Wladimir I. Lenin: Rede in der Versammlung des Moskauer Komitees der KPR (Bolschewiki) 23. April 1920 [Veröffentlicht 1920 in der Broschüre: „Zum 50. Geburtstag Lenins (1870 – 23. April – 1920)“, Staatsverlag 1920. Nach Sämtliche Werke, Band 25, Wien-Berlin 1930, S. 198-200] Genossen! Vor allen Dingen muss ich euch meinen Dank für zwei Dinge aussprechen: erstens für die Begrüßungen, die heute an mich gerichtet worden sind, und zweitens noch mehr dafür, dass man mich mit Jubiläumsreden verschont hat. Ich glaube, auf diese Weise werden wir vielleicht mit der Zeit, natürlich nicht mit einem Schlag, eine bessere Form für Jubiläumsfeiern finden als diejenige, die wir bis heute praktizieren und die zuweilen zu erstaunlich guten Karikaturen Anlass gibt. Ich habe hier eine solche Karikatur, die von einem hervorragenden Künstler entworfen worden und einem ähnlichen Jubiläum gewidmet ist.1 Ich erhielt sie heute zusammen mit einem außerordentlich freundschaftlichen Brief. Da die Genossen so liebenswürdig waren und mich mit Jubiläumsreden verschont haben, so übergebe ich diese Karikatur allen zur Ansicht, damit wir in Zukunft von solchen Jubiläumsfeiern ganz verschont bleiben. Ferner möchte ich einige Worte über die gegenwärtige Lage der bolschewistischen Partei sagen. Auf diesen Gedanken brachten mich die Zeilen eines Schriftstellers, die er vor 18 Jahren, im Jahre 1902, geschrieben hat. Dieser Schriftsteller ist Karl Kautsky, von dem wir uns gegenwärtig aufs Entschiedenste trennen, den wir aufs Heftigste bekämpfen mussten, der aber früher im Kampfe gegen den deutschen Opportunismus einer der Führer der proletarischen Partei war, mit dem wir einst zusammen gearbeitet haben. Damals gab es noch keine Bolschewiki, aber alle künftigen Bolschewiki, die mit ihm zusammenarbeiteten, schätzten ihn hoch. Dieser Schriftsteller schrieb damals, im Jahre 1902, folgendes: „Gegenwärtig (im Gegensatz zum Jahre 1848) kann man annehmen, dass die Slawen nicht nur in die Reihen der revolutionären Völker getreten sind, sondern dass auch der Schwerpunkt des revolutionären Gedankens und der revolutionären Tat sich immer mehr und mehr zu den Slawen verschiebt. Das revolutionäre Zentrum verschiebt sich von Westen nach Osten. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts lag es in Frankreich, zeitweise in England. Im Jahre