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Wladimir I. Lenin 19190318 Bericht des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Russlands (Bolschewiki)

Wladimir I. Lenin: Bericht des Zentralkomitees der

Kommunistischen Partei Russlands (Bolschewiki)

auf dem VIII. Parteitag

18. März 1919

[Ausgewählte Werke, Band 8. Der Kriegskommunismus 1918-1920. Zürich 1935, S. 28-47]

Genossen! Es sei mir gestattet, mit dem politischen Bericht des Zentralkomitees zu beginnen. Einen Bericht über die politische Tätigkeit des Zentralkomitees seit dem letzten Parteitag vorlegen heißt im Grunde genommen einen Bericht über unsere ganze Revolution erstatten. Und ich glaube, dass alle mit mir darin übereinstimmen werden, dass eine solche Aufgabe ein Mensch nicht nur in einer so kurzen Zeit nicht lösen kann, sondern dass ein einzelner einer solchen Aufgabe überhaupt nicht gewachsen ist. Ich habe mich daher entschlossen, mich auf die Punkte zu beschränken, die nach meiner Meinung von besonderer Bedeutung sind, nicht nur in der Geschichte dessen, was unsere Partei in dieser Periode zu vollbringen hatte, sondern auch vom Gesichtspunkt der heutigen Aufgaben. Sich ganz der Geschichte hinzugeben, sich Vergangenem zuzuwenden, ohne an die Gegenwart und die Zukunft zu denken, wäre in einer Zeit wie der, die wir durchmachen – ich gebe es zu –, zu viel von mir verlangt.

Wenn wir mit der Außenpolitik beginnen, so versteht es sich von selbst, dass im Vordergrund unsere Beziehungen zum deutschen Imperialismus und der Brester Friede stehen. Mir scheint, dass es sich lohnt, über diese Frage zu sprechen, denn sie hat nicht nur eine historische Bedeutung. Mir scheint, dass der Vorschlag, den die Sowjetregierung den verbündeten Mächten gemacht hat, oder genauer gesagt, die Zustimmung, die unsere Regierung zu dem allen bekannten Vorschlag einer Konferenz auf den Prinzeninseln gegeben hat – mir scheint, dass dieser Vorschlag und unsere Antwort in mancher und recht wesentlicher Hinsicht das in der Zeit des Brester Friedens von uns festgelegte Verhältnis zum Imperialismus reproduziert. Deshalb glaube ich, dass es angesichts des jetzt so raschen Ganges der Ereignisse notwendig ist, diese Geschichte zu streifen.

Als die Frage des Brester Friedens zu entscheiden war, befand sich der Sowjetaufbau – von dem Parteiaufbau schon gar nicht zu reden – noch in seinem ersten Stadium. Ihr wisst, dass damals die Partei als Ganzes noch sehr wenig Erfahrung hatte, um – wenn auch nur annähernd – die Schnelligkeit unserer Vorwärtsbewegung auf dem Wege zu bestimmen, den wir beschritten hatten. Ein gewisses Chaos, das uns die Vergangenheit als unvermeidliches Erbe hinterlassen hatte, machte damals eine Übersicht über die Ereignisse, eine genaue Kenntnis des Vorsichgehenden noch außerordentlich schwierig. Und infolge der außerordentlichen Isolierung von Westeuropa und allen anderen Ländern bekamen wir keinerlei objektives Material zur Beurteilung der möglichen Schnelligkeit oder der Formen des Heranreifens der proletarischen Revolution im Westen. Aus dieser verwickelten Lage ergab sich, dass die Frage des Brester Friedens starke Meinungsverschiedenheiten in unserer Partei hervorrief.

Die Ereignisse haben jedoch gezeigt, dass dieser erzwungene Rückzug vor dem deutschen Imperialismus, der sich mit einem besonders gewalttätigen, empörenden, räuberischen Frieden bemäntelte, vom Standpunkt der Beziehungen der jungen sozialistischen Republik zum Weltimperialismus (zur einen Hälfte des Weltimperialismus) das einzig Richtige war. Damals blieb uns, die wir eben erst die Gutsherren und die Bourgeoisie in Russland gestürzt hatten, absolut keine andere Wahl übrig, als vor den Kräften des Weltimperialismus zurückzuweichen. Diejenigen, die dieses Zurückweichen vom Standpunkt des Revolutionärs aus verurteilten, standen faktisch auf einem grundfalschen, unmarxistischen Standpunkt. Sie vergaßen, unter welchen Umständen, nach welcher langen und schwierigen Entwicklung der Kerenski-Periode, um welchen Preis gewaltiger Vorbereitungsarbeit in den Sowjets wir dahin gelangten, dass nach den schweren Niederlagen im Juli, nach der Kornilow-Affäre, schließlich im Oktober in den ungeheuren Massen der Werktätigen die Entschlossenheit und Bereitschaft zum Sturz der Bourgeoisie und die hierzu nötige organisierte materielle Kraft herangereift waren. Selbstverständlich konnte damals von etwas derartigem in internationalem Ausmaße auch nicht die Rede sein. Von diesem Standpunkt aus sah die Aufgabe des Kampfes gegen den Weltimperialismus folgendermaßen aus: auch weiter im Sinne der Zersetzung dieses Imperialismus, im Sinne der Aufklärung und des Zusammenschlusses der Arbeiterklasse zu wirken, die überall unruhig zu werden begonnen hatte, aber noch nicht zur klaren Bestimmtheit in ihren Handlungen gelangt war.

Deshalb hat sich die Politik, die wir in der Frage des Brester Friedens verfolgten, als die einzig richtige erwiesen, obwohl natürlich diese Politik damals unsere Feindschaft mit einer ganzen Reihe kleinbürgerlicher Elemente verschärfte, die keineswegs unter allen Umständen und keineswegs in allen Ländern Gegner des Sozialismus sind, sein können und müssen. Hier hat uns die Geschichte eine Lehre erteilt, die man sich gut einprägen muss, denn man wird sie zweifellos öfter ausnützen müssen. Diese Lehre besieht darin, dass die Beziehungen der Partei des Proletariats zu einer kleinbürgerlichen demokratischen Partei, zu den Elementen, Schichten, Gruppen, Klassen, die in Russland besonders stark und zahlreich sind und die es in allen Ländern gibt – dass diese Beziehungen eine außerordentlich verwickelte und schwierige Aufgabe darstellen. Die kleinbürgerlichen Elemente schwanken zwischen der alten und der neuen Gesellschaft hin und her. Sie können weder die Triebkräfte der allen Gesellschaft noch die der neuen sein. Gleichzeitig sind Sie nicht in dem Maße Anhänger der alten Gesellschaft wie die Gutsherren und die Bourgeoisie. Der Patriotismus ist ein Gefühl, das mit den wirtschaftlichen Lebensbedingungen gerade der kleinen Eigentümer verknüpft ist. Die Bourgeoisie ist internationaler als die kleinen Eigentümer. Wir mussten in der Zeit des Brester Friedens darauf stoßen, als die Sowjetmacht die Weltdiktatur des Proletariats und die Weltrevolution höher stellte als alle nationalen Opfer, so schwer sie auch sein mochten. Dabei mussten wir in den schärfsten und erbarmungslosesten Konflikt mit den kleinbürgerlichen Elementen geraten. Gegen uns vereinigte sich damals mit der Bourgeoisie und den Gutsherren eine ganze Reihe von Elementen, die später zu schwanken begannen.

