisten, eines revolutionären Arbeiters, eines wirklichen Sozialisten. Diese Binsenwahrheit hat der Renegat Kautsky „vergessen". Und sein Renegatentum tritt noch offensichtlicher zutage, wenn er von der Billigung der Taktik der kleinbürgerlichen Nationalisten (der Menschewiki in Russland, der Longuetisten in Frankreich, der Turati in Italien, der Haase und Konsorten in Deutschland) zur Kritik der bolschewistischen Taktik übergeht. Hier diese Kritik:

Die bolschewistische Revolution war aufgebaut auf der Voraussetzung, dass sie den Ausgangspunkt bilde zu einer allgemeinen europäischen Revolution; dass die kühne Initiative Russlands die Proletarier ganz Europas aufrufe, sich zu erheben.

Unter diesen Voraussetzungen war es natürlich gleichgültig, welche Form der russische Separatfriede annahm, welche Verstümmelungen und Lasten er dem russischen Volke auferlegte, welche Auslegung der Selbstbestimmung der Völker er brachte. Dann war es auch gleichgültig, ob Russland wehrfähig war oder nicht. Die europäische Revolution bildete nach dieser Auffassung die beste Wehr der russischen Revolution, sie musste allen Völkern auf bisher russischem Gebiet volle und wahre Selbstbestimmung bringen.

Eine Revolution in Europa, die dort den Sozialismus brachte und befestigte, musste aber auch das Mittel werden, die Hindernisse zu beseitigen, die in Russland der Durchführung sozialistischer Produktion durch die ökonomische Rückständigkeit des Landes bereitet wurden.

Das war alles sehr logisch gedacht und wohl begründet, sobald man die Voraussetzung zugab: dass die russische Revolution unfehlbar die europäische entfesseln müsse. Was aber dann, wenn es nicht dazu kam? …

Die Voraussetzung ist bisher nicht eingetroffen. Und nun werden die Proletarier Europas angeklagt, dass sie die russische Revolution im Stiche gelassen und verraten hätten. Es ist eine Anklage gegen Unbekannte, denn wen will man verantwortlich machen für die Haltung des europäischen Proletariats." (S. 28.)

Und Kautsky setzt dann des langen und breiten auseinander, dass sich Marx, Engels und Bebel mehr als einmal in Bezug auf den Ausbruch der von ihnen erwarteten Revolution geirrt hätten, dass sie aber niemals ihre Taktik auf die Erwartung einer Revolution zu einem „bestimmten Termin" (S. 29) aufgebaut hätten, während die Bolschewiki sozusagen „alles auf die eine Karte der allgemeinen europäischen Revolution gesetzt hatten".

Wir haben mit Absicht dieses so lange Zitat angeführt, um dem Leser anschaulich zu zeigen, wie „geschickt" Kautsky den Marxismus fälscht und ihn durch eine banale und reaktionäre spießbürgerliche Anschauung ersetzt.

Erstens ist es die Methode nicht gerade sehr kluger Leute, dem Gegner eine offensichtliche Dummheit zu unterstellen und sie dann zu widerlegen. Hätten die Bolschewiki ihre Taktik auf die Erwartung aufgebaut, dass die Revolution in den anderen Ländern zu einem bestimmten Termin eintreten würde, so wäre das eine unbestreitbare Dummheit gewesen. Die bolschewistische Partei hat aber diese Dummheit nicht begangen: in meinem Brief an die amerikanischen Arbeiter (20. August 1918)1 grenze ich mich von dieser Dummheit ausdrücklich ab und erkläre, dass wir zwar auf die amerikanische Revolution rechnen, aber nicht zu einem bestimmten Termin. In meiner Polemik gegen die linken Sozialrevolutionäre und „linken Kommunisten" (Januar-März 1918)2 habe ich wiederholt den gleichen Gedanken entwickelt. Kautsky beging eine kleine … ganz kleine Unterstellung, auf die er dann seine Kritik des Bolschewismus aufgebaut hat. Kautsky hat die Taktik, die mit der europäischen Revolution in einem mehr oder minder nahen Zeitraum, aber nicht zu einem bestimmten Termin rechnet, mit der Taktik in einen Topf geworfen, die den Ausbruch der europäischen Revolution zu einem bestimmten Termin erwartet. Eine kleine, ganz kleine Fälschung!

