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Wladimir I. Lenin 19200127 Rede auf dem 3. Allrussischen Kongress der Volkswirtschaftsräte

Wladimir I. Lenin: Rede auf dem

3. Allrussischen Kongress der Volkswirtschaftsräte

27. Januar 1920, Zeitungsbericht

[„Prawda“ Nr. 19 29. Januar 1920. Nach Sämtliche Werke, Band 25, Wien-Berlin 1930, S. 17-21]

Lenin erklärte, dass er nur ganz flüchtig die Fragen streifen werde, mit denen er sich in letzter Zeit öfters habe beschäftigen müssen. Eine dieser Fragen sei die Organisation der Verwaltung, die Frage, ob man dem kollegialen oder individuellen Verwaltungsprinzip den Vorzug geben soll. In den Diskussionen über diese Frage wurde das Problem abstrakt gestellt und der Vorzug des Kollegialprinzips vor dem Individualprinzip bewiesen. Aber das führt uns von den praktischen Aufgaben der Gegenwart weit hinweg. Diese Erörterungen versetzen uns in jene erste Etappe des Aufbaus der Sowjetmacht, die wir bereits überwunden haben. Es wird endlich Zeit, die Frage von einem sachlicheren Standpunkt zu behandeln.

Das Kollegialsystem als grundlegender Organisationstypus der Verwaltung im Sowjetstaat ist im ersten Stadium, in dem neu aufgebaut werden muss, so etwas, wie eine notwendige Keimform, Aber bei den jetzt mehr oder minder stabilen Formen, die sich eingebürgert haben, ist der Übergang zur praktischen Arbeit abhängig von der Anwendung des Individualsystems der Verwaltung, eines Systems, das die beste Verwertung der menschlichen Fähigkeiten und eine wirkliche, keine scheinbare Kontrolle der Arbeit gewährleistet.

Die Erfahrungen der Sowjetmacht beim Aufbau der Armee dürfen nicht isoliert betrachtet werden. Der Krieg enthält alle Arten der Aufbauarbeit in sich. Der Aufbau unserer Armee konnte nur deshalb zu günstigen Ergebnissen führen, weil er im Geiste des gesamten Sowjetaufbaus und unter Zugrundelegung der Klassenbeziehungen durchgeführt wurde. Wir sehen hier dieselbe dünne Schicht der führenden proletarischen Klasse und die Bauernmassen. Wenn auf anderen Gebieten das Wesen dieses Verhältnisses nicht mit völliger Klarheit zutage getreten ist, so ist es dafür in der Armee gründlich erprobt worden, die vor dem Feinde jeden ihrer Fehler teuer bezahlen muss. In diese Erfahrung muss man sich hineindenken. Wir haben eine gesetzmäßige Entwicklung durchgemacht von zufälligen, verschwommenen Kollegialformen über das zum Organisationssystem erhobene Kollegialsystem, das in alle Glieder der Armee eingedrungen ist, und jetzt stehen wir allgemein vor der Frage der Einführung des Individualprinzips, weil das die einzig richtige Organisation der Arbeit ist. Bei jeder beliebigen Arbeit findet man eine kleine Zahl von klassenbewussten Proletariern, eine Menge weniger entwickelter, und – die Grundlage des Ganzen bildet die ungeheure Masse der Bauernschaft mit allen Gewohnheiten der individuellen Wirtschaftsführung und folglich der Freiheit des Handels und Spekulierens, die von den Menschewiki, Sozialrevolutionären und Parteilosen Freiheit genannt, von uns aber als Erbe des Kapitalismus bezeichnet wird. Das ist die Situation, in der wir arbeiten müssen. Sie erfordert die Anwendung entsprechender Methoden, Die Erfahrungen der Armee haben uns gezeigt, wie die Organisation der Verwaltung sich gesetzmäßig von den ursprünglichen Formen des Kollegialsystems zum Individualsystem entwickelte, das jetzt in der Armee zu nicht weniger als fünf Zehnteln durchgeführt wird.