Die hier von einigen Genossen aufgeworfene Frage des Verhältnisses zu den kleinbürgerlichen Parteien wird ziemlich ausführlich in unserem Programm behandelt, und sie wird im Grunde genommen bei der Besprechung jedes einzelnen Punktes der Tagesordnung berührt werden. Diese Frage hat im Laufe unserer Revolution ihren abstrakten, allgemeinen Charakter verloren und ist konkret geworden. In der Zeit des Brester Friedens bestand unsere Aufgabe als Internationalisten darin, um jeden Preis den proletarischen Elementen die Möglichkeit zu geben, zu erstarken und sich zusammenzuschließen. Das eben hat damals die kleinbürgerlichen Parteien von uns abgestoßen. Wir wissen, wie nach der deutschen Revolution die kleinbürgerlichen Elemente von neuem zu schwanken begannen. Diese Ereignisse haben vielen die Augen geöffnet, die in der Epoche der heranreifenden proletarischen Revolution vom Standpunkt des alten Patriotismus aus urteilten, die nicht nur unsozialistisch, sondern überhaupt falsch urteilten. Jetzt erleben wir infolge der schweren Ernährungslage, infolge des sich immer noch hinziehenden Krieges gegen die Entente wiederum eine Aufwallung der Schwankungen der kleinbürgerlichen Demokratie. Wir haben mit diesen Schwankungen schon früher rechnen müssen, aber – und daraus ergibt sich für uns alle eine höchst bedeutsame Lehre – vergangene Situationen wiederholen sich nicht in ihrer früheren Form. Die neue Lage ist verwickelter. Sie kann richtig eingeschätzt werden, und unsere Politik kann eine richtige sein, wenn wir uns mit der Erfahrung des Brester Friedens wappnen. Als wir dem Vorschlag einer Konferenz auf den Prinzeninseln zustimmten, wussten wir, dass wir auf einen Frieden von außerordentlich gewalttätigem Charakter eingehen. Aber anderseits wissen wir heute mehr darüber, wie sich in Westeuropa eine Welle der proletarischen Revolution erhebt, wie die Gärung dort in bewusste Unzufriedenheit übergeht, wie sie zur Organisierung der proletarischen Rätebewegung in der ganzen Welt führt. Wenn wir damals umhertappten, wenn wir damals raten mussten, wann die Revolution in Europa ausbrechen könne – wir rieten auf Grund unserer theoretischen Überzeugung, dass diese Revolution ausbrechen muss –, so haben wir jetzt schon eine ganze Reihe von Tatsachen, die zeigen, wie die Revolution in anderen Ländern heranreift, wie diese Bewegung begonnen hat1. Deshalb müssen wir in Bezug auf Westeuropa, auf die Ententeländer vieles von dem, was wir während des Brester Friedens getan haben, jetzt wiederholen, oder wir werden es noch in Zukunft tun müssen. Nach der Brester Erfahrung wird es uns viel leichter fallen, das zu tun. Als unser Zentralkomitee aber den Vorschlag beriet, an der Konferenz auf den Prinzeninseln gemeinsam mit den Weißgardisten teilzunehmen – was im Grunde auf die Annexion aller von den Weißen besetzten Gebiete hinauslief –, rief diese Frage des Waffenstillstandes keine einzige Äußerung des Unwillens in den Reihen des Proletariats hervor, und ebenso verhielt sich auch die Partei dazu. Jedenfalls habe ich von nirgendwo etwas von Unzufriedenheit oder Unwillen gehört. Dies war deshalb der Fall, weil die uns in der internationalen Politik, erteilte Lehre von Nutzen gewesen ist.

Gegenüber den kleinbürgerlichen Elementen ist die Aufgabe der Partei noch nicht endgültig gelöst. In einer ganzen Reihe von Fragen, eigentlich in allen auf der Tagesordnung stehenden Fragen ohne Ausnahme haben wir im abgelaufenen Jahr die Grundlage für die richtige Lösung dieser Aufgabe, besonders gegenüber dem Mittelbauern, geschaffen. Theoretisch haben wir uns dahin geeinigt, dass der Mittelbauer nicht unser Feind ist, dass er eine besondere Behandlung erfordert, dass sich hier die Dinge durch zahlreiche Begleitmomente der Revolution, insbesondere im Zusammenhang mit der Lösung der Frage: für oder gegen den Patriotismus, ändern werden. Für uns kommen diese Fragen in zweiter oder sogar erst in dritter Linie in Betracht, aber das Kleinbürgertum wird von ihnen ganz und gar geblendet. Anderseits schwanken alle diese Elemente im Kampf und werden völlig charakterlos. Sie wissen nicht, was sie wollen, und sind unfähig, ihre Stellung zu behaupten. Das erfordert von uns eine außerordentlich biegsame, außerordentlich vorsichtige Taktik, denn man muss manchmal mit der einen Hand geben und der anderen nehmen. Die Schuld daran fällt nicht auf uns, sondern auf jene kleinbürgerlichen Elemente, die ihre Kräfte nicht zu sammeln vermögen. Wir sehen das jetzt in der Praxis, und noch heute konnten wir in den Zeitungen lesen, wo die deutschen Unabhängigen, die über so bedeutende Kräfte wie Kautsky und Hilferding verfügen, jetzt hinauswollen. Ihr wisst, dass sie das Rätesystem in der Verfassung der deutschen demokratischen Republik verankern, d. h. eine legitime Verehelichung der Konstituante mit der Diktatur des Proletariats herbeiführen wollten. Für uns ist das ein solcher Hohn auf den gesunden Sinn unserer Revolution, der deutschen Revolution, der ungarischen Revolution, der heranreifenden polnischen Revolution, dass wir darüber nur die Achseln zucken können. Wir können sagen, dass es solche schwankende Elemente selbst in den vorgeschrittensten Ländern gibt. Manchmal treten gebildete, entwickelte Leute, Intellektuelle sogar in einem so vorgeschrittenen kapitalistischen Lande wie Deutschland hundertmal konfuser und lärmender auf als unser rückständiges Kleinbürgertum. Daraus ergibt sich eine Lehre für Russland hinsichtlich der kleinbürgerlichen Parteien und der Mittelbauernschaft. Unsere Aufgabe wird für lange Zeit kompliziert und zwiespältig sein. Diese Parteien werden lange Zeit unvermeidlich einen Schritt vorwärts und zwei zurück machen, weil ihre ökonomische Stellung sie dazu verurteilt, weil sie dem Sozialismus keineswegs auf Grund absoluter Überzeugung von der Untauglichkeit der bürgerlichen Gesellschaftsordnung folgen werden. Treue dem Sozialismus gegenüber kann man von ihnen nicht verlangen. Auf ihren Sozialismus rechnen, wäre lächerlich. Sie werden erst dann dem Sozialismus folgen, wenn sie sich überzeugt haben werden, dass es keinen anderen Weg gibt, erst dann, wenn die Bourgeoisie endgültig geschlagen und unterdrückt sein wird.

