Wladimir I. Lenin: Notizen eines Publizisten [Geschrieben am 14. Februar 1920. Veröffentlicht am 22. März in der Zeitschrift „Die Kommunistische Internationale" Nr. 9. Nach Sämtliche Werke, Band 25, Wien-Berlin 1930, S. 31-42] Bürger Jean Longuet hat mir einen Brief geschrieben, dessen Hauptinhalt die gleichen Klagen bilden, die der Artikel Longuets: „Wie die Russen betrogen werden“ („Populaire“ vom 10. Januar 1920) enthält, Longuet hat mir auch diese Nummer seines Blattes nebst einem Flugblatt des „Komitees zur Wiederherstellung der Internationale“ („Comité pour la Reconstruction de l'Internationale“) zugesandt. In dem Flugblatt sind zwei Resolutionsentwürfe für den Parteitag der französischen sozialistischen Partei enthalten, der demnächst in Straßburg stattfinden soll. Das Flugblatt ist im Namen des „Komitees zur Wiederherstellung der Internationale“ von 24 Personen unterzeichnet: Amédée Dunois, Fanny Clar, Chaussy, Delépine, Paul Faure, L. O. Frossard, Eugène Frot, Gourdeaux, Leiciague, Le Troquer, Paul Louis, Jean Longuet, Maurice Maurin, Mayéras, Mouret, Mauranges, Palicot, Pècher, Marianne Rauze, Daniel Renoult, Servantier, Sixte-Quenin, Tommasi, Verfeuil. Auf die Beschwerden und Angriffe Jean Longuets zu antworten, scheint mir überflüssig zu sein: eine genügende Antwort ist der Artikel F. Loriots in der „Vie Ouvrière” vom 16. 1. 1920 unter dem Titel: „Nicht so laut, Longuet“ („Tout doux Longuet!“)1 und der Artikel von Trotzki „Jean Longuet“ in Heft 7/8 der „Kommunistischen Internationale“. Dem ist nur noch ganz wenig hinzuzufügen. Es wäre vielleicht notwendig, Material über die Geschichte der Abwürgung des Streiks vom 21. Juli 1919 zu sammeln. Doch von Moskau aus bin ich dazu nicht imstande. Ich habe nur in einem österreichischen kommunistischen Blatt eine Stelle aus dem „Avanti“2 gesehen, in der die schändliche Rolle entlarvt wird, die einer der schändlichsten Sozialverräter (oder Anarchoverräter?), der frühere syndikalistische und antiparlamentarische Schreihals Jouhaux hierbei gespielt hat. Warum beauftragt Longuet nicht irgend jemand mit dieser Arbeit, die sich in Paris leicht machen lässt? Alle Dokumente, alle Notizen und Artikel der europäischen kommunistischen Presse, alle speziellen Interviews aller daran interessierten Führer und Teilnehmer über die Frage der Abwürgung des Streiks vom 21. Juli 1919 müssten gesammelt werden. Diese Arbeit würden wir mit Freuden herausgeben. Die „sozialistische Erziehung“, über welche die „Zentristen“ der ganzen Welt (die Unabhängigen in Deutschland, die Longuetisten in Frankreich, die ILP in England u. a.) so viel und so gern reden, darf man nicht als pedantisch-doktrinäre Wiederholung sozialistischer Gemeinplätze des Sozialismus auffassen, die uns alle zum Überdruss sind und die nach den Jahren 1914-1918 niemand Vertrauen einflößen, sondern als konsequente Entlarvung der Fehler der Führer und der Bewegung. Ein Beispiel. Alle Führer, alle hervorragenden Vertreter der sozialistischen Parteien, der Gewerkschaften, der Arbeiterkonsumgenossenschaften, die während des Krieges 1914-1918 für die „Verteidigung des Vaterlandes“ waren, handelten als Verräter am Sozialismus. Rücksichtslose Aufdeckung ihres Fehlers, systematische Aufklärung darüber, dass dieser Krieg beiderseits ein Krieg von Räubern um die Teilung der zusammengeraubten Beute war, dass ohne revolutionären Sturz der Bourgeoisie durch das Proletariat die Wiederholung eines solchen Krieges unvermeidlich ist – das wäre in der Tat „sozialistische Erziehungsarbeit“. Gerade die von mir erwähnten Resolutionen handeln von einer solchen Erziehung, in Wirklichkeit aber zersetzen sie die sozialistische Bewegung, denn sie verhüllen und verschweigen jenen