Wladimir I. Lenin: Resolution über die Stellung zur Mittelbauernschaft beschlossen vom VIII. Parteitag der KPR(B) 23. März 1919 [Ausgewählte Werke, Band 8. Der Kriegskommunismus 1918-1920. Zürich 1935, S. 193-196] In der Frage der Arbeit auf dem Lande erkennt der VIII. Parteitag, der auf dem Boden des am 22. März 1919 beschlossenen Parteiprogramms steht und sich mit dem von der Sowjetmacht bereits durchgeführten Gesetz über die sozialistische Feldbereinigung sowie mit den Maßnahmen zwecks Übergangs zur sozialistischen Landwirtschaft vollkommen einverstanden erklärt, an, dass gegenwärtig die richtigere Durchführung der Parteilinie gegenüber der Mittelbauernschaft im Sinne einer größeren Aufmerksamkeit für ihre Bedürfnisse, der Beseitigung der Willkür von Lokalbehörden und des Strebens nach Verständigung mit der Mittelbauernschaft von besonderer Bedeutung ist. 1. Die Mittelbauern mit dem Kulakentum verwechseln, auf sie in diesem oder jenem Maße die gegen das Kulakentum gerichteten Maßnahmen ausdehnen heißt in gröbster Weise nicht nur gegen alle Dekrete der Sowjetmacht und ihre ganze Politik, sondern auch gegen alle Grundprinzipien des Kommunismus verstoßen, die auf die Verständigung des Proletariats mit der Mittelbauernschaft in der Periode des entscheidenden Kampfes des Proletariats für den Sturz der Bourgeoisie als auf eine der Bedingungen des schmerzlosen Übergangs zur Beseitigung jeglicher Ausbeutung hinweisen. 2. Die Mittelbauernschaft, die infolge der Rückständigkeit der landwirtschaftlichen Technik im Verhältnis zur Industrie selbst in den vorgeschrittenen kapitalistischen Ländern – von Russland gar nicht zu reden – relativ starke ökonomische Wurzeln hat, wird sich ziemlich lange Zeit nach dem Beginn der proletarischen Revolution halten. Deshalb muss die Taktik der Sowjetfunktionäre auf dem Lande ebenso wie die der Parteifunktionäre auf eine lange Periode der Zusammenarbeit mit der Mittelbauernschaft eingestellt sein. 3. Die Partei muss um jeden Preis durchsetzen, dass alle Sowjetfunktionäre auf dem Lande vollkommen klar und fest die vom wissenschaftlichen Sozialismus eindeutig festgestellte Wahrheit erkennen, dass die Mittelbauernschaft nicht zu den Ausbeutern gehört, da sie keinen Profit aus fremder Arbeit zieht. Eine solche Klasse von Kleinproduzenten kann durch den Sozialismus nichts verlieren, sondern sie gewinnt im Gegenteil sehr viel durch die Abschüttelung des Joches des Kapitals, von dem sie in jeder, selbst der allerdemokratischsten Republik auf tausend Arten ausgebeutet wird. Die völlig richtige Politik der Sowjetmacht auf dem Lande sichert so das Bündnis und die Verständigung des siegreichen Proletariats mit der Mittelbauernschaft. 4. Bei der Förderung der Genossenschaften jeglicher Art wie auch der landwirtschaftlichen Kommunen der Mittelbauern dürfen die Vertreter der Sowjetmacht nicht den geringsten Zwang zur Bildung solcher Vereinigungen ausüben. Nur jene Vereinigungen sind wertvoll, die die Bauern selbst aus eigener freier Initiative schaffen und deren Vorteile ihnen in der Praxis klar werden. Jede Überstürzung auf diesem Gebiet ist schädlich, denn sie kann nur die Vorurteile der Mittelbauern gegen Neuerungen bestärken. Jene Vertreter der Sowjetmacht, die sich die Anwendung direkten oder auch nur indirekten Zwanges herausnehmen, um die Bauern zum Anschluss an Kommunen zu veranlassen, müssen zur strengsten Verantwortung gezogen und von der Arbeit auf dem Lande entfernt werden. 5. Alle willkürlichen Requisitionen, d. h. solche, die sich nicht auf die genauen Bestimmungen der Gesetze der Zentralgewalt stützen, müssen rücksichtslos verfolgt werden. Der Parteitag besteht in diesem Punkt auf der Verstärkung der Kontrolle durch das Volkskommissariat für Landwirtschaft, das Volkskommissariat für Inneres und das Allrussische Zentralexekutivkomitee. 6. Im gegenwärtigen Augenblick versetzt der äußerste Zerfall, der in allen Ländern durch den vierjährigen imperialistischen Krieg um der räuberischen Interessen der Kapitalisten willen hervorgerufen worden ist und der sich in Russland besonders verschärft hat, die Mittelbauern in eine schwierige Lage. Mit Rücksicht darauf besteht das Gesetz der Sowjetmacht über die Sondersteuer zum Unterschied von allen Gesetzen aller bürgerlichen Regierungen der Welt darauf, dass die Last der Steuer ganz auf die Kulaken, auf die nicht zahlreichen Vertreter der ausbeutenden Bauernschaft verlegt werde, die sich während des Krieges besonders bereichert hat. Die Mittelbauernschaft soll dagegen äußerst mäßig, nur in einem ihren Kräften durchaus angemessenen und nicht beschwerlichen Maße belastet werden. Die Partei fordert, dass die Eintreibung der Sondersteuer von der Mittelbauernschaft auf alle Fälle nachsichtiger gehandhabt wird, selbst wenn das zu einer Herabsetzung des Gesamtertrages der Steuer führen sollte. 