Wladimir I. Lenin: Rede auf dem Gründungskongress des Allrussischen Bergarbeiterverbandes 1. April 1920 [Veröffentlicht in der Sammlung „Resolutionen und Beschlüsse des Allrussischen Gründungskongresses des Bergarbeiterverbandes“, Moskau 1920. Nach Sämtliche Werke, Band 25, Wien-Berlin 1930, S. 163-170] Genossen! Gestatten Sie mir zunächst, im Auftrage des Rates der Volkskommissare den Ersten Kongress der Arbeiter der Bergbau- und Kohlenindustrie zu begrüßen. Genossen! Dieser Kongress und dieser ganze Industriezweig ist für die Sowjetrepublik von außerordentlicher Bedeutung. Ihr wisst natürlich, dass ohne Kohlenindustrie keine moderne Industrie, keine Fabriken und Werke denkbar sind. Die Kohle ist das wahre Brot der Industrie. Ohne dieses Brot steht die Industrie still; ohne dieses Brot befindet sich das Eisenbahnwesen in der kläglichsten Verfassung und kann auf keinen Fall wiederhergestellt werden; ohne dieses Brot zerfällt, zersetzt sich die Großindustrie aller Länder und entwickelt sich zurück zur urwüchsigen Barbarei. In viel fortgeschritteneren Ländern als Russland, die viel weniger unter dem Krieg gelitten haben, sogar in den Siegerländern, wirken sich jetzt Kohlenhunger und Kohlenkrise in der qualvollsten Weise aus. Um so notwendiger ist es, dass die Genossen, die jetzt hier zusammengekommen sind, um einen festen, starken, machtvollen und klassenbewussten Bergarbeiterverband zu schaffen, eine ganz klare Vorstellung davon bekommen, welche gewaltigen Aufgaben die gesamte Sowjetrepublik, die gesamte Arbeiter- und Bauernmacht diesem Kongress der Bergarbeiter stellen; denn jetzt, nach zwei Jahren verzweifelten Kampfes gegen die Weißgardisten und Kapitalisten, die von den Kapitalisten der ganzen Welt unterstützt wurden; jetzt, nach all den Siegen, die wir errungen haben, steht abermals ein schwerer Kampf bevor, nicht weniger schwer als der frühere Kampf, obwohl viel dankbarer: nämlich der Kampf an der unblutigen Front, an der Front der Arbeit. Als die Gutsbesitzer und Kapitalisten an der blutigen Front versuchten, die Sowjetmacht in Russland zu stürzen, da schien es, als ob die Sache der Sowjetrepublik verloren sei, als ob Sowjetrussland, dieses schwächste, rückständigste, ruinierteste Land, nicht imstande sein werde, sich gegen die Kapitalisten der ganzen Welt zu behaupten. Die reichsten Staaten der Welt unterstützten in diesem Kampfe die russischen Weißgardisten, warfen hunderte Millionen Rubel dafür hinaus, lieferten Munition, organisierten im Auslande spezielle Lager zur Ausbildung von Offizieren, Bis auf den heutigen Tag bestehen im Ausland diese Werbebüros, die mit Unterstützung der reichsten Kapitalisten der Welt russische Kriegsgefangene und Freiwillige für den Krieg gegen Sowjetrussland anwerben. Natürlich glaubte man, dass unser Beginnen hoffnungslos sei, dass Russland gegen die Militärmächte der ganzen Welt sich nicht behaupten werde, weil diese Länder stärker sind als wir. Aber dieses Wunder war möglich. Sowjetrussland hat in diesen zwei Jahren dieses Wunder vollbracht. In dem Kriege gegen die reichsten Länder der Welt ist Sowjetrussland Sieger geblieben. Weshalb? Natürlich nicht deshalb, weil wir in militärischer Hinsicht stärker waren. Das war nicht der Fall. Sondern deshalb, weil in den zivilisierten Staaten Soldaten vorhanden waren, die man nicht mehr betrügen konnte, trotzdem man ihnen durch eine Unmasse von Flugblättern zu beweisen versuchte, dass die Bolschewiki deutsche Agenten, Usurpatoren, Verräter und Terroristen seien. Das Ergebnis war, dass die Soldaten aus Odessa entweder als überzeugte Bolschewiki zurückkehrten oder als Leute, die erklärten, dass sie „gegen die Regierung der Arbeiter und Bauern nicht kämpfen werden“. Die Hauptursache unseres Sieges bestand darin, dass die Arbeiter der westeuropäischen, fortgeschrittenen Länder die internationalen Interessen der Arbeiterklasse sehr gut begriffen und trotz der Lügen der bürgerlichen Presse, die in Millionen Exemplaren die Bolschewiki mit den widerlichsten