Das Kollegialsystem führt im besten Falle zu einer ungeheuren Vergeudung der Kräfte und entspricht nicht der von der zentralisierten Großindustrie geforderten Schnelligkeit und Übersichtlichkeit der Arbeit. Nimmt man die Resolutionen der Verteidiger des Kollegialsystems, so findet man darin die sehr abstrakte Formulierung, dass jedes Mitglied des Kollegiums die persönliche Verantwortung für die Durchführung bestimmter Aufgaben tragen muss. Das ist für uns zu einer ABC-Wahrheit geworden. Aber jeder von euch, der über praktische Erfahrungen verfügt, weiß, dass das in 100 Fällen nur einmal wirklich durchgeführt wird. In den allermeisten Fällen bleibt dieser Grundsatz nur auf dem Papier. Niemand von den Mitgliedern eines Kollegiums übernimmt bestimmte Aufgaben, und sie werden nicht unter persönlicher Verantwortung durchgeführt. Bei uns besteht überhaupt keine Kontrolle der Arbeit, Nehmen wir an, der Vorstand einer Gewerkschaft stelle die Kandidatur eines Wassilij Wassiljewitsch Wassiljew auf, und man ersucht, eine von Fachleuten geprüfte Liste der Arbeiten vorzulegen, die dieser Wassiljew ausgeführt hat. Etwas derartiges zu bekommen, ist ganz unmöglich. Wir alle fangen eben erst mit der echten Sachlichkeit an.

Unsere Schuld besteht darin, dass wir alles selbst machen wollen. Unser größter Mangel ist, dass wir keine tüchtigen Kräfte haben. Wir verstehen es nicht, sie unter den einfachen Arbeitern und Bauern herauszufinden, in denen viele administrative und organisatorische Begabungen verborgen sind. Es wäre viel besser, wenn wir möglichst bald von allgemeinen, meistens vollkommen unfruchtbaren Debatten zur sachlichen Arbeit übergehen. Dann werden wir tatsächlich unsere Pflicht als Organisatoren der fortschrittlichen Klasse erfüllen und Hunderte und Tausende von neuen organisatorischen Begabungen ausfindig machen. Wir müssen diese Talente auf verantwortliche Posten stellen, müssen sie prüfen, ihnen Aufgaben stellen und diese Aufgaben immer schwieriger gestalten. Ich will hoffen, dass es uns nach dem Kongress der Volkswirtschaftsräte, nach dem Abschluss unserer Arbeit gelingen wird, diesen Weg zu betreten und die Zahl der Organisatoren zu vermehren, damit jene außerordentlich dünne Schicht von Genossen, die sich in diesen zwei Jahren erschöpft hat, ergänzt und vergrößert werde; denn für die Aufgaben, die wir uns stellen und die Russland aus Elend, Hunger und Kälte herausreißen sollen, brauchen wir zehnmal mehr Organisatoren, die vor Dutzenden von Millionen verantwortlich sein müssen.

Die zweite Frage, die uns besonders interessiert, ist die Frage der Arbeitsarmeen.

Wir stehen hier vor einer Aufgabe, die in eine Zeit fällt, wo zwei Phasen unserer Tätigkeit einander ablösen. Die Periode, in der wir vollkommen durch den Krieg in Anspruch genommen waren, ist noch nicht zu Ende. Eine ganze Reihe von Symptomen spricht dafür, dass die russischen Kapitalisten den Krieg nicht fortsetzen können. Aber dass sie Versuche zum Überfall auf Russland machen werden, – das unterliegt keinem Zweifel. Wir müssen auf der Hut sein. Im Großen und Ganzen aber haben wir den Krieg, den sie uns vor zwei Jahren auf gezwungen haben, siegreich beendet und gehen zur friedlichen Arbeit über.

Man muss die Eigenart dieses Überganges verstehen. Ein Land, bis zum Äußersten verwüstet, ein hungerndes und frierendes Land, in dem die Armut einen fürchterlichen Grad erreicht hat.

Und in diesem Land – ein Volk, das sich in seiner Kraft erhob und den Glauben an sich gewann, als es sich davon überzeugte, dass es fähig ist, mit der ganzen Welt fertig zu werden. Ohne Übertreibung – mit der ganzen Welt! Denn die gesamte kapitalistische Welt hat eine Niederlage erlitten. Und in dieser eigenartigen Situation schlagen wir zur Lösung der dringendsten Aufgaben die Arbeitsarmee vor.