Ich habe nicht die Möglichkeit, systematisch die Bilanz der Erfahrungen des abgelaufenen Jahres zu ziehen, ich habe nur vom Standpunkt dessen, was morgen oder übermorgen für unsere Politik nötig werden kann, einen Blick auf die Vergangenheit geworfen. Die wichtigste Lehre besteht darin, dass wir in unserer Haltung zur Mittelbauernschaft und zum Kleinbürgertum außerordentlich vorsichtig zu sein haben. Das erfordert die Erfahrung der Vergangenheit, das haben wir an dem Beispiel von Brest erlebt. Wir werden die Linie unseres Verhaltens sehr oft ändern müssen, was dem oberflächlichen Beobachter seltsam und unverständlich scheinen mag. „Wie kommt das – wird er sagen –, gestern habt ihr dem Kleinbürgertum Versprechungen gemacht, und heute erklärt Dzierżyński, dass man die linken Sozialrevolutionäre und die Menschewiki an die Wand stellen wird. Welch ein Widerspruch! … “ Ja, das ist ein Widerspruch. Aber widerspruchsvoll ist das Verhalten der kleinbürgerlichen Demokratie selbst, die nicht weiß, wo sie sich hinsetzen soll, die sich zwischen zwei Stühle zu setzen versucht, von dem einen auf den anderen Stuhl springt und bald nach rechts, bald nach links fällt. Wir haben unsere Taktik ihr gegenüber geändert, und jedes Mal, wenn sie sich uns zuwendet, sagen wir: „Bitte schön“. Wir wollen keineswegs die Mittelbauernschaft expropriieren, wir wollen durchaus nicht der kleinbürgerlichen Demokratie gegenüber Gewalt anwenden. Wir sagen ihr: „Ihr seid kein ernsthafter Feind. Unser Feind ist die Bourgeoisie. Wenn ihr aber zusammen mit dieser vorgeht, dann sind wir gezwungen, die Maßnahmen der proletarischen Diktatur auch auf euch anzuwenden.“

Ich gehe jetzt zur Frage des inneren Aufbaus über und verweile kurz bei dem Hauptsächlichen, was die politische Erfahrung, die Bilanz der politischen Tätigkeit des Zentralkomitees in der abgelaufenen Periode kennzeichnet. Diese politische Tätigkeit des ZK kam tagtäglich in Fragen von gewaltiger Wichtigkeit zum Ausdruck. Wäre nicht die angestrengte Zusammenarbeit gewesen, von der ich sprach, wir hätten nicht so wirken können, wie wir gewirkt haben, und die Kampfaufgaben nicht lösen können. Zur Frage der Roten Armee, die jetzt solche Auseinandersetzungen hervorruft und der ein besonderer Punkt der Tagesordnung des Parteitages gewidmet ist, haben wir eine Menge einzelner kleinerer Beschlüsse gefasst, die das Zentralkomitee unserer Partei anregte und im Rat der Volkskommissare und im Allrussischen Zentralexekutivkomitee zur Annahme brachte. Noch größer ist die Zahl der einzelnen, höchst wichtigen Ernennungen, die die einzelnen Volkskommissare von sich aus vornahmen, die jedoch alle systematisch und konsequent auf einer gemeinsamen Linie lagen.

Die Frage des Aufbaus der Roten Armee war eine völlig neue Frage, sie war nicht einmal theoretisch gestellt worden. Marx sagte einmal, dass das Verdienst der Pariser Kommunarden darin bestand, dass sie nicht irgendeiner vorgefassten Doktrin entlehnte, sondern von der tatsächlichen Notwendigkeit vorgezeichnete Beschlüsse durchführten. Diese Worte von Marx über die Kommunarden hatten etwas Höhnisches an sich, denn in der Kommune herrschten zwei Tendenzen vor – die der Blanquisten und der Proudhonisten –, die beide dem zuwiderhandeln mussten, was ihre Doktrin sie lehrte.2 Wir aber sind so vorgegangen, wie der Marxismus es uns gelehrt hat. Gleichzeitig wurde die politische Tätigkeit des ZK in ihren konkreten Äußerungen völlig durch die absoluten Erfordernisse der unaufschiebbaren, dringenden Notwendigkeit bestimmt. Wir mussten uns fast durchweg tastend vorwärtsbewegen. Diesen Umstand wird jeder Historiker, der imstande sein wird, die gesamte Tätigkeit des ZK der Partei und die Tätigkeit der Sowjetmacht in diesem Jahr im Ganzen aufzurollen, besonders unterstreichen. Dieser Umstand springt vor allem in die Augen, wenn wir versuchen, das Durchlebte mit einem Blick zu erfassen. Aber das hat uns nicht einmal am 23. (10.) Oktober 1917, als die Frage der Machtergreifung entschieden wurde, auch nur im Geringsten schwankend gemacht.3 Wir zweifelten nicht daran, dass wir nach einem Ausspruch des Genossen Trotzki werden experimentieren, einen Versuch anstellen müssen. Wir machten uns an ein Werk, an das sich bisher noch niemand in der Welt in diesem Umfange gewagt hatte.