Verrat, jene Routine, jene Verknöcherung, jenen Egoismus, jenes Spießertum und jene Fehler, in deren Überwindung, in deren bewusster Abwerfung gerade die wahre Erziehung besteht. II Die Resolutionen der Longuetisten taugen beide absolut nichts. Übrigens sind sie beide sehr gut für einen besonderen Zweck geeignet: nämlich zur Illustrierung des im gegenwärtigen Augenblick für die Arbeiterbewegung des Westens vielleicht gefährlichsten Übels. Dieses Übel besteht darin, dass die alten Führer, die den unaufhaltsamen Drang der Massen zum Bolschewismus und zur Sowjetmacht sehen, in dem Lippenbekenntnis zur Diktatur des Proletariats und der Sowjetmacht einen Ausweg suchen (und oft finden!). In Wirklichkeit aber bleiben sie entweder Feinde der Diktatur des Proletariats oder sie sind unfähig oder nicht gewillt, die Bedeutung der Diktatur des Proletariats zu erfassen und sie zu verwirklichen. Wie ungeheuer, wie unermesslich groß die Gefahr dieses Übels ist, das beweist besonders anschaulich der Untergang der ersten Räterepublik in Ungarn (der ersten, die zugrunde gegangen ist, wird eine zweite, siegreiche folgen). Eine Reihe von Artikeln in der „Roten Fahne“3 (Wien), dem Zentralorgan der Kommunistischen Partei Österreichs, hat eine der Hauptursachen dieses Untergangs aufgedeckt: den Verrat der „Sozialisten“, die zu Bela Kun übergingen und sich für Kommunisten erklärten, in der Praxis aber keine der Diktatur des Proletariats entsprechende Politik führten, sondern zauderten, kleinmütig wurden, mit der Bourgeoisie anbändelten, teilweise die proletarische Revolution direkt sabotierten und verrieten. Die imperialistischen Räuber (d. h. die bürgerlichen Regierungen Englands, Frankreichs usw.) mit ihrer ungeheuren Macht, die die ungarische Räterepublik umzingelt hatten, verstanden es natürlich, diese Schwankungen innerhalb der Regierung der ungarischen Rätemacht auszunutzen, und erwürgten sie bestialisch durch die Hand der rumänischen Henker, Es kann nicht bezweifelt werden, dass ein Teil der ungarischen Sozialisten aufrichtig zu Bela Kun übergegangen war und sich aufrichtig zum Kommunismus bekannt hatte. Doch das Wesen der Sache ändert sich dadurch nicht im Geringsten: ein Mensch, der sich „aufrichtig“ zum Kommunismus bekannt hat. aber anstatt einer rücksichtslosen, festen, standhaften, entschiedenen, hingebungsvollen, kühnen und heldenmütigen Politik (nur durch eine solche Politik erkennt man die proletarische Diktatur an) in Wirklichkeit eine schwankende und kleinmütige Politik treibt, ein solcher Mensch begeht durch seine Charakterlosigkeit, seine Schwankungen und seine Unentschlossenheit den gleichen Verrat, wie ein direkter Verräter. In persönlicher Hinsicht ist der Unterschied zwischen einem Verräter aus Schwäche und einem Verräter aus Absicht und Berechnung sehr groß; in politischer Hinsicht besteht ein solcher Unterschied nicht, denn von der Politik hängt das tatsächliche Geschick von Millionen Menschen ab. Dieses Geschick aber ändert sich nicht, ob nun Millionen Arbeiter und armer Bauern von Verrätern aus Schwäche oder Verrätern aus Eigennutz verraten werden. Welcher Teil der Longuetisten, die die von uns betrachteten Resolutionen unterzeichnet haben, sich als Leute der ersten oder zweiten der genannten Kategorien oder irgendeiner dritten Kategorie erweisen wird, kann man jetzt noch nicht wissen, und es wäre müßig, diese Frage entscheiden zu wollen. Wichtig ist, dass diese Longuetisten als politische Richtung jetzt gerade die Politik der ungarischen „Sozialisten“ und „Sozialdemokraten'* treiben, die die Rätemacht in Ungarn zugrunde gerichtet haben. Die Longuetisten treiben genau dieselbe Politik, denn sie erklären sich zwar für Anhänger der Diktatur des Proletariats