Lenin‎ > ‎1918‎ > ‎

Wladimir I. Lenin 19180423 Rede im Moskauer Sowjet

Wladimir I. Lenin: Rede im Moskauer Sowjet

23. April 1918, Stenographischer Bericht

[„Iswestija" Nr. 81 24. April 1918. Nach Sämtliche Werke, Band 22, Zürich 1934, S. 483-488]

Genossen! Gestattet mir vor allem, den neuen Moskauer Sowjet zu begrüßen.

Ihr habt die Neuwahlen in einem außerordentlich schweren Augenblick, in dem tragischen Augenblick durchgeführt, wo die Entwicklung unserer Revolution in die gefährlichste und schwerste Phase eingetreten ist. Die der Revolution feindlichen Elemente, alle, die die Feinde des Volkes unterstützen, alle, die hinter der Bourgeoisie herlaufen, haben große Hoffnungen auf die Neuwahlen zu unserem Sowjet gesetzt, denn gegenwärtig machen wir eine außerordentlich schwierige Periode durch, wo die Revolution ihren Siegeszug beendet hat und in eine Phase schwerer Prüfungen und sogar Niederlagen eingetreten ist. Und in diesem Augenblick hat das Proletariat wiederum die ganze Stärke seines Klassenbewusstseins offenbart. Die Arbeiter, die die ganze Schwierigkeit der jetzigen Periode in Rechnung stellen, verstehen sehr gut, dass die Beseitigung der furchtbaren Leiden, die das werktätige Volk jetzt ertragen muss, nicht von uns, sondern von der gesamten Entwicklung der geschichtlichen Ereignisse abhängt. Und die Arbeiter werden mit heroischer Entschlossenheit neue Entbehrungen ertragen, um die großen Errungenschaften der Oktoberrevolution zu verteidigen.

Kein Zweifel, dass die Revolution – neben den schweren Prüfungen – doch in eine Phase neuer, unmerklicher, nicht in die Augen fallender, nicht weniger wichtiger Siege eingetreten ist, als der glänzenden Siege zur Zeit der Oktoberbarrikaden. Vor uns stehen in ihrer ganzen Größe zwei Todfeinde: vor uns stehen, bis an die Zähne bewaffnet, unsere äußeren Feinde, die bereit sind, die Revolution in Stücke zu reißen, die den geeigneten Augenblick abwarten, um den entscheidenden Schlag zu führen. Der äußere Feind ist der bis an die Zähne bewaffnete, an technischen Kräften reiche internationale Imperialismus, der den Moment abwartet, um einen neuen räuberischen Überfall auf Sowjetrussland zu unternehmen. Und wenn wir uns daran erinnern, so müssen wir mit rücksichtsloser Klarheit der drohenden Wahrheit gerade ins Antlitz schauen.

Infolge des reaktionärsten aller Kriege, den unser erschöpftes Land führen musste, haben wir im gegenwärtigen Augenblick nicht genügend Kräfte für einen aktiven bewaffneten Kampf gegen die Weltreaktion. Wir haben keine Armee, wir haben keine Kräfte, die wir den glänzend organisierten Truppen der internationalen Konterrevolution entgegenstellen könnten, die sich auf die Macht der modernen Technik und einer idealen Disziplin stützt. Wir stehen zunächst allein da und sind von Todfeinden umgeben.

Zur Zeit des Oktoberaufstandes des werktätigen Volkes, als wir vor den Arbeitern das rote Banner der sozialistischen Revolution entrollten, haben wir eine Periode leichter, blendender Erfolge durchgemacht. Und die Arbeiter der anderen Länder, die auf das ferne Getöse der russischen Revolution horchten, verstanden, was in Russland vor sich geht, erkannten, dass das russische Proletariat ihre ureigene Sache tut. Damals sind wir mit den reaktionären Banden sehr leicht fertig geworden, damals haben wir mit Leichtigkeit die Überreste der menschewistischen Banden unterdrückt, die sich gegen das Volk erhoben, die gegen uns nicht im offenen Kampf mit der Waffe in der Hand marschierten, sondern mit der schmutzigen Waffe der Lüge, der Verleumdung und des unerhörten Verrats. Als Ergebnis unseres Kampfes gegen die Konterrevolution können wir einen so großen Sieg buchen, wie die Tatsache, dass der kühnste Konterrevolutionär, Kornilow, von seinen eignen empörten Soldaten niedergemacht worden ist.1