Dasselbe gilt für die Rote Armee. Als nach der Beendigung des Krieges die Armee sich zu zersetzen begann, glaubten anfangs viele, dass dies nur eine russische Erscheinung sei. Wir sehen aber, dass die russische Revolution im Grunde genommen die Generalprobe oder eine der Proben für die proletarische Weltrevolution war. Als wir den Brester Frieden diskutierten, als wir Anfang Januar 1918 die Frage des Friedens stellten, wussten wir noch nicht, wann und in welchen anderen Ländern diese Zersetzung der Armee beginnen wird. Wir schritten von Versuch zu Versuch, wir versuchten eine Freiwilligenarmee zu schaffen, wobei wir tastend vorgingen, herauszufühlen suchten und probierten, auf welchem Wege unter den gegebenen Umständen die Aufgabe gelöst werden könnte. Die Aufgabe aber war klar gestellt. Ohne die bewaffnete Verteidigung der sozialistischen Republik konnten wir nicht bestehen. Die herrschende Klasse wird nie ihre Macht der unterdrückten Klasse abtreten. Diese muss vielmehr durch die Tat beweisen, dass sie imstande ist, nicht nur die Ausbeuter zu stürzen, sondern sich auch zur Selbstverteidigung zu organisieren, alles aufs Spiel zu setzen. Wir haben stets gesagt: „Es gibt Kriege und Kriege“. Wir verurteilten den imperialistischen Krieg, aber wir lehnten nicht den Krieg schlechthin ab. Jene Leute, die uns des Militarismus zu beschuldigen versuchten, haben sich verrannt. Und als ich den Bericht über die Berner Konferenz der Gelben las, auf der Kautsky den Ausdruck gebrauchte, dass es bei den Bolschewiki nicht Sozialismus, sondern Militarismus gebe, da lachte ich und zuckte die Achseln. Hat es denn in der Geschichte auch nur eine große Revolution gegeben, die nicht mit Krieg verbunden gewesen wäre? Natürlich nicht! Wir leben nicht nur in einem Staat, sondern in einem System von Staaten, und das Bestehen der Sowjetrepublik neben imperialistischen Staaten ist auf die Dauer undenkbar. Am Ende wird der eine oder der andere siegen. Und bis es zu diesem Ende kommt, ist eine Reihe furchtbarster Zusammenstöße zwischen der Sowjetrepublik und den bürgerlichen Staaten unvermeidlich. Das bedeutet, dass die herrschende Klasse, das Proletariat, wenn es nur herrschen will und herrschen wird, dies auch durch seine militärische Organisation beweisen muss … Wie kann die Klasse, die bisher das Schlachtvieh für die Kommandeure der herrschenden imperialistischen Klasse gewesen ist, ihre eigenen Kommandeure hervorbringen, wie kann sie die Aufgabe lösen, den Enthusiasmus, das neue revolutionäre Schaffen mit der Ausnützung jenes Vorrates an bürgerlicher Wissenschaft und Technik des Militarismus in ihren schlimmsten Formen zu verbinden, ohne die diese Klasse die moderne Technik und die Methode der modernen Kriegführung nicht meistern kann?

Hier erwuchs uns eine Aufgabe, die sich im Laufe einer einjährigen Erfahrung verallgemeinerte. Als wir im revolutionären Programm unserer Partei über die Fachleute schrieben, fassten wir die praktischen Erfahrungen unserer Partei in einer der wichtigsten Fragen zusammen. Ich kann mich nicht erinnern, dass die früheren Lehrer des Sozialismus, die von der kommenden sozialistischen Revolution sehr viel voraussahen und viele Fingerzeige gaben, etwas zu dieser Frage gesagt hätten. Sie existierte nicht für sie, denn sie tauchte erst auf, als wir uns an den Aufbau der Roten Armee machten. Das bedeutete: aus der unterdrückten Klasse, die man in Schlachtvieh verwandelt hatte, eine Armee voller Enthusiasmus aufzubauen und diese Armee dazu zu bewegen, das Gewalttätigste, Abscheulichste von dein auszunützen, was uns der Kapitalismus als Erbe hinterlassen hat …

Dieser Widerspruch, der in der Frage der Roten Armee vor uns steht, macht sich auf allen Gebieten unseres Aufbaus geltend. Nehmt die Frage, mit der wir uns am meisten beschäftigt haben: den Übergang von der Arbeiterkontrolle zur Verwaltung der Industrie durch die Arbeiter. Nach den Dekreten und Beschlüssen des Rates der Volkskommissare und der örtlichen Organe der Sowjetmacht – sie alle formten unsere politische Erfahrung auf diesem Gebiet – hatte das ZK eigentlich nur die Bilanz zu ziehen. Es konnte in dieser Frage im eigentlichen Sinne des Wortes kaum leitend vorangehen. Es genügt, daran zu erinnern, wie hilflos, spontan und zufällig unsere ersten Dekrete und Beschlüsse über die Arbeiterkontrolle in der Industrie waren. Uns schien es, dass dies leicht zu machen sei. Praktisch führte dies dazu, dass die Notwendigkeit des Aufbaus bewiesen wurde, die Frage aber, wie aufzubauen ist, ließen wir ganz und gar unbeantwortet. Jede nationalisierte Fabrik, jeder Zweig der nationalisierten Industrie, das Verkehrswesen, besonders die Eisenbahnen – diese bedeutendste Verkörperung des kapitalistischen Mechanismus, die in der zentralisiertesten Weise auf der gewaltigen materiellen Technik aufgebaut und für den Staat am unentbehrlichsten ist –, all das verkörperte in sich die konzentrierte Erfahrung des Kapitalismus und bereitete uns unermessliche Schwierigkeiten.

Aus diesen Schwierigkeiten sind wir auch jetzt noch bei weitem nicht heraus. Anfangs betrachteten wir sie völlig abstrakt, wie Revolutionäre, die Propaganda machten, aber gar nicht wussten, wie die Sache anzupacken ist. Viele haben uns natürlich verurteilt, und alle Sozialisten und Sozialdemokraten verurteilen uns auch jetzt noch, weil wir dieses Werk begonnen haben, ohne zu wissen, wie es zu Ende zu führen ist. Aber das ist eine lächerliche Beschuldigung, von toten Leuten erhoben. Konnte man denn eine gewaltige Revolution beginnen und dabei im Voraus wissen, wie sie zu Ende zu führen ist? Kann man denn dieses Wissen aus Büchern schöpfen? Nein. Nur der Erfahrung der Massen konnte unser Entschluss entspringen. Und ich halte es für unser Verdienst, dass wir unter unglaublichen Schwierigkeiten an die Lösung der Frage herangegangen sind, die uns bis dahin zur Hälfte unbekannt war, dass wir die proletarischen Massen zur selbständigen Arbeit herangezogen haben, dass wir zur Nationalisierung der Industriebetriebe gelangt sind usw. Wir erinnern uns, wie wir im Smolny zehn und zwölf Dekrete auf einmal beschlossen. Das war ein Ausdruck unserer Entschlossenheit und des Wunsches, die Erfahrung und Selbsttätigkeit der proletarischen Massen zu wecken. Jetzt besitzen wir diese Erfahrung. Jetzt sind wir von der Arbeiterkontrolle zur Arbeiterverwaltung der Industrie übergegangen oder nahe an sie herangekommen. Jetzt haben wir an Stelle vollkommener Hilflosigkeit eine reiche Erfahrung, und soweit dies möglich war, haben wir diese in unserem Programm zusammengefasst. Darauf muss bei der Organisationsfrage ausführlich eingegangen werden. Wir hätten diese Arbeit nicht durchführen können, wenn uns nicht die Genossen in den Gewerkschaften dabei geholfen, wenn sie nicht mitgearbeitet hätten.