Verleumdungen überschütteten, für uns waren. Dieser Umstand entschied den Krieg. Es war allen klar: wenn Hunderttausende Soldaten gegen uns so gekämpft hätten, wie gegen Deutschland, so hätten wir uns nicht behaupten können. Das war jedem klar, der weiß, was ein Krieg bedeutet. Nichtsdestoweniger geschah das Wunder, dass wir siegten, dass sie infolge ihrer eigenen Streitigkeiten zerfielen, dass der famose Völkerbund sich als Bund toller Hunde entpuppte, die sich um einen Knochen balgen, die nicht imstande sind, sich auch nur über eine einzige Frage zu verständigen. Die Zahl der Anhänger der Bolschewiki dagegen, der direkten und indirekten, der klassenbewussten und weniger klassenbewussten, wächst in jedem Lande immer mehr, nicht nur täglich, sondern stündlich. Jeder, der mit dem Sozialismus sympathisiert, kennt die II. Internationale, die 25 Jahre lang, von 1889-1914, die sozialistische Bewegung aller Länder leitete. Beim Ausbruch des imperialistischen Krieges gingen jedoch die Sozialisten der II. Internationale auf die Seite ihrer Regierungen über. Jeder verteidigte seine eigene Regierung. Alle, die als Republikaner, Sozialrevolutionäre und Menschewiki galten, gingen in jedem Lande auf die Seite ihrer Regierungen über, verteidigten ihr Vaterland und verheimlichten die Geheimverträge, veröffentlichten sie nicht. Die Sozialisten, die als Führer der Arbeiterklasse galten, ergriffen Partei für die Kapitalisten und marschierten gegen die russische Arbeiterklasse. An der Spitze der Regierung in Deutschland stehen die Scheidemänner, die sich bis auf den heutigen Tag Sozialdemokraten nennen, aber die abscheulichsten Henkersknechte sind und im Bunde mit den Junkern und Kapitalisten die Führer der deutschen Arbeiterklasse, Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, ermordet und 15.000 deutsche Proletarier niedergemetzelt haben. Die III., Kommunistische Internationale hat in dem Jahr seit ihrer Begründung einen vollkommenen Sieg davongetragen. Die II. Internationale aber ist endgültig zerfallen. Trotz aller Lügen, trotz aller Verleumdungen hat die Sowjetmacht in Russland auf die Arbeiter der ganzen Welt einen so gewaltigen Einfluss ausgeübt. Die Soldaten und die Arbeiter sind der Auffassung, dass die Staatsmacht denen gehören muss, die arbeiten. Wer aber nicht arbeitet – der soll nicht essen. Wer jedoch arbeitet, der soll das Recht haben, im Staate mitzusprechen, soll Einfluss auf die Entscheidungen der Staatsangelegenheiten haben. Das ist eine einfache Wahrheit, und Millionen Arbeiter haben sie begriffen. Jetzt steht ihr vor einer schweren Aufgabe: nach unseren militärischen Siegen müsst ihr einen noch viel schwereren Sieg erringen … Dieser Sieg ist umso schwerer, weil man hier mit Heldentum allein nichts erreichen kann. Hier kann man nur durch hartnäckige Arbeit Ergebnisse erzielen. Hier sind Jahre angespannter Arbeit notwendig. Die Kapitalisten in der ganzen Welt sammeln die Arbeitskraft und steigern die Produktion, die Arbeiter aber antworten ihnen: macht zuerst die Arbeiter satt, hört zuerst mit dem Streit auf, der den Arbeitern das Leben kostet, hört zuerst mit dem Gemetzel auf; denn gestern sind Millionen Menschen umgekommen, damit die Frage entschieden werde, ob die englischen Räuber oder sonst jemand die Herrschaft ausüben solle. Solange die Macht in den Händen der Kapitalisten ist, denken wir nicht an die Hebung der Produktion, sondern an den Sturz der Kapitalisten. Von dem Augenblick aber, wo der Kapitalist bereits gestürzt ist, müsst ihr beweisen, dass ihr ohne die Kapitalisten imstande seid, die Produktivität der Arbeit zu steigern. Widerlegt die Lügen, die die Kapitalisten über die klassenbewussten Arbeiter verbreiten. Sie behaupten, das sei keine Revolution, keine neue Ordnung, sondern einfach ein Pogrom, ein Racheakt an den Kapitalisten, Sie erklären, dass die Arbeiter selbst niemals imstande sein werden, das Land zu organisieren und aus dem Zustand der Zerrüttung herauszubringen, dass sie nur eine Anarchie schaffen. Das