und der Sowjetmacht, in der Praxis aber fahren sie weiter so fort, wie bisher. In ihren Resolutionen verteidigen sie auch weiterhin die bisherige Politik kleiner Konzessionen an den Sozialchauvinismus, den Opportunismus, die bürgerliche Demokratie, die Politik des Schwankens, der Unentschlossenheit, des Ausweichens, der Ausflüchte, des Verschweigens und dergleichen mehr, und führen diese Politik in der Praxis durch. Diese kleinen Zugeständnisse und Schwankungen, diese Unentschlossenheit und Nachgiebigkeit, dieses Ausweichen und Verschweigen ergeben in ihrer Gesamtheit unvermeidlich den Verrat an der proletarischen Diktatur. Diktatur – ist ein großes, hartes, blutiges Wort, ein Wort, das den erbarmungslosen Kampf zweier Klassen, zweier Welten, zweier weltgeschichtlichen Epochen auf Leben und Tod ausdrückt. Mit solchen Worten darf man nicht spielen. Die Verwirklichung der Diktatur des Proletariats auf die Tagesordnung setzen und gleichzeitig „Angst“ davor haben, die Albert Thomas, die Herren Bracke, Sembat und andere Ritter des gemeinsten französischen Sozialchauvinismus, die Helden der verräterischen Blätter „L'Humanité"“, „La Bataille“ usw. zu „kränken“, heißt Verrat an der Arbeiterklasse begehen – vielleicht aus Leichtsinn, aus Mangel an Klassenbewusstsein, aus Charakterlosigkeit oder aus anderen Gründen, aber jedenfalls heißt das Verrat an der Arbeiterklasse begehen. Der Zwiespalt zwischen Worten und Taten hat die II. Internationale zugrunde gerichtet. Die Dritte ist noch nicht ein Jahr alt, wird aber schon zur Mode, zum Anziehungspunkt für Politikaster, die dorthin gehen, wohin die Masse geht. Der Zwiespalt zwischen Worten und Taten fängt bereits an, eine Gefahr für die III. Internationale zu werden. Man muss diese Gefahr um jeden Preis überall aufdecken und jede Äußerung dieses Übels mit der Wurzel ausrotten. Die Resolutionen der Longuetisten, ebenso wie die Resolutionen des letzten Parteitags der deutschen Unabhängigen, dieser deutschen Longuetisten, verwandeln die „Diktatur des Proletariats“ in ein ebensolches Heiligenbild, wie es die Resolutionen der II. Internationale für die Führer, die Gewerkschaftsbeamten, die Parlamentarier, die Angestellten der Konsumgenossenschaften waren. Vor einem Heiligenbilde muss man beten, vor einem Heiligenbilde kann man sich bekreuzigen, das Knie beugen, aber ein Heiligenbild ändert nicht im Geringsten das praktische Leben, die praktische Politik, Nein, meine Herren, wir werden es nicht zulassen, dass die Losung „Diktatur des Proletariats“ zu einem Heiligenbilde werde. Wir werden uns mit einem Zwiespalt zwischen Worten und Taten in der III. Internationale nicht aussöhnen. Wenn ihr für die Diktatur des Proletariats seid, dann treibt keine ausweichende, opportunistische Politik der Halbheiten gegenüber dem Sozialchauvinismus, die man gleich in den ersten Zeilen eurer ersten Resolution findet: der Krieg habe nun einmal die II. Internationale „zerrissen“ (à déchirée), sie dem Werk der „sozialistischen Erziehung“ (éducation socialiste) entfremdet, „einige Teile dieser Internationale“ (certaines de ses fractions) aber hätten sich dadurch „geschwächt“, dass sie mit der Bourgeoisie die Macht geteilt haben usw., usw. Das ist nicht die Sprache von Leuten, die bewusst und aufrichtig die Idee der proletarischen Diktatur anerkennen. So reden entweder Leute, die, wenn sie einen Schritt vorwärts getan haben, zwei rückwärts tun, oder aber Politikaster. Wenn ihr eine solche Sprache führen wollt, oder richtiger gesagt, solange ihr eine solche Sprache führt, solange ihr eine solche Politik treibt, bleibt in der II. Internationale, dort ist euer Platz. Oder mögen die Arbeitermassen, die euch durch ihren Druck zur III. Internationale