In Westeuropa steht die Frage anders. Die Genossen sehen dort in den Gewerkschaften ein Übel, weil dort die gelben Vertreter des alten Sozialismus sich der Gewerkschaften in einem Maße bemächtigt haben, dass die Kommunisten sich von ihrer Unterstützung wenig versprechen. Viele Vertreter der westeuropäischen Kommunisten, sogar Rosa Luxemburg, proklamieren die Liquidierung der Gewerkschaften. Das beweist, um wie viel schwieriger unsere Aufgabe in Westeuropa ist. Bei uns dagegen hätten wir uns ohne die Unterstützung durch diese Gewerkschaften nicht einen Monat halten können. In dieser Hinsicht haben wir die Erfahrung einer gewaltigen praktischen Arbeit, die es uns ermöglicht, an die Lösung der schwierigsten Fragen heranzugehen.

Nehmen wir die Frage der Fachleute, die sich uns auf Schritt und Tritt entgegenstellt, die bei jeder Ernennung aufgeworfen wird und mit der sowohl die Vertreter der Volkswirtschaft als auch das ZK der Partei zu tun haben. In der gegenwärtigen Lage kann das ZK der Partei nicht unter Wahrung der Formalitäten arbeiten. Wenn nicht die Möglichkeit bestünde, Genossen zu bestimmen, die auf ihrem Gebiet selbständig arbeiten, dann wäre es für uns überhaupt unmöglich zu arbeiten. Nur dank dem Umstand, dass wir solche Organisatoren wie J. M. Swerdlow hatten, konnten wir während des Krieges so arbeiten, dass es bei uns nicht einen einzigen Konflikt gab, der der Rede wert wäre. Und bei dieser Arbeit mussten wir notwendigerweise die Hilfe jener Leute ausnützen, die uns ihre Dienste anboten und die über Kenntnisse verfügten, die sie in der allen Zeit erworben haben.

Nehmen wir speziell die Verwaltung des Militärressorts. Hier ist ohne Vertrauen zum Stab, zu den bedeutenden, als Organisatoren tätigen Fachleuten die Frage nicht zu lösen. In Einzelfällen gab es unter uns Meinungsverschiedenheiten darüber, aber grundsätzlich konnte es da keine Zweifel geben. Wir nahmen die Hilfe bürgerlicher Fachleute in Anspruch, die von bürgerlicher Mentalität völlig durchtränkt sind, die uns verrieten und noch Jahre hindurch verraten werden. Dennoch ist es kindisch, die Frage so zu stellen, dass wir mit den Kräften fein säuberlicher Kommunisten und nicht mit Hilfe bürgerlicher Fachleute den Kommunismus aufbauen sollen. Wir sind im Kampf gestählt, sind stark und einig, und wir müssen den Weg der organisatorischen Arbeit gehen und hierbei das Wissen und die Erfahrung dieser Fachleute ausnützen. Das ist eine unumgängliche Bedingung, ohne die es unmöglich ist, den Sozialismus aufzubauen. Ohne das Erbe der kapitalistischen Kultur können wir den Sozialismus nicht aufbauen. Wir können den Kommunismus aus nichts anderem erbauen als aus dem, was der Kapitalismus uns hinterlassen hat.

Wir müssen jetzt praktisch aufbauen und müssen mit den Händen unserer Feinde die kommunistische Gesellschaft schaffen. Das scheint vielleicht ein Widerspruch, sogar ein unlösbarer Widerspruch zu sein, in Wirklichkeit aber kann die Aufgabe des kommunistischen Aufbaus nur auf diesem Wege gelöst werden. Und wenn wir einen Blick auf unsere Erfahrungen werfen, darauf, wie wir tagtäglich mit dieser Frage in Berührung kommen, wenn wir die praktische Arbeit des ZK betrachten, dann scheint es mir, dass unsere Partei diese Aufgabe in der Hauptsache gelöst hat. Das bot gewaltige Schwierigkeiten, aber nur so konnte die Aufgabe gelöst werden. Die organisierende, schaffende, kameradschaftliche Arbeit muss die bürgerlichen Spezialisten derart umschlingen, dass sie gezwungen werden, in Reih und Glied mit dem Proletariat zu marschieren, so sehr sie sich auch auf Schritt und Tritt widersetzen und dagegen ankämpfen mögen. Wir müssen sie als technische, kulturelle Kraft zur Arbeit heranziehen, um sie zu erhalten und um aus einem kulturlosen und barbarischen kapitalistischen Land ein kommunistisches Kulturland zu machen. Und ich glaube, dass wir in diesem Jahr gelernt haben zu bauen, dass wir den richtigen Weg beschritten haben und von diesem Weg nicht abirren werden.

Ich möchte noch kurz die Ernährungsfrage und die Frage des flachen Landes berühren. Die Ernährungsfrage war bei uns stets die schwierigste. In einem Lande, wo das Proletariat die Macht mit Hilfe der Bauernschaft ergreifen musste, wo dem Proletariat die Rolle der treibenden Kraft der kleinbürgerlichen Revolution zufiel, war unsere Revolution bis zur Organisierung der Komitees der Dorfarmut, d. h. bis zum Sommer, ja bis zum Herbst 1918 in hohem Maße eine bürgerliche Revolution.

Wir haben keine Angst, dies auszusprechen. Wir haben die Oktoberrevolution so leicht machen können, weil die Bauernschaft als Ganzes mit uns ging, weil sie gegen die Gutsherren ging, weil sie sah, dass wir hier bis zu Ende gehen werden, weil wir durch Gesetze das verwirklichten, wovon in den Zeitungen der Sozialrevolutionäre geschrieben wurde, was das feige Kleinbürgertum versprach, aber nicht zu erfüllen vermochte. Als aber die Komitees der Dorfarmut sich zu bilden begannen, von diesem Augenblick an wurde unsere Revolution eine proletarische Revolution. Es erwuchs uns eine Aufgabe, die wir bei weitem noch nicht gelöst haben. Aber außerordentlich wichtig ist, dass wir sie praktisch gestellt haben. Die Komitees der Dorfarmut waren eine Übergangsstufe. Das erste Dekret über die Organisierung der Komitees der Dorfarmut durch die Sowjetmacht wurde auf Anregung des Genossen Zjurupa erlassen, der damals an der Spitze des Ernährungswesens stand. Man musste die nicht landwirtschaftliche Bevölkerung, die Hungerqualen litt, vor dem Verderben retten. Dies war nur möglich mit Hilfe der Komitees der Dorfarmut als proletarische Organisationen. Und erst als wir sahen, dass auf dem Lande im Sommer 1918 die Oktoberrevolution begann und sich vollzog, erst da gewannen wir unsere wirkliche proletarische Basis, erst da wurde unsere Revolution nicht in Flugblättern, Versprechungen und Erklärungen, sondern in Wirklichkeit eine proletarische.