sind die Lügen, die durch tausenderlei Methoden von den Kapitalisten aller Länder in Umlauf gesetzt werden, die durch Parteilose, durch Gegner der Bolschewiki auf verschiedensten Wegen auch in die Reihen der Arbeiter hineingetragen werden, insbesondere der am wenigsten entwickelten, am meisten durch den Kapitalismus korrumpierten, rückständigen Arbeiter, Wir haben aber gesehen: wenn wir im Laufe von zwei Jahren Sowjetmacht die ganze Welt besiegt haben, so war das nur dank dem Heldentum der Arbeiter möglich. Man klagt uns an wegen der Diktatur des Proletariats, wegen der eisernen, rücksichtslosen, festen Macht der Arbeiter, die vor nichts Halt macht und erklärt: wer nicht mit uns ist, ist gegen uns, der geringste Widerstand gegen diese Macht wird gebrochen werden. Wir aber sind stolz darauf und behaupten: ohne diese eiserne Macht der Arbeiter, diese Avantgarde der Arbeiter, hätten wir uns nicht einmal zwei Monate, geschweige denn zwei Jahre behaupten können. Diese Diktatur ermöglichte es der Partei jedes Mal, wenn ein schwieriger Moment während des Krieges eintrat, die Kommunisten zu mobilisieren. Sie waren es in erster Linie, die in den vordersten Reihen standen, die an den Fronten gegen Judenitsch und Koltschak zu Tausenden fielen. Die Besten der Arbeiterklasse kamen um, opferten sich, weil sie wussten, wofür sie ihr Lehen hingaben, weil sie wussten, dass sie Generationen, dass sie Tausende und aber Tausende Arbeiter und Bauern retten. Sie brandmarkten rücksichtslos die Egoisten, die im Kriege nur auf sich bedacht waren. Ohne Erbarmen wurden diese Leute erschossen. Wir sind stolz auf diese Diktatur, auf diese eiserne Macht der Arbeiter, die erklärten: wir haben die Kapitalisten gestürzt und werden alle unser Leben hingeben, wenn der Versuch unternommen werden sollte, sie wieder an die Macht zu bringen. Niemand hat in diesen zwei Jahren so gehungert, wie die Arbeiter von Petersburg, Moskau und Iwanowo-Wosnessensk, Es ist jetzt festgestellt, dass die Arbeiter in diesen zwei Jahren nicht mehr als 7 Pud Brot pro Jahr erhalten haben, die Bauern der Getreidegebiete dagegen hatten nicht weniger als 17 Pud, Die Arbeiter brachten schwere Opfer, litten unter Krankheiten, die Sterblichkeit stieg in ihren Reihen. Und sie werden beweisen, dass sie nicht aus Rachegefühl sich gegen die Kapitalisten erhoben haben, sondern aus der unbeugsamen Entschlossenheit, eine neue soziale Ordnung zu schaffen, in der es keine Gutsbesitzer und Kapitalisten geben wird. Darum sind alle diese Opfer gebracht worden! Nur durch diese unerhörten Opfer, diese bewussten, freiwilligen Opfer, die durch die Disziplin der Roten Armee ergänzt wurden, durch eine Disziplin, die nicht die Mittel der alten Disziplin an wendet, – nur durch diese ungeheuren Opfer haben die fortgeschrittenen Arbeiter ihre Diktatur behauptet und sich das Recht auf die Achtung der Arbeiter der ganzen Welt erkämpft. Diejenigen, die besonderen Eifer beim Verleumden der Bolschewiki an den Tag legen, dürfen nicht vergessen, dass die Diktatur für die Arbeiter selbst, die sie verwirklichten, bedeutete, dass sie die meisten Opfer bringen, am meisten hungern mussten. Die Arbeiter von Iwanowo-Wosnessensk, Petrograd und Moskau haben in diesen zwei Jahren im Kampfe an den roten Fronten mehr Opfer gebracht als je zuvor irgend jemand anders. Das müssen in erster Linie die Genossen aus der Kohlenindustrie im Auge behalten und sich fest einprägen, Ihr seid die Avantgarde. Der Krieg geht weiter. Nicht der blutige Krieg. Den haben wir glücklicherweise beendet. Jetzt wird es niemand mehr wagen, sich auf Sowjetrussland zu stürzen, weil man weiß, dass man geschlagen werden wird. Denn die klassenbewussten Arbeiter kann man nicht gegen uns ins Feld schicken: sie werden ebenso die Häfen sprengen, wie in Archangelsk bei den Engländern, wie in Odessa. Das ist bereits bewiesen, das steht fest. Der Krieg aber geht trotzdem weiter, d. h. der Wirtschaftskrieg, Die Lebensmittelspekulanten und eine kleine Zahl von Arbeitern, die durch