drängen, euch in der II. Internationale lassen, selbst aber, ohne euch zur III. Internationale übergehen. Diesen Arbeitern in der sozialistischen Partei Frankreichs, der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands und der Unabhängigen Arbeiterpartei Englands erklären wir, und zwar unter den gleichen Bedingungen: Ihr seid uns willkommen! Wenn man die Diktatur des Proletariats anerkennt und gleichzeitig über den Krieg von 1914-1918 redet, dann muss man eine andere Sprache führen. Dieser Krieg war ein Krieg der Räuber des englisch-französisch-russischen Imperialismus gegen die Räuber des deutsch-österreichischen Imperialismus um die Teilung der Beute, der Kolonien, der finanziellen „Einflusssphären“, Das Predigen der „Vaterlandsverteidigung“ in einem solchen Kriege war Verrat am Sozialismus, Wird diese Wahrheit nicht mit aller Gründlichkeit erklärt, dieser Verrat aus den Köpfen, den Herzen, der Politik der Arbeiter nicht ausgerottet, so ist es unmöglich, sich vor dem Elend des Kapitalismus, vor neuen Kriegen zu retten, die unvermeidlich sind, solange der Kapitalismus besteht, Ihr lehnt es ab, eine solche Sprache zu reden, eine solche Propaganda zu treiben? Ihr könnt es nicht? Ihr wollt euch oder eure Freunde „schonen“, die gestern in Deutschland unter Wilhelm oder Noske, in England und in Frankreich unter der Herrschaft der Bourgeoisie „Vaterlandsverteidigung“ gepredigt haben? Dann verschont lieber die III. Internationale! Beglückt sie durch eure Abwesenheit! III Bisher habe ich von der ersten der beiden Resolutionen gesprochen, Die zweite ist nicht besser. Die „feierliche“ („solennelle“) Verurteilung des „Konfusionismus“ und sogar „eines jeden Kompromisses“ („toute compromission“ – eine leere revolutionäre Phrase, denn man kann nicht gegen jedes Kompromiss sein), daneben ausweichende, gewundene allgemeine Phrasen über den Begriff der „Diktatur des Proletariats“, die diesen Begriff nicht klären, sondern verdunkeln, ferner Ausfälle gegen die „Politik des Herrn Clemenceau“ (die übliche Methode der bürgerlichen Politikaster in Frankreich, die den Wechsel der Cliquen als Wechsel des Regimes hinstellen), Darlegung des Programms, das von Grund aus reformistisch ist – Steuern, „Nationalisierung der kapitalistischen Monopolverbände“ u. dgl, m. Die Longuetisten haben nicht begriffen und wollen nicht begreifen (teilweise sind sie unfähig, es zu begreifen), dass der sich in revolutionäre Phrasen hüllende Reformismus das Hauptübel der II. Internationale, die Hauptursache ihres schmählichen Zusammenbruchs, der Unterstützung des Krieges durch die „Sozialisten“ war, jenes Krieges, in dem zehn Millionen Menschen hingeschlachtet wurden, um die große Frage zu entscheiden, ob die englisch-russisch-französische oder die deutsche Gruppe der kapitalistischen Räuber die ganze Welt plündern soll. Die Longuetisten sind in der Praxis die früheren Reformisten geblieben, die ihren Reformismus durch revolutionäre Phrasen bemänteln und das neue Schlagwort von der „Diktatur des Proletariats“ nur als revolutionäre Phrase gebrauchen. Solche Führer, wie die der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, der Unabhängigen Arbeiterpartei Englands, kann das Proletariat nicht gebrauchen. Mit solchen Führern kann das Proletariat seine Diktatur nicht verwirklichen. Die Diktatur des Proletariats anerkennen, das heißt nicht Angriff, Aufstand um jeden Preis, in jedem beliebigen Augenblick. Das ist Unsinn. Zu einem erfolgreichen Aufstand bedarf es einer langwierigen, geschickten, hartnäckigen Vorbereitung, die große Opfer erfordert. Die Diktatur des Proletariats anerkennen, das heißt entschiedener, rücksichtsloser und vor allen Dingen vollkommen bewusster, ganz konsequent