Wir müssen uns auf die Hauptsache konzentrieren. Und das ist die Beschaffung von Getreide und dessen Transport nach dem Zentrum des Landes. Jede Abweichung davon, jede geringste Zersplitterung kann zur größten Gefahr, kann zum Verhängnis für unsere Sache werden. Um aber unseren Apparat mit der größten Schnelligkeit in Bewegung zu setzen, müssen wir eine Arbeitsarmee schaffen. Darüber liegen euch schon die Thesen und Berichte des ZK1 vor, und ich will deshalb auf diese Frage nicht konkret eingehen. Ich möchte nur darauf hinweisen, dass wir im Augenblick des Übergangs vom Bürgerkrieg zu den neuen Aufgaben alles nach der Arbeitsfront werfen, hier alle Kräfte konzentrieren müssen, unter höchster Anspannung, mit militärischer, rücksichtsloser Entschlossenheit. Wir werden jetzt keinerlei Abweichungen dulden. Indem wir diese Losung ausgeben, erklären wir, dass wir alle lebendigen Kräfte der Arbeiter und Bauern aufs Äußerste anspannen und rückhaltlose Unterstützung von ihnen fordern müssen. Und dann werden wir durch die Schaffung der Arbeitsarmee, durch die Anspannung aller Kräfte der Arbeiter und Bauern unsere Hauptaufgabe erfüllen. Wir werden hunderte Millionen Pud Getreide aufbringen können, denn wir haben sie.

Aber es bedarf unerhörter, verteufelter Anstrengungen, der Anspannung aller Kräfte des Landes, militärischer Entschlossenheit und Energie, um diese hunderte Millionen Pud Getreide zusammenzubringen und dem Zentrum zuzuführen. Hier im Zentrum werden wir uns vor allen Dingen mit der Frage beschäftigen, den Plan dafür auszuarbeiten, werden in erster Linie nur darüber sprechen, alle anderen Fragen aber, die Fragen der Finanzierung, des Aufbaus der Industrie und alle großen Programmfragen – alles das darf uns jetzt nicht ablenken. Wir stehen jetzt vor der wichtigen Aufgabe der Bekämpfung der Gefahr, dass man sich durch große Pläne und Aufgaben hinreißen lässt. Wir müssen uns auf das Wichtigste und Grundlegendste konzentrieren und keinerlei Ablenkungen von der Hauptaufgabe zulassen, die wir uns gestellt haben. Diese Aufgabe aber besteht darin, Getreide und Lebensmittel zu sammeln, sie mit staatlichen Mitteln zu sammeln, zu festen Preisen, mit den sozialistischen Mitteln des Arbeiterstaats, und nicht mit den kapitalistischen Mitteln der Spekulation, sie dem Zentrum zuzuführen und die Zerrüttung des Transportwesens zu überwinden. Es wäre ein Verbrechen, diese Aufgabe zu vergessen.

Um unsere grundlegende Aufgabe mehr oder weniger richtig durchzuführen, müssen die Leiter aller Staatsorgane, insbesondere der Volkswirtschaftsräte, die Aktivität von Millionen und Abermillionen Arbeitern und Bauern wecken. Zu diesem Zweck werden wir einen großzügigen Plan für die Umgestaltung Russlands ausarbeiten. Wir haben genügende Mittel, Material, technische Möglichkeiten, Rohstoffe, wir haben alles, um diese Arbeit der Umgestaltung Russlands von allen Seiten in Angriff zu nehmen, unter Heranziehung aller Arbeiter und Bauern. Wir werden einen hartnäckigen Kampf führen müssen, einen Kampf, Genossen, der schwere Opfer an der Front der Arbeit erfordern wird, den wir aber unvermeidlich führen müssen, denn bei uns herrscht Hunger, Kälte, Chaos im Transportwesen, Typhus, Alle diese Nöte müssen wir bekämpfen und den Aufbau unseres Staates gleichzeitig von allen Seiten mit den modernsten Methoden der Industrie beginnen, um unser Land zu einem Kulturland zu machen und es durch einen richtig geführten sozialistischen Kampf aus jenem Sumpf herauszubringen, in den gegenwärtig die Länder des internationalen Kapitalismus hineingeraten sind.

1 Lenin meint die „Thesen des ZK der KPR über die Mobilisierung des Industrieproletariats, über die Arbeitspflicht, die Militarisierung der Wirtschaft und die Verwendung von Truppenteilen für wirtschaftliche Zwecke“, die in der „Prawda“ vom 22. Januar 1920 veröffentlicht wurden, ferner die Referate Rykows „Über die wirtschaftliche Lage Sowjetrusslands“, Miljutins „Über die Leitung der Wirtschaft“ und M. Tomskis „Über die Organisation der Arbeit“ auf dem 3. Allrussischen Kongress der Volkswirtschaftsräte.

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