den alten Kapitalismus korrumpiert worden sind, die sich sagen: „Unser Arbeitslohn muss erhöht werden, auf die andern aber pfeifen wir“ – gegen diese Leute müssen wir jetzt den Kampf aufnehmen, „Gebt uns einen doppelten Arbeitslohn, gebt uns zwei bis drei Pfund Brot täglich“, sagen sie. Dass sie aber für die Verteidigung der Arbeiter und Bauern arbeiten, dass sie durch ihre Arbeit die Kapitalisten niederringen, – daran denken sie nicht. Durch kameradschaftliche Erziehung, durch kameradschaftliche Einwirkung müssen wir den Kampf gegen diese Leute führen. Das aber können nur die Gewerkschaften tun. Wenn diese Arbeiter auf die Seite der Lebensmittelspekulanten und reichen Bauern übergehen, deren Devise lautet: „Je mehr Brot ich habe, desto mehr werde ich verdienen!“ – „Jeder für sich, Gott für uns alle!“ – so muss man sie darüber aufklären, dass die Herren Kapitalisten und alle diejenigen so denken, die die alten kapitalistischen Gewohnheiten behalten haben, und dass wir diejenigen, die nach alter Weise urteilen, für Verräter halten, die die Arbeiterklasse brandmarken muss. Wir sind von kapitalistischen Ländern umgeben. Sie schließen sich in der ganzen Welt gegen uns zusammen; sie vereinigen sich mit unseren Menschewiki; sie wollen uns gewaltsam stürzen; sie glauben, dass sie stärker sind als wir. Wir bleiben auch weiterhin eine belagerte Festung, auf die die Arbeiter der ganzen Welt ihre Blicke richten, denn sie wissen, dass ihnen aus dieser Festung die Freiheit erstehen wird. Und in dieser belagerten Festung müssen wir mit militärischer Rücksichtslosigkeit, militärischer Disziplin und Selbstaufopferung handeln. Wer nur an sich selbst denkt und die Interessen seiner Gruppe nicht mit den Interessen aller Arbeiter und Bauern verknüpfen will, den dürfen wir nicht unter den Arbeitern dulden. Mit Hilfe der Gewerkschaften müssen wir eine ebensolche kameradschaftliche Disziplin schaffen, wie wir sie in der Roten Armee hatten. Das tut jede gute Gewerkschaftsorganisation, und auch ihr, die ihr jetzt den Verband der Bergarbeiter gegründet habt, werdet – davon bin ich überzeugt – eine solche Disziplin schaffen. Euer Verband wird einer der führenden sein. Wir werden euch die volle Unterstützung der Staatsmacht angedeihen lassen, soweit es in unseren Kräften steht. Und ich bin überzeugt, dass auch ihr eine ebensolche Hingabe an den Tag legen werdet bei der Schaffung einer festen Arbeitsdisziplin, bei der Hebung der Produktivität der Arbeit, der Selbstaufopferung der Arbeiter der Kohlenindustrie, die vielleicht die schwerste, schmutzigste, gefährlichste Arbeit verrichten, nach deren völliger Beseitigung die menschliche Technik strebt. Um aber die Sowjetmacht jetzt zu retten, muss man der Industrie ihr Brot, d. h. Kohlen geben. Ohne Kohlen kann man die Fabriken nicht in Gang bringen, kann man den Bauern keine Industrieerzeugnisse für das Getreide geben. Die Bauern können sich natürlich nicht mit bunten Papierchen zufrieden geben. Sie geben uns Kredit, weil sie den hungernden Arbeitern gegenüber dazu verpflichtet sind. Wir aber sind verpflichtet, ihnen diesen Kredit zurückzuerstatten, und müssen deshalb die Produktion verzehnfachen und alle Fabriken in Gang bringen, Genossen! Diese gewaltige Aufgabe steht vor allen klassenbewussten Arbeitern, vor allen Arbeitern, die begreifen, dass es darum geht, die Sowjetmacht und den Sozialismus zu festigen und die späteren Generationen für immer von dem Joch der Gutsbesitzer und Kapitalisten zu retten. Wer das nicht begreifen will, muss aus den Reihen der Arbeiterklasse hinausgejagt werden; wer aber diese Aufgabe nicht genügend begreift, auf den müssen die Gewerkschaften durch Belehrung, durch Beeinflussung und Propaganda, durch die größte Sorge um die Produktion und Arbeitsdisziplin einwirken. Auf diesem Wege werden wir die Arbeiter- und Bauernmacht stärken. Durch diese zwar langsame, aber überaus wichtige Arbeit werdet und müsst ihr viel bedeutsamere Siege erringen als die Siege unserer Roten Armee an der Front. |