durchgeführter Bruch mit dem Opportunismus, dem Reformismus, der Politik der Halbheiten und Winkelzüge der II. Internationale; Bruch mit den Führern, die sich von den alten Traditionen nicht lossagen können, mit den alten Parlamentariern (nicht dem Alter, sondern den Methoden nach), den alten Beamten der Gewerkschaften, der Konsumgenossenschaften usw. Mit ihnen muss man brechen. Es ist ein Verbrechen, sie zu bedauern: das hieße wegen der kleinlichen Interessen von zehn- oder hunderttausend die Lebensinteressen Dutzender Millionen von Arbeitern und Kleinbauern verraten. Die Diktatur des Proletariats anerkennen, das heißt die tagtägliche Arbeit der Partei von Grund auf umgestalten, unter die Massen gehen, zu jenen Millionen von Arbeitern, Landarbeitern und Kleinbauern, die ohne Sowjets, ohne Sturz der Bourgeoisie von dem Elend des Kapitalismus und der Kriege nicht gerettet werden können. In konkreter, schlichter, klarer Weise die Massen, Dutzende Millionen von Menschen aufklären, ihnen sagen, dass ihre Sowjets die ganze Macht ergreifen müssen, dass ihre Vorhut, die Partei des revolutionären Proletariats, den Kampf leiten muss, – das ist Diktatur des Proletariats. Bei den Longuetisten finden wir keine Spur eines Verständnisses für diese Wahrheit, nicht den geringsten Wunsch oder die Fähigkeit, sie in der tagtäglichen Arbeit in die Tat umzusetzen. IV In Österreich hat der Kommunismus eine sehr schwere Periode durchgemacht, die scheinbar noch nicht ganz überwunden ist: Krankheiten des Wachstums, Illusionen, dass eine Gruppe, die sich zum Kommunismus bekennt, ohne ernstlichen Kampf um den Einfluss unter den Massen zu einer Macht werden könne, Fehlgriffe in der Wahl der Personen. Das sind Fehler, die zu Anfang jeder Revolution unvermeidlich sind. Wir haben eine ganze Reihe solcher Fehler begangen. Die Tageszeitung der Kommunisten, „Die Rote Fahne“, die unter der Redaktion von Koritschoner und Tomann erscheint, ist ein Beweis dafür, dass die Bewegung einen ernsten Weg beschritten hat. Was die österreichischen Sozialdemokraten an Stumpfsinn, Niedrigkeit und Gemeinheit fertigbringen, das zeigt ganz augenscheinlich die gesamte Politik Renners und ähnlicher österreichischer Scheidemänner, denen – zum Teil aus äußerster Dummheit und Charakterlosigkeit – die Otto Bauer und Friedrich Adler, die zu ganz gewöhnlichen Verrätern geworden sind, beispringen. Ein Beispiel: Otto Bauers Broschüre „Der Weg zum Sozialismus“4, Vor uns liegt die Berliner Ausgabe des Verlags „Die Freiheit“, offenbar des Verlags der Unabhängigen Partei, die ja völlig auf dem gleichen elenden, gemeinen und niederträchtigen Niveau steht, wie diese Broschüre. Es wird genügen, wenn wir einige Stellen aus § 9 („Die Expropriation der Expropriateure“) anführen: „Die Expropriation … kann und soll sich nicht vollziehen in der Form einer brutalen Konfiskation des kapitalistischen und grundherrlichen Eigentums; denn in dieser Form könnte sie sich nicht anders vollziehen, als um den Preis einer gewaltigen Verwüstung der Produktionsmittel, die die Volksmassen selbst verelenden, die Quellen des Volkseinkommens verschütten würde. Die Expropriation der Expropriateure soll sich vielmehr in geordneter, geregelter Weise vollziehen … durch Besteuerung.