Die zweite Taktik ist eine Dummheit. Die erste ist obligatorisch für einen Marxisten, für jeden revolutionären Proletarier und Internationalisten; sie ist obligatorisch, denn nur sie zieht marxistisch richtig die durch den Krieg geschaffene objektive Lage in allen europäischen Ländern in Betracht, nur sie allein entspricht den internationalen Aufgaben des Proletariats.

Dadurch, dass Kautsky der wichtigen Frage nach den Grundlagen der revolutionären Taktik überhaupt die belanglose Frage nach jenem Fehler unterschiebt, den die revolutionären Bolschewiki hätten machen können, aber nicht gemacht haben, hat er glücklich die revolutionäre Taktik überhaupt verleugnet!

Renegat in der Politik, versteht er nicht einmal, theoretisch die Frage nach den objektiven Voraussetzungen einer revolutionären Taktik zu stellen.

Und damit sind wir beim zweiten Punkt angelangt.

Zweitens. Der Marxist ist verpflichtet, auf die europäische Revolution zu rechnen, wenn eine revolutionäre Situation wirklich vorhanden ist. Es ist eine ABC-Wahrheit des Marxismus, dass die Taktik des sozialistischen Proletariats in einer wirklich revolutionären Situation nicht die gleiche sein kann wie in einer nichtrevolutionären Situation.

Hätte Kautsky diese für einen Marxisten obligatorische Frage aufgerollt, so hätte er gesehen, dass die Antwort unbedingt gegen ihn ausfallen muss. Lange vor dem Krieg waren sich alle Marxisten, alle Sozialisten darin einig, dass ein europäischer Krieg eine revolutionäre Situation schaffen würde. Als Kautsky noch nicht Renegat war, hat er das klar und bestimmt anerkannt, sowohl 1902 („Die soziale Revolution") als auch 1909 („Der Weg zur Macht"), Das Baseler Manifest hat sich im Namen der gesamten II. Internationale dazu bekannt: nicht umsonst fürchten die Sozialchauvinisten und Kautskyaner aller Länder (die „Zentristen", die Leute, die zwischen den Revolutionären und den Opportunisten hin und her schwanken) die entsprechenden Erklärungen im Baseler Manifest wie das Feuer!

Die Erwartung einer revolutionären Situation in Europa war folglich keine Schwärmerei der Bolschewiki, sondern die allgemeine Ansicht aller Marxisten. Wenn Kautsky diese unbestreitbare Wahrheit mit solchen Phrasen abtut wie: die Bolschewiki hätten „stets an die Allmacht der Gewalt und des Willens geglaubt", so ist das einfach eine leere hohl klingende Phrase, die die Flucht, die schimpfliche Flucht Kautskys vor der Aufrollung der Frage nach der revolutionären Situation tarnen soll.

Ferner. Ist die revolutionäre Situation tatsächlich eingetreten oder nicht? Auch diese Frage hat Kautsky nicht aufzurollen vermocht. Auf diese Frage antworten die wirtschaftlichen Tatsachen: der überall durch den Krieg erzeugte Hunger und Ruin bedeutet eine revolutionäre Situation. Auf die gegebene Frage antworten auch die politischen Tatsachen: schon seit 1915 ist in allen Ländern der Prozess der Spaltung der alten, verfaulten sozialistischen Parteien, der Prozess des Abschwenkens der Massen des Proletariats von den sozialchauvinislischen Führern nach links, zu den revolutionären Ideen und Stimmungen, zu den revolutionären Führern klar zutage getreten.