7. Der sozialistische Staat muss großzügigste Hilfeleistung für die Bauernschaft entfalten, die vor allem in der Versorgung der Mittelbauern mit Produkten der städtischen Industrie, besonders mit verbesserten landwirtschaftlichen Geräten, mit Saatgut und jeglichem Material zur Hebung der landwirtschaftlichen Kultur und der Sicherung der Arbeit und des Lebens der Bauern besteht. Wenn die gegenwärtige Zerrüttung die sofortige und volle Durchführung dieser Maßnahmen nicht gestattet, so gehört es zu den Obliegenheiten der örtlichen Sowjetbehörden, alle erdenklichen Wege ausfindig zu machen, um der armen und der Mittelbauernschaft jedwede reale Hilfe zu erweisen, die ihr über den gegenwärtigen schweren Augenblick hinweghelfen soll. Die Partei hält die Schaffung eines großen staatlichen Fonds für diesen Zweck für notwendig. 8. Insbesondere muss man bestrebt sein zu erreichen, dass das Gesetz der Sowjetmacht, das von den Sowjetwirtschaften, der landwirtschaftlichen Kommunen und ähnlichen Vereinigungen die Gewährung unmittelbarer und allseitiger Hilfe an die umliegenden Mittelbauern erfordert, wirklich und in vollem Umfang durchgeführt wird.1 Nur auf Grund einer solchen tatsächlichen Hilfe ist eine Verständigung mit der Mittelbauernschaft möglich. Nur so kann und muss man ihr Vertrauen erobern. Der Parteitag lenkt die Aufmerksamkeit aller Parteifunktionäre auf die Notwendigkeit der sofortigen realen Durchführung aller Forderungen, die im Abschnitt des Parteiprogramms über die Agrarfrage enthalten sind, und zwar: a) Ordnung der bäuerlichen Bodennutzung (Abschaffung der Gemengelage, der langgestreckten Felder usw.), b) Versorgung der Bauern mit veredeltem Saatgut und Kunstdünger, c) Veredelung des Viehbestandes der Bauern, d) Verbreitung agronomischer Kenntnisse, e) agronomische Hilfe für die Bauern, f) Reparatur des bäuerlichen Inventars in den Reparaturwerkstätten der Sowjets, g) Errichtung von Verleihstellen und Versuchsstationen, Anlegung von Musterfeldern usw., h) Melioration der bäuerlichen Ländereien. 9. Genossenschaftliche Vereinigungen der Bauern zur Hebung der landwirtschaftlichen Produktion, insbesondere zur Verarbeitung landwirtschaftlicher Produkte, zur Melioration der bäuerlichen Ländereien, zur Förderung des Hausgewerbes usw. müssen vom Staat großzügige finanzielle und organisatorische Hilfe erhalten. 10. Der Parteitag erinnert daran, dass es weder in den Beschlüssen der Partei noch in den Dekreten der Sowjetmacht je ein Abweichen von der Linie der Verständigung mit der Mittelbauernschaft gegeben hat. So wurde z. B. in der besonders wichtigen Frage des Aufbaus der Sowjetmacht auf dem Lande, als die Komitees der Dorfarmut geschaffen wurden, ein vom Vorsitzenden des Rates der Volkskommissare und vom Volkskommissar für Ernährungswesen gezeichnetes Rundschreiben veröffentlicht, das auf die Notwendigkeit der Einbeziehung auch von Vertretern der Mittelbauern in die Komitees der Dorfarmut hinwies. Bei der Auflösung der Komitees der Dorfarmut verwies der Allrussische Sowjetkongress von neuem auf die Notwendigkeit der Einbeziehung von Vertretern der Mittelbauern in die Landbezirkssowjets. Die Politik der Arbeiter- und Bauernregierung und der Kommunistischen Partei muss auch weiter in diesem Geiste der Verständigung des Proletariats und der armen Bauernschaft mit der Mittelbauernschaft geführt werden. 1 In der Resolution sind hier folgende Artikel des Dekrets vom Februar 1919 „Über die sozialistische Flurbereinigung und die Maßnahmen zum Übergang zur sozialistischen Landwirtschaft“ gemeint: „Artikel 58. Damit die Sowjetgüter und auch die Kommunen für genossenschaftliche und gemeinschaftliche Bodenbearbeitung als landwirtschaftliche und Kulturzentren von größtmöglichem Nutzen für die benachbarte Bevölkerung sind, ist mit ihnen die Einrichtung von Veterinär- und Zuchtstationen, von Inventarverleih- und Saatausgabestellen sowie die Verbesserung der lokalen Wege, die Organisierung agronomischer Hilfe usw. zu verbinden. Artikel 59. Die Sowjetgüter dürfen sich nicht von der örtlichen landwirtschaftlichen Bevölkerung absondern, sondern sind verpflichtet, enge Beziehungen zu ihr anzuknüpfen und ihr auf jede Art und Weise behilflich zu sein, ihre Betriebe nach rationellen, besseren Grundsätzen zu bewirtschaften." |