Wir haben jetzt noch die Aufgabe nicht gelöst, vor der unsere Partei steht, die Aufgabe der Schaffung von Formen für die Organisation des Proletariats und des Halbproletariats auf dem Lande. Unlängst war ich in Petrograd und wohnte dem ersten Kongress der Landarbeiter des Petrograder Gouvernements bei. Ich sah dort, wie tastend wir noch an diese Frage herangehen, doch ich glaube, dass sie zweifellos vorwärtsgebracht werden wird. Ich muss sagen, dass die wichtigste Erfahrung, die uns die politische Leitung in diesem Jahr gegeben hat, darin besteht, dass wir hier einen organisatorischen Stützpunkt finden müssen. Wir haben durch die Schaffung der Komitees der Dorfarmut, die Neuwahl der Sowjets, die Umstellung unserer Ernährungspolitik, wo wir auf unglaubliche Schwierigkeiten stießen, einen Schritt in dieser Richtung gemacht. Vielleicht wird man diese Politik in jenen Randgebieten Russlands, die jetzt sowjetisch werden – in der Ukraine, im Dongebiet –, modifizieren müssen. Es wäre ein Fehler, wenn wir die Dekrete für alle Gegenden Russlands einfach schablonenmäßig kopierten, wenn die Bolschewiki, die Kommunisten, die Sowjetfunktionäre in der Ukraine und am Don sie wahllos, in Bausch und Bogen auf die anderen Gebiete ausdehnen wollten. Man wird manche Eigenart erleben müssen, wir legen uns keineswegs auf eine einförmige Schablone fest, wir entscheiden nicht ein für allemal, dass unsere Erfahrung, die Erfahrung Zentralrusslands, sich ohne weiteres auf alle Randgebiete übertragen lässt Wir sind eben erst an die Aufgabe des wirklichen Aufbaus herangetreten, wir machen erst die ersten Schritte in dieser Richtung – vor uns eröffnet sich ein unermessliches Arbeitsfeld.

Ich habe darauf hingewiesen, dass der erste entscheidende Schritt der Sowjetmacht die Bildung von Komitees der Dorfarmut war. Dies wurde von den im Ernährungswesen tätigen Genossen angeregt und war durch die Notwendigkeit bedingt. Um aber unsere Aufgaben restlos durchzuführen, brauchen wir nicht solche vorübergehenden Organisationen wie die Komitees der Dorfarmut. Bei uns bestehen neben den Sowjets Gewerkschaftsorganisationen, die wir als Schule zur Erziehung der rückständigen Massen benützen. Die Schicht der Arbeiter, die in diesem Jahr Russland tatsächlich regiert und die ganze Politik verwirklicht haben, die Schicht, die unsere Stärke darstellte, ist in Russland unglaublich dünn. Wir haben uns davon überzeugt, wir fühlen es am eigenen Leibe. Wenn einmal der künftige Historiker die Daten darüber zusammenstellen wird, welche Gruppen während dieser siebzehn Monate in Russland regiert haben, wie viel hunderte oder tausende Menschen die ganze Arbeit, die ganze unglaubliche Last der Regierung des Landes auf ihren Schultern getragen haben, wird niemand glauben wollen, dass man dies mit einer so verschwindend kleinen Zahl von Kräften erreichen konnte. Diese Zahl war deshalb so verschwindend klein, weil es in Russland nur eine kleine Zahl verständiger, gebildeter, befähigter politischer Führer gab. Diese Schicht war in Russland dünn und hat sich in dem Kampf, der hinter uns liegt, aufgerieben, überarbeitet, hat mehr getan, als sie konnte. Ich glaube, dass wir auf diesem Parteitag praktische Mittel suchen werden, wie wir in der Industrie und – was noch wichtiger ist – auf dem Lande immer neue Kräfte in Massen verwenden können, wie wir in die Sowjetarbeit Arbeiter und Bauern einbeziehen, die auf dem Durchschnittsniveau oder noch darunter stehen. Ohne ihre Mithilfe im Massenumfang ist meiner Meinung nach eine weitere Tätigkeit unmöglich.

Da meine Redezeit beinahe abgelaufen ist. will ich nur noch einige Worte über unser Verhältnis zum Mittelbauern sagen. Prinzipiell war dieses Verhältnis für uns auch vor Beginn der Revolution klar. Uns war die Aufgabe der Neutralisierung der Bauernschaft gestellt. In einer Moskauer Versammlung, in der die Frage des Verhältnisses zu den kleinbürgerlichen Parteien aufgeworfen wurde, habe ich Engels wörtlich zitiert, der nicht nur darauf verwies, dass der Mittelbauer unser Verbündeter ist, sondern sogar der Überzeugung Ausdruck verlieh, dass es vielleicht gelingen wird, auch gegenüber den Großbauern ohne Repressalien, ohne Unterdrückungsmaßnahmen auszukommen. Für Russland hat sich diese Annahme nicht bewahrheitet: wir standen, stehen und werden in einem direkten Bürgerkrieg gegen die Kulaken stehen. Das ist unvermeidlich. Das haben wir in der Praxis gesehen. Aber infolge der Unerfahrenheit der Sowjetfunktionäre und der Schwierigkeit der Frage haben die Schläge, die den Kulaken galten, auf Schritt und Tritt die Mittelbauernschaft getroffen. Hier haben wir außerordentlich gesündigt. Die auf diesem Gebiet gesammelte Erfahrung wird uns helfen, alles zu tun, um dies in Zukunft zu vermeiden. Das ist die Aufgabe, die vor uns nicht theoretisch, sondern praktisch steht. Ihr wisst sehr gut, dass dies eine schwierige Aufgabe ist. Wir haben nichts Greifbares, was wir dem Mittelbauern bieten könnten; er aber ist Materialist, Praktiker und fordert konkrete, materielle Güter, die wir augenblicklich nicht geben können und ohne die sich das Land vielleicht noch durch Monate eines schweren Kampfes hindurch wird behelfen müssen, der jetzt den vollen Sieg verheißt. Aber in unserer Verwaltungspraxis können wir vieles tun; unseren Apparat verbessern, eine Masse von Missbräuchen beseitigen. Wir können und müssen die Linie unserer Partei, die nicht hinreichend auf den Block, das Bündnis, auf die Verständigung mit der Mittelbauernschaft gerichtet war, ausgleichen und ausrichten.

Das ist in kurzen Zügen das, was ich euch jetzt über die wirtschaftliche und politische Arbeit des ZK im abgelaufenen Jahr berichten konnte. Ich muss nunmehr in aller Kürze zum zweiten Teil der mir vom ZK übertragenen Aufgabe, zum organisatorischen Bericht des ZK, übergehen. Dieser Aufgabe hätte sich nur Jakow Michailowitsch Swerdlow, so, wie es sich gehört, entledigen können; ihn hatte das ZK auch zum Berichterstatter über diese Frage bestimmt. Bei seinem ausgezeichneten, unglaublichen Gedächtnis hatte er den größeren Teil seines Berichtes im Kopf, und die persönliche Vertrautheit mit der Arbeit der unteren Organisationen gab ihm die Möglichkeit, diesen Bericht zu erstatten. Ich bin nicht in der Lage, ihn auch nur zum hundertsten Teil zu ersetzen, weil wir gezwungen waren, uns in dieser ganzen Arbeit vollkommen auf den Genossen Swerdlow zu verlassen, auf den uns ganz zu verlassen wir allen Grund hatten und der .sehr oft allein Entscheidungen traf.