Am 5. August 1918, als Kautsky seine Broschüre schrieb, konnte diese Tatsache nur ein Mensch übersehen, der die Revolution fürchtet, der sie verrät. Heute aber, Ende Oktober 1918, wächst die Revolution in einer Reihe von Ländern Europas vor unser aller Augen, und zwar sehr schnell. Der „Revolutionär" Kautsky, der nach wie vor als Marxist gelten möchte, hat sich als ein kurzsichtiger Philister erwiesen, der – ähnlich den von Marx verspotteten Philistern von 1847 – die nahende Revolution nicht sah!!

Wir sind beim dritten Punkt angelangt.

Drittens. Welches sind die Besonderheiten der revolutionären Taktik, unter der Bedingung, dass eine revolutionäre Situation in Europa vorhanden ist? Kautsky, der zum Renegaten geworden ist, fürchtete, diese für einen Marxisten obligatorische Frage aufzuwerfen. Kautsky argumentiert wie ein typischer kleinbürgerlicher Philister oder unwissender Bauer: ist die „allgemeine europäische Revolution" herangerückt oder nicht? Wenn sie herangerückt ist, so ist auch er bereit, Revolutionär zu werden! Aber dann wird sich – wohlgemerkt – jeder Lump (vom Schlage jener Schufte, die sich jetzt mitunter an die siegreichen Bolschewiki anbiedern) für einen Revolutionär erklären!

Wenn nicht, so kehrt Kautsky der Revolution den Rücken! Er hat auch keinen Schimmer von Verständnis für jene Wahrheit, dass sich ein revolutionärer Marxist von einem Spießer und Kleinbürger dadurch unterscheidet, dass er versteht, den unwissenden Massen die Notwendigkeit der heranreifenden Revolution zu propagieren, ihre Unvermeidlichkeit zu beweisen, ihren Nutzen für das Volk klarzumachen, das Proletariat und die ganzen werktätigen und ausgebeuteten Massen auf sie vorzubereiten.

Kautsky hat den Bolschewiki den Unsinn zugeschrieben, als hätten alles auf eine Karte gesetzt, in der Annahme, dass die europäische Revolution in einer bestimmten Frist ausbrechen werde.

Dieser Unsinn hat sich gegen Kautsky selbst gerichtet, denn gerade bei ihm stellt sich die Sache so dar: die Taktik der Bolschewiki wäre richtig gewesen, wenn die europäische Revolution am 5. August 1918 ausgebrochen wäre! Eben dieses Datum erwähnt Kautsky als den Zeitpunkt der Abfassung seiner Broschüre. Und als sich einige Wochen nach diesem 5. August klar herausstellte, dass die Revolution in einer Reihe europäischer Länder ausbricht, da offenbarte sich das ganze Renegatentum Kautskys, seine ganze Verfälschung des Marxismus, sein ganzes Unvermögen, revolutionär zu urteilen oder auch nur die Fragen revolutionär zu stellen, in seiner ganzen Herrlichkeit!

Wenn man die Proletarier Europas des Verrates anklage – schreibt Kautsky –, so sei das eine Anklage gegen Unbekannte.

Sie irren sich, Herr Kautsky! Schauen Sie in den Spiegel, und Sie werden die „Unbekannten" erblicken, gegen die sich diese Anklage richtet. Kautsky stellt sich naiv, er tut so, als begriffe er nicht, wer eine solche Anklage erhebt und welchen Sinn sie hat. In Wirklichkeit jedoch weiß Kautsky ausgezeichnet, dass die Anklage von den deutschen „Linken", den Spartakusleuten, Liebknecht und seinen Freunden, erhoben wurde und erhoben wird. Diese Anklage ist der Ausdruck des klaren Bewusstseins, dass das deutsche Proletariat an der russischen (und internationalen) Revolution Verrat beging, als es Finnland, die Ukraine, Lettland und Estland würgte. Diese Anklage richtet sich vor allem und am stärksten nicht gegen die Masse, die stets geduckt ist, sondern gegen jene Führer, die wie die Scheidemann und Kautsky ihre Pflicht der revolutionären Agitation, der revolutionären Propaganda, der revolutionären Arbeit unter den Massen gegen die Trägheit dieser Massen nicht erfüllt, die faktisch den revolutionären Instinkten und Bestrebungen zuwiderhandelten, welche in der Tiefe der Massen der unterdrückten Klasse stets glimmen. Die Scheidemänner verrieten das Proletariat direkt, brutal, zynisch, zum größten Teil aus Eigennutz und gingen auf die Seite der Bourgeoisie über. Die Kautskyaner und Longuetisten taten dasselbe schwankend, schaukelnd, feige auf den jeweils Stärkeren schauend. Mit all seinen Schriften erstickte Kautsky während des Krieges den revolutionären Geist statt ihn zu fördern, ihn zu entfalten.