“ Der gelehrte Mann erklärt, wie man beispielsweise den besitzenden Klassen „vier Neuntel“ ihrer Einkünfte durch Besteuerung wegnehmen könne … Das genügt wohl? Was mich betrifft, so habe ich nach diesen Worten (ich hatte die Broschüre ab § 9 zu lesen angefangen) nichts mehr gelesen, und ohne besondere Notwendigkeit beabsichtige ich nicht, die Broschüre des Herrn Otto Bauer zu lesen. Denn es ist klar, dass dieser Beste unter den Sozialverrätern bestenfalls ein gelehrter Narr ist, dem man einfach nicht helfen kann. Das ist das Musterbeispiel eines Pedanten, der durch und durch Kleinbürger ist. Er schrieb vor dem Kriege nützliche gelehrte Bücher und Aufsätze und gab „theoretisch“ zu, dass der Klassenkampf sich bis zum Bürgerkrieg zuspitzen könne. Er nahm sogar (wenn ich richtig informiert bin) an der Ausarbeitung des Baseler Manifests von 1912 teil5, das die proletarische Revolution gerade als Folge jenes Krieges, der 1914 ausbrach, direkt voraussagt. Als es aber in der Tat zu dieser proletarischen Revolution kam, da gewann der Pedant, der Philister in ihm die Oberhand, er bekam Angst und fing an, die Wogen der Revolution mit dem Öl reformistischer Phrasen zu besänftigen. Er hat sich gut eingeprägt (Pedanten können nicht denken, können nur auswendig lernen, sich einprägen), dass theoretisch die Expropriation der Expropriateure ohne Konfiskation möglich ist. Er hat das stets wiederholt. Er hat sich das eingeprägt. Er wusste das 1912 auswendig. Er wiederholte es aus dem Gedächtnis im Jahre 1919, Er versteht nicht zu denken. Um nach dem imperialistischen Krieg, d. h. nach einem Kriege, der sogar die Sieger an den Rand des Verderbens gebracht hat, nach dem Beginn des Bürgerkrieges in einer Reihe von Ländern, nachdem durch Tatsachen die Unvermeidlichkeit der Umwandlung des imperialistischen Krieges in den Bürgerkrieg im internationalen Maßstabe bewiesen worden ist, um im Jahre 1919 nach Christi Geburt in Wien eine „geordnete“, „geregelte“ Wegnahme von „vier Neunteln“ des Einkommens der Kapitalisten zu predigen – dazu muss man entweder geisteskrank sein oder dem alten Helden der alten großen deutschen Poesie gleichen, der mit Entzücken „von Buch zu Buch, von Blatt zu Blatt“ schreitet6 … Der gute Mann, der wahrscheinlich ein überaus tugendhafter Familienvater, ehrlicher Bürger, gewissenhafter Leser und Verfasser gelehrter Bücher ist, hat eine unbedeutende Kleinigkeit vollkommen übersehen: er hat vergessen, dass ein derartiger „geordneter“ und „geregelter“ Übergang zum Sozialismus (ein Übergang, der für das „Volk“, abstrakt gesprochen, am vorteilhaftesten wäre) voraussetzt: absolute Festigkeit des Sieges des Proletariats, absolute Hoffnungslosigkeit der Lage der Kapitalisten, absolute Notwendigkeit für die Bourgeoisie sowie Bereitwilligkeit, sich ehrlich zu unterwerfen. Ist eine solche Verkettung von Umständen möglich? Theoretisch, d. h. ganz abstrakt genommen: natürlich! Nehmen wir z. B. an, dass in neun Ländern, darunter in allen Großstaaten, die Wilson, Lloyd George, Millerand und andere Helden des Kapitalismus sich bereits in derselben Lage befinden, wie bei uns die Judenitsch, Koltschak und Denikin mit ihren Ministern. Nehmen wir an, dass daraufhin in dem zehnten, einem kleinen Lande, die Kapitalisten den Arbeitern vorschlagen: wir wollen euch in gewissenhaftester Weise helfen und uns euren Beschlüssen unterordnen, um eine „geregelte“ und friedliche „Expropriation der Expropriateure“ (ohne Zerstörung!) durchzuführen. Dafür aber bekommen wir von unserem früheren Einkommen im ersten Jahr fünf Neuntel, im zweiten Jahr vier Neuntel … Es ist durchaus denkbar, dass unter den von uns erwähnten Umständen die Kapitalisten des zehnten Landes in einem der kleinsten und „friedlichsten“ Länder ein solches Anerbieten machen werden, und es wird gewiss nichts Schlimmes dabei sein, wenn die Arbeiter dieses Landes dieses Angebot gründlich prüfen und (nachdem sie etwas abgehandelt haben: beim Kaufmann geht es nicht ohne Handeln) annehmen. Vielleicht werden jetzt, nach dieser populären Erläuterung, sogar der gelehrte Otto Bauer und Friedrich Adler, der als Philosoph ebenso glücklich ist wie als Politiker, verstehen, um was es sich