Indem wir an allen Fronten einen breiten Kampf gegen die Konterrevolution im Innern führten, nutzten wir die Schwierigkeiten der internationalen Bourgeoisie aus und führten rechtzeitig einen mächtigen Schlag gegen die Konterrevolution, die jetzt zertreten ist. Man kann mit Gewissheit sagen, dass der Bürgerkrieg in der Hauptsache beendet ist. Gewiss, einzelne Zusammenstöße werden vorkommen, in einigen Städten werden hie und da auf den Straßen Schießereien entstehen infolge von einzelnen Versuchen der Reaktionäre, die Macht der Revolution, die Sowjetmacht, zu stürzen; aber es kann nicht daran gezweifelt werden, dass die Reaktion an der inneren Front durch die Anstrengungen des aufständischen Volkes ein für allemal vernichtet worden ist. So haben wir die erste Periode der Entwicklung der Revolution durchgemacht, deren Beginn von den Oktobertagen an zu rechnen ist, eine Periode der berauschenden Erfolge, von denen mancher berauscht worden ist.

Ich wiederhole abermals, dass jetzt die schwierigste, die härteste Zeit im Leben unserer Revolution begonnen hat. Wir stehen jetzt vor der Aufgabe, alle unsere Kräfte aufs Äußerste anzuspannen, um sie in der neuen schöpferischen Arbeit anzuwenden, denn nur eiserne Ausdauer und Arbeitsdisziplin wird dem revolutionären Proletariat Russlands helfen, das zunächst in seiner titanischen revolutionären Arbeit so ganz allein dasteht, die Zeit der Befreiung abzuwarten, wo das internationale Proletariat ihm

zu Hilfe eilen wird.

Wir sind einer der revolutionären Trupps der Arbeiterklasse, der voran gestürmt ist, nicht deshalb, weil wir besser sind als die anderen Arbeiter, nicht deshalb, weil das russische Proletariat höher steht als die Arbeiterklasse anderer Länder, sondern allein deshalb, weil wir eines der rückständigsten Länder der Welt waren. Wir werden den endgültigen Sieg erst dann erlangen, wenn es uns letzten Endes gelingen wird, den internationalen Imperialismus ein für allemal zu vernichten, der sich auf die ungeheure Macht der Technik und Disziplin stützt. Aber wir werden den Sieg nur zusammen mit allen Arbeitern der anderen Länder, der ganzen Welt erlangen.

Die Geschichte fügte es, dass wir den schweren Frieden in Brest-Litowsk unterzeichnen mussten, und wir verheimlichen nicht, dass dieser Frieden in jedem beliebigen Augenblick in verräterischer Weise von den zahlreichen Feinden der Revolution gebrochen werden kann, die uns jetzt von allen Seiten angreifen, gegen die wir im gegebenen Augenblick einen aktiven Kampf nicht aufnehmen können. Und ihr müsst wissen, derjenige, der euch jetzt zu einem solchen aktiven, bewaffneten, offenen Kampf gegen den internationalen räuberischen Imperialismus aufforderte, würde Verrat am Volke begehen, wäre ein freiwilliger oder unfreiwilliger Provokateur und Lakai dieser oder jener Gruppe von Imperialisten. Und wer gegen die Taktik auftritt, die wir in der letzten Zeit eingeschlagen haben, – mag er sich auch als ganz „linker", als ultralinker Kommunist bezeichnen – ist ein schlechter Revolutionär – ich möchte sogar sagen – überhaupt kein Revolutionär.

Unsere Rückständigkeit hat uns vorwärtsgetrieben, und wir werden untergehen, wenn wir uns nicht so lange behaupten, bis wir eine mächtige Unterstützung durch die aufständischen Arbeiter der anderen Länder erhalten werden. Unsere Aufgabe ist die unermüdliche Fortsetzung unserer Taktik des proletarischen Kampfes.

Wir haben einen außerordentlich gefährlichen geheimen Feind, der gefährlicher ist als viele offene Konterrevolutionäre. Dieser Feind – der Todfeind der sozialistischen Revolution und der Sowjetmacht, die eine in der Geschichte noch nie dagewesener neuer Typus eines Volksparlaments für die Armen ist – ist die Zügellosigkeit des kleinen Eigentümers. Kein Zweifel, dass wir jetzt die schwierigsten Hindernisse auf dem Wege der Entwicklung der sozialistischen Revolution zu bewältigen haben. In erster Linie stehen wir vor der Aufgabe, die Diktatur des Proletariats auf allen Gebieten vollständig zu verwirklichen: in der Organisierung der Arbeitsdisziplin, in der Produktion, in der Verteilung der Produkte. Der Feind, von dem ich gesprochen habe, ist die Zügellosigkeit des kleinen Eigentümers, der nur einen Gedanken hat: „Wenn ich nur möglichst viel kriege, alles übrige geht mich nichts an". Dieser Feind ist stärker als alle Kornilow, Dutow und Kaledin zusammengenommen.