Ich kann hier kurze Auszüge daraus mitteilen, was in Form fertiger schriftlicher Berichte vorliegt. Doch das Sekretariat des ZK, das keine Möglichkeit hatte, seine Arbeit zu beenden, hat ganz bestimmt versprochen, dass die Berichte nächste Woche druckfertig sein und, auf dem Vervielfältigungsapparat abgezogen, allen Delegierten des Parteitages zur Verfügung gestellt werden sollen. Sie werden die flüchtigen bruchstückweisen Angaben, die ich hier machen kann, ergänzen. In dem Material zum Bericht, das jetzt schriftlich vorliegt, finden wir vor allem Angaben über die eingegangenen Schriftstücke: im Dezember 1918 1483, im Januar 1919 1537 und im Februar 1840. Es sind auch die Angaben über die prozentuelle Verteilung dieser Schriftstücke angeführt, aber ich werde das nicht verlesen. Daran interessierte Genossen werden aus dem zur Verteilung gelangenden Bericht ersehen, dass z. B. im November im Sekretariat 490 Besucher empfangen wurden. Die Genossen, die mir diesen Bericht übergaben, sagen, dass er kaum die Hälfte dessen erfassen kann, was das Sekretariat erledigt hat, denn Dutzende von Delegierten wurden täglich vom Genossen Swerdlow empfangen und mehr als die Hälfte davon dürften nicht Sowjet-, sondern Parteifunktionäre gewesen sein.

Ich muss eure Aufmerksamkeit auf den Bericht über die Tätigkeit der Föderation ausländischer Gruppen lenken. Dieses Arbeitsgebiet ist mir insofern bekannt, als ich die Möglichkeit hatte, die Materialien der ausländischen Gruppen flüchtig durchzusehen. Deren gab es anfangs sieben, jetzt neun. Genossen, die in rein großrussischen Gegenden leben, die nicht die Möglichkeit hatten, diese Gruppen unmittelbar kennenzulernen, und auch nicht die Berichte in der Presse gelesen haben, mögen sich gefälligst die Zeitungsauszüge ansehen, die ich hier nicht ganz vorlesen möchte. Ich muss sagen, dass man hier die wirkliche Grundlage dessen findet, was wir für die III. Internationale getan haben. Die III. Internationale wurde in Moskau auf einem kurzen Kongress gegründet, über den Genosse Sinowjew einen ausführlichen Bericht erstatten wird, der auch über alles, was das ZK in allen Fragen der Internationale vorschlägt, berichten wird. Wenn wir in kurzer Zeit auf dem Kommunistenkongress in Moskau so viel leisten konnten, so deshalb, weil das ZK unserer Partei und der Organisator des Kongresses, Genosse Swerdlow, eine gewaltige Vorbereitungsarbeit geleistet hatten. Es wurde Propaganda und Agitation unter den in Russland befindlichen Ausländern getrieben und eine ganze Reihe von ausländischen Gruppen organisiert. Dutzende von Mitgliedern dieser Gruppen wurden mit den wichtigsten Plänen und mit den allgemeinen Aufgaben der Politik im Sinne der Leitsätze vertraut gemacht. Hunderttausende von Kriegsgefangenen aus Armeen, die die Imperialisten ausschließlich für ihre Zwecke geschaffen hatten, brachten es nach ihrer Rückkehr nach Ungarn, Deutschland und Österreich zustande, dass die Bazillen des Bolschewismus sich dieser Länder restlos bemächtigt haben. Und wenn dort mit uns solidarische Gruppen oder Parteien vorherrschen, ist dies jener äußerlich nicht sichtbaren und im organisatorischen Bericht summarisch und kurz angeführten Arbeit der ausländischen Gruppen in Russland zu verdanken, die eines der wichtigsten Kapitel der Tätigkeit der Kommunistischen Partei Russlands als einer der Zellen der kommunistischen Weltpartei war.

Ferner finden sich in dem Material, das mir übergeben wurde, Angaben darüber, wie und von welchen Organisationen das ZK informiert wurde, und hier erscheint unsere russische Unorganisiertheit in ihrer ganzen beschämenden Armseligkeit. Regelmäßige Informationen sind von den Organisationen von vier Gouvernements, unregelmäßige von 14, gelegentliche von 16 Gouvernements eingelaufen. Die Aufzählung der Gouvernements befindet sich in der Liste, erlasst es mir, sie zu verlesen. Ein großer Teil dieser unserer außerordentlichen Unorganisiertheit, unseres außerordentlichen Mangels an Organisation ist natürlich auf die Verhältnisse des Bürgerkrieges zurückzuführen, aber keineswegs alles. Sich dahinter zu verstecken, sich damit zu verteidigen und damit herauszureden, ist am allerwenigsten berechtigt. Organisationsarbeit war nie die starke Seite der Russen im Allgemeinen und der Bolschewiki im Besonderen, dabei ist aber die Hauptaufgabe der proletarischen Revolution gerade die Organisationsarbeit. Hier ist die Organisationsfrage nicht umsonst in den Vordergrund gerückt. Hier muss entschieden und fest und noch einmal entschieden und noch einmal fest, mit allen Mitteln gekämpft werden. Ohne eine dauernde Erziehung und Umerziehung werden wir hier nichts erreichen. Das ist das Gebiet, auf dem die revolutionäre Gewalt, die Diktatur missbraucht wird, und vor diesem Missbrauch möchte ich euch warnen. Die revolutionäre Gewalt und die Diktatur sind eine wunderschöne Sache, wenn man sie dort und gegen den anwendet, wo und gegen wen sie angewendet werden sollen. Aber auf organisatorischem Gebiet darf man sie nicht anwenden. Diese Aufgabe der Erziehung, Neuerziehung und der langwierigen organisatorischen Arbeit haben wir noch keineswegs gelöst, und wir müssen systematisch darangehen.