handelt? Noch immer nicht? Noch immer unverständlich? Bester Otto Bauer, bester Friedrich Adler, überlegen Sie doch bitte: ist die Lage des Weltkapitalismus und seiner Führer im gegenwärtigen Augenblick etwa der Lage der Judenitsch, Koltschak und Denikin in Russland ähnlich? Nein, das ist nicht der Fall! In Russland sind die Kapitalisten nach verzweifeltem Widerstand geschlagen worden. In der ganzen Welt sind sie aber noch an der Macht. Sie sind die Herren. Sollten Sie, bester Otto Bauer und Friedrich Adler, auch jetzt noch nicht verstanden haben, um was es sich handelt, so kann ich noch populärer werden, Stellen Sie sich vor, dass damals, als Judenitsch vor Petrograd stand, Koltschak den Ural und Denikin die ganze Ukraine beherrschte, als diese drei Helden die Taschen voll von Telegrammen Wilsons, Lloyd Georges, Millerands und Konsorten hatten, in denen die Sendung von Geld, Geschützen, Offizieren, Soldaten versprochen wurde; stellen Sie sich vor, dass damals zu Judenitsch, Koltschak oder Denikin ein Vertreter der russischen Arbeiter gekommen wäre und erklärt hätte: wir Arbeiter sind in der Mehrheit, wir geben euch fünf Neuntel eurer Einkünfte, und später nehmen wir auch das übrige in „geordneter“ und friedlicher Weise fort. Abgemacht! „Ohne Zerstörung!“ Einverstanden? Wäre dieser Vertreter der Arbeiter einfach gekleidet gewesen und hätte ihn nur ein russischer General, wie etwa Denikin, empfangen, so würde er diesen Arbeiter wahrscheinlich ins Irrenhaus befördert oder einfach davongejagt haben. Wenn aber dieser Vertreter der Arbeiter ein Intellektueller in anständiger Kleidung, zudem der Sohn eines würdigen Vaters wäre (wie z. B. der liebe, gute Friedrich Adler), wenn Denikin dabei nicht allein gewesen wäre, sondern ihn in Gegenwart eines französischen oder englischen „Beraters“ empfangen hätte, – dann würde dieser Berater zweifellos zu Denikin gesagt haben: „Hören Sie, General, dieser Vertreter der Arbeiter ist so klug, dass er sich ausgezeichnet dazu eignet, bei uns Minister zu werden, so wie Henderson in England, Albert Thomas in Frankreich, Otto Bauer und Friedrich Adler in Österreich.“ 1 Der Artikel von F. Loriot „Tout Doux, Longuet“ erschien in „La Vie Ouvrière“ vom 16. Januar 1920. 2 Das Zitat aus dem „Avanti“, von dem hier Lenin spricht, wird in einer Notiz der österreichischen „Roten Fahne“ vom 2. August 1919 angeführt. Diese Notiz trägt die Überschrift: „Zum Streikbruch der französischen Gewerkschaftsbonzen“. 3 Gemeint sind folgende Artikel: 1. „Vier Monate Räterepublik“. „Rote Fahne“ Nr. 80, 5. August 1919, Wien. 2. L. L. „Offener Brief an Jakob Weltner“. „Rote Fahne“ Nr. 84 vom 12. August 1919, Wien. 3. „Wie und warum die ungarische Räterepublik fiel“. „Rote Fahne“ Nr. 86/87 vom 14. und 16. August 1919, Wien. 4. „Judaslohn.“ „Rote Fahne“ Nr. 96 vom 2. September 1919, Wien. 4 Die Broschüre Otto Bauers „Der Weg zum Sozialismus“ erschien 1919 in Berlin im Verlag der USPD: „Freiheit“ 5 Ob Otto Bauer an der Abfassung des Baseler Manifestes beteiligt war, konnte die Redaktion nicht feststellen. In den Protokollen des „Außerordentlichen Internationalen Sozialistenkongresses zu Basel am 24./25. November 1912“ ist kein Hinweis darauf enthalten, dass Otto Bauer an den Arbeiten des Kongresses teilgenommen hat. Das Baseler Manifest wurde dem Kongress vom Internationalen Sozialistischen Büro zur Bestätigung vorgelegt. Vorher war der Text in einer Kommission ausgearbeitet und vom Internationalen Sozialistischen Büro angenommen worden. Ob Otto Bauer an den Arbeiten dieser Kommission teilgenommen hat, ist nicht bekannt. 6 Lenin meint hier die Worte Wagners aus Goethes „Faust“: „Wie anders tragen uns die Geistesfreuden Von Buch zu Buch, von Blatt zu Blatt!“ |