Es wird geradezu ein historisches Denkmal für den spießbürgerlichen Stumpfsinn des „durchschnittlichen" Führers der deutschen offiziellen Sozialdemokratie bleiben, dass Kautsky nicht einmal begreift, welch gewaltige theoretische Bedeutung und welche noch größere agitatorische und propagandistische Bedeutung die „Anklage" gegen die Proletarier Europas hat, dass sie die russische Revolution verraten haben! Kautsky versteht nicht, dass diese „Anklage" – bei den Zensurverhältnissen im deutschen „Imperium" – nahezu die einzige Form ist, in der die deutschen Sozialisten, die den Sozialismus nicht verraten haben, Liebknecht und seine Freunde, ihren Appell an die deutschen Arbeiter zum Ausdruck bringen, die Scheidemann und Kautsky abzuschütteln, derartige „Führer" von sich zu stoßen, sich von ihren verblödenden, vulgarisierenden Predigten zu befreien, sich gegen sie, ohne sie, über sie hinweg zur Revolution zu erheben!

Kautsky versteht das nicht. Wie sollte er auch die Taktik der Bolschewiki verstehen? Kann man von einem Menschen, der sich von der Revolution überhaupt lossagt, erwarten, dass er die Entwicklungsbedingungen der Revolution in einem der „schwierigsten" Fälle abwäge und werte?

Die Taktik der Bolschewiki war richtig, war die einzige internationalistische Taktik, denn sie basierte nicht auf der feigen Furcht vor der Weltrevolution, nicht auf dem spießbürgerlichen „Unglauben" an sie, nicht auf dem beschränkt-nationalistischen Wunsch, für das „eigene" Vaterland (das Vaterland der eigenen Bourgeoisie) einzustehen und auf alles andere zu „spucken", – sie beruhte auf der richtigen (vor dem Krieg, vor dem Renegatentum der Sozialchauvinisten und Sozialpazifisten allgemein anerkannten) Einschätzung der europäischen revolutionären Situation. Diese Taktik war allein internationalistisch, denn sie führte ein Höchstmaß dessen durch, was in einem Lande für die Entwicklung, Unterstützung, Entfachung der Revolution in allen Ländern durchführbar ist. Diese Taktik ist durch den gewaltigen Erfolg gerechtfertigt worden, denn der Bolschewismus ist (durchaus nicht wegen der Verdienste der russischen Bolschewiki, sondern kraft der allertiefsten Sympathie der Massen allenthalben für eine in der Tat revolutionäre Taktik) zum Weltbolschewismus geworden, er hat die Idee, die Theorie, das Programm, die Taktik gegeben, die sich konkret, praktisch vom Sozialchauvinismus und Sozialpazifismus unterscheiden. Der Bolschewismus hat der alten, verfaulten Internationale der Scheidemann und Kautsky, Renaudel und Longuet, Henderson und Macdonald den Todesstoß versetzt, die sich jetzt gegenseitig im Wege stehen, von „Einheit" träumen und den Leichnam zum Leben zu erwecken suchen werden. Der Bolschewismus hat die ideologischen und taktischen Grundlagen für die III. Internationale, die wirklich proletarische und kommunistische Internationale geschaffen, die sowohl die Errungenschaften der Friedensepoche als auch die Erfahrungen der angebrochenen Epoche der Revolutionen in Betracht zieht.