Hier liegt ein ausführlicher Finanzbericht vor. Von den einzelnen Posten ist der höchste der für die Herausgabe von Büchern für die Arbeiter und für Zeitungen: 1 Million, 1 Million und nochmals 1 Million – 3 Millionen. Den Parteiorganisationen wurden 2.800.000 zugewandt, die Redaktionskosten betragen 3.600.000. Genauere Angaben finden sich in dem Bericht, der vervielfältigt und an alle Delegierten verteilt werden wird. Vorläufig können die Genossen durch die Vertreter der Gruppen darin Einsicht nehmen. Gestattet mir, diese Ziffern zu übergehen. Die Genossen, die für den Bericht Material geliefert haben, haben hier das Wichtigste und Anschaulichste gegeben: die allgemeinen Ergebnisse der propagandistischen Arbeit im Sinne der Verlagstätigkeit. Der Verlag „Kommunist“ hat 62 Bücher herausgegeben. Die Zeitung „Prawda“ warf 1918 2 Millionen Reingewinn ab und erschien in insgesamt 25 Millionen Exemplaren. Die Zeitung „Bednota“ ergab 2.370.000 Reingewinn und erschien in insgesamt 33 Millionen Exemplaren. Die Genossen vom Organisationsbüro des ZK haben versprochen, die genauen Angaben, über die sie verfügen, noch in der Weise umzuarbeiten, dass man wenigstens zwei Ausgangspunkte miteinander vergleichen kann. Dann wird für jedermann die riesenhafte Aufklärungsarbeit der Partei ersichtlich sein, die zum ersten Mal in der Geschichte die moderne großkapitalistische Technik des Druckwesens nicht für die Bourgeoisie, sondern für die Arbeiter und Bauern ausnützt. Tausend und Millionen Mal hat man uns der Verletzung der Pressefreiheit, der Abkehr von der Demokratie beschuldigt, und man tut es noch immer. Demokratie nennen unsere Ankläger den Zustand, wo die Presse vom Kapital gekauft ist, damit die reichen Leute sich der Presse für ihre Zwecke bedienen können. Wir nennen das nicht Demokratie, sondern Plutokratie. Alles, was die bürgerliche Kultur geschaffen hat, um das Volk zu betrügen und die Kapitalisten zu verteidigen, haben wir ihnen genommen, um die politischen Erfordernisse der Arbeiter und der Bauern zu befriedigen. Und wir haben auf diesem Gebiet so viel getan, wie es keiner sozialistischen Partei innerhalb eines Vierteljahrhunderts oder halben Jahrhunderts gelungen ist. Dennoch haben wir unermesslich wenig getan im Vergleich damit, was zu tun ist.

Das letzte Material, das mir das Büro übergeben hat, sind die Rundschreiben. Ihrer gibt es 14, und die Genossen, denen sie unbekannt oder nur wenig bekannt sind, werden aufgefordert. sich mit ihnen bekannt zu machen. In dieser Hinsicht war natürlich die Tätigkeit des ZK keineswegs vollständig. Aber man muss sich die Umstände vor Augen halten, unter denen wir arbeiten. Täglich mussten wir in einer Reihe von Fragen politische Direktiven erteilen, und nur in Ausnahmefällen, ja in den seltensten Fällen konnten wir dies durch das Politische Büro oder das Plenum des ZK tun. Unter diesen Verhältnissen anzunehmen, dass wir uns häufig politischer Rundschreiben bedienen konnten, ist unmöglich.

Ich wiederhole, dass wir als Kampforgan einer Kampfpartei in der Epoche des Bürgerkrieges gar nicht anders arbeiten können. sonst werden das entweder halbe Worte sein, oder es wird ein Parlament sein; aber ein Parlament kann in der Periode der Diktatur weder Fragen entscheiden noch die Partei oder die Sowjetorganisationen leiten. Genossen, in einer Zeit, da wir uns des Apparats der bürgerlichen Druckereien und der Presse bedienen, ist die Bedeutung der Rundschreiben des ZK zurückgegangen. Wir versandten nur solche Direktiven, die nicht veröffentlicht werden konnten, denn in unserer Tätigkeit, die, ungeachtet ihres gewaltigen Umfangs, offen war, gab es immerhin auch illegale Arbeit, die es noch gibt und auch künftig geben wird. Wir haben den Vorwurf der Illegalität und der Heimlichkeit nicht gefürchtet; nein, wir waren stolz darauf. Und als wir in eine Lage gerieten, wo wir, nachdem wir bei uns die Bourgeoisie gestürzt hatten, der europäischen Bourgeoisie gegenüberstanden, da verblieb in unserer Tätigkeit manches geheim, und in unserer Arbeit gab es Illegalität …

Damit, Genossen, schließe ich meinen Bericht (Beifall.)

1 Lenin meint hier die proletarische Revolution in Finnland zu Beginn des Jahres 1918, ferner den proletarischen Umsturz und die Anfang 1919 errichtete Sowjetmacht in Lettland sowie die Rätebewegung in Deutschland, die sich Ende 1918 und Anfang 1919 entfaltete (der erste allgemeine Kongress der Arbeiter- und Soldatenräte tagte vom 16. bis zum 21. Dezember 1918), schließlich den Januaraufstand der deutschen Arbeiter, die Straßenkämpfe im März 1919 in Berlin und das Heranreifen einer Räterevolution in Ungarn (die Nachricht von der Bildung der Räterepublik in Ungarn traf während des VIII. Parteitages der KPR ein). Außerdem wurden Anfang 1919 die kommunistischen Kräfte in internationalem Maßstab zusammengeschlossen (der I. Kongress der Kommunistischen Internationale tagte in der Zeit vom 2. bis zum 7. März 1919).

2 Lenin meint hier offenbar folgende Stelle aus der von Engels im Jahre 1891 geschriebenen „Einleitung“ zum Bürgerkrieg in Frankreich“ von Karl Marx:

Was aber noch wunderbarer, das ist das viele Richtige, das trotzdem von der aus Blanquisten und Proudhonisten zusammengesetzten Kommune getan wurde. Selbstverständlich sind für die ökonomischen Dekrete der Kommune, für ihre rühmlichen wie für ihre unrühmlichen Seiten, in erster Linie die Proudhonisten verantwortlich, wie für ihre politischen Handlungen und Unterlassungen die Blanquisten. Und in beiden Fällen wollte es die Ironie der Geschichte – wie gewöhnlich, wenn Doktrinäre ans Ruder kommen – dass die einen wie die andern das Gegenteil von dem taten, was ihre Schuldoktrin vorschrieb“ (Karl Marx, Ausgewählte Schriften, Bd. II, S. 468, Zürich 1934).

3 Es handelt sich um die Sitzung des Zentralkomitees der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands (Bolschewiki) vom 23. (10.) Oktober 1917. Lenin erstattete Bericht über die Lage. Die von ihm vorgeschlagene Resolution über den bewaffneten Aufstand (den Wortlaut der Resolution siehe Bd. VI der vorliegenden Ausgabe, S. 307) wurde mit 10 gegen 2 Stimmen (die von Kamenew und Sinowjew) angenommen. Von diesem Augenblick an begann das Streikbrechertum Sinowjews und Kamenews im Oktober. Am nächsten Tag gaben sie ihre bekannte Kapitulationserklärung an das ZK ab, worin sie gegen den Beschluss des ZK protestierten, und wandten sich dann auch in der kleinbürgerlichen Presse („Nowaja Schisn“ – „Neues Leben“) gegen den ZK-Beschluss. (Siehe darüber ausführlicher Anm. 96 zu Bd. VI der vorliegenden Ausgabe.)

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