Diese kleinen Kulaken, kleinen Besitzer, Eigentümer sagen: „Man hat uns immer unterdrückt, man hat uns immer gequält – sollen wir jetzt nicht einen so günstigen Moment ausnützen?" Diese Erscheinung ist ein ernstes Hindernis, ohne dessen Überwindung ein Sieg undenkbar ist, denn aus jedem kleinen Besitzer, aus jedem gierigen Raffer ersteht ein neuer Kornilow.

Neben dieser Gefahr erhebt sich vor uns als drohendes Gespenst die Perspektive des herannahenden Hungers und der Massenarbeitslosigkeit, aber wir sehen, dass jeder klassenbewusste Arbeiter – ihrer aber werden täglich und stündlich immer mehr und mehr –, dass jeder klassenbewusste Arbeiter, sage ich, berücksichtigt und versteht, dass im gegenwärtigen Augenblick das einzige Mittel zum Kampf gegen die drohenden Gefahren stärkste Anspannung aller Kräfte und eiserne Ausdauer ist Und mögen diejenigen, die in Augenblicken der schweren Prüfungen unserer Revolution von Verzweiflung, Kleinmut und Schwäche erfasst werden, daran denken, dass wir stets gesagt haben, dass wir auf dem unblutigen und leichten Wege der Überzeugung und der Kompromisse nicht vom Kapitalismus zum völligen Sieg des Sozialismus gelangen werden, sondern nur im schwersten Kampf unser Ziel erreichen können.

Die Diktatur des Proletariats ist für die Gewaltanwendung gegen die Ausbeuter. Unser Weg ist Ausdauer, proletarische Geschlossenheit, eiserne Diktatur des werktätigen Volkes. Kein Zweifel, dass die Sowjetmacht in vielen Fällen nicht genügend Entschiedenheit im Kampfe gegen die Konterrevolution an den Tag gelegt hat. Und hier war sie kein Eisen, sondern ein Brei, auf dem man keinen Sozialismus aufbauen kann. Wir haben die kleinbürgerliche Zügellosigkeit nicht besiegt. Die Lage des ruinierten, verbluteten Landes, das durch den Gang der Geschichte früher als alle anderen auf das Schlachtfeld der Weltrevolution gestellt worden ist, ist außerordentlich schwer, und man wird uns erdrosseln, wenn wir dem Zerfall, der Desorganisation und der Verzweiflung nicht die eiserne Diktatur der klassenbewussten Arbeiter entgegenstellen werden. Wir werden sowohl gegen unsere Feinde als auch gegen alle schwankenden und schädlichen Elemente)in unseren eigenen Reihen rücksichtslos vorgehen, die es wagen werden, in unsere schwere schöpferische Arbeit zum Aufbau eines neuen Lebens des werktätigen Volkes Desorganisation hinein zu tragen.

Wir sind an die Lösung der Aufgabe herangetreten, deren Bewältigung den Sozialismus vollkommen sichern und festigen wird. Zur Überwindung aller Schwierigkeiten, zum erfolgreichen Kampf gegen Hunger und Arbeitslosigkeit werden wir eine unmerkliche, bescheidene, aber schwere Arbeit leisten, die für den Staat von größter Wichtigkeit ist, und wer gegen uns marschieren wird, wird ein Todfeind des Weltproletariats sein.

Die Wahlen zum Moskauer Sowjet haben gezeigt, wie sich die Arbeiter in den Ereignissen zurechtfinden, die begriffen haben, dass die Sowjetmacht kein Paradeschmuck, sondern ihre ureigene Sache ist. Durch das letzte Ereignis, durch die Wahlen zu unserem Sowjet, sind alle diejenigen besiegt worden, die große Hoffnungen auf diese Wahlen gesetzt hatten, sind die schwankenden Elemente besiegt worden. Und das bestärkt mich in der Überzeugung und Hoffnung, dass wir auf dem richtigen Wege sind, der uns zum völligen Sieg des Sozialismus führen wird.

1 Offenbar ein Fehler. Kornilow wurde im Kampf bei Jekaterinodar getötet.

Kommentare