Der Bolschewismus hat die Idee der „Diktatur des Proletariats" in der ganzen Welt popularisiert, hat diese Worte aus dem Lateinischen zunächst ins Russische, dann in alle Sprachen der Welt übertragen und an dem Beispiel der Sowjetmacht gezeigt, dass die Arbeiter und die armen Bauern sogar eines rückständigen Landes, dass selbst die unerfahrensten, ungeschultesten und am wenigsten an Organisation gewöhnten Arbeiter und armen Bauern ein ganzes Jahr lang imstande waren, inmitten gigantischer Schwierigkeiten, im Kampfe gegen die (von der Bourgeoisie der ganzen Welt unterstützten) Ausbeuter die Macht der Werktätigen zu wahren, eine ungleich höhere und breitere Demokratie als alle früheren Demokratien der Welt zu schaffen und mit der schöpferischen Arbeit von Dutzenden Millionen Arbeitern und Bauern die praktische Verwirklichung des Sozialismus zu beginnen.

Der Bolschewismus hat in der Tat die Entwicklung der proletarischen Revolution in Europa und Amerika so stark gefördert, wie es bisher keine einzige Partei in irgendeinem Lande vermochte. Während es den Arbeitern der ganzen Welt von Tag zu Tag klarer wird, dass die Taktik der Scheidemann und Kautsky sie nicht von dem imperialistischen Krieg und von der Lohnsklaverei im Dienste der imperialistischen Bourgeoisie erlöst hat, dass diese Taktik als Vorbild für alle Länder ungeeignet ist, – wird es gleichzeitig den Massen der Proletarier aller Länder mit jedem Tage klarer, dass der Bolschewismus den richtigen Weg zur Rettung vor den Schrecken des Krieges und des Imperialismus gewiesen hat, dass der Bolschewismus als Vorbild der Taktik für alle geeignet ist.

Nicht nur die proletarische Revolution in ganz Europa, sondern die proletarische Weltrevolution reift vor aller Augen heran, und der Sieg des Proletariats in Russland hat sie gefördert, beschleunigt, unterstützt. Ist das alles wenig für den völligen Sieg des Sozialismus? Gewiss ist es wenig. Ein Land kann nicht mehr tun. Aber dieses eine Land hat, dank der Sowjetmacht, doch so viel getan, dass selbst dann, wenn morgen der Weltimperialismus die russische Sowjetmacht, nehmen wir an, durch eine Verständigung zwischen dem deutschen und dem englisch-französischen Imperialismus, erdrosseln sollte, – dass selbst in diesem schlimmsten aller Fälle die bolschewistische Taktik dem Sozialismus einen ungeheuren Nutzen gebracht und das Anwachsen der unbesiegbaren Weltrevolution gefördert haben würde.

* Die Sozialchauvinisten (Scheidemann, Renaudel, Henderson, Gompers und Konsorten) lehnen es ab, während des Krieges über die „Internationale" zu reden. Sie halten die Feinde ihrer Bourgeoisie für „Verräter"… am Sozialismus. Sie sind für die Eroberungspolitik ihrer Bourgeoisie. Die Sozialpazifisten (d. h. Sozialisten in Worten, kleinbürgerliche Pazifisten in Taten) bringen alle möglichen „internationalistischen" Gefühle zum Ausdruck, treten gegen Annexionen auf usw., fahren aber in Wirklichkeit fort, ihre imperialistische Bourgeoisie zu unterstützen. Der Unterschied zwischen den beiden Typen ist nicht ernst zu nehmen, ist von der Art, wie der Unterschied zwischen einem Kapitalisten, der Gift und Galle speit, und einem, der honigsüße Reden hält.

1 Siehe Sämtliche Werke, Bd. XXIII, S. 224-240.

2 Siehe Sämtliche Werke, Bd. XXII, S. 277-288, 322-331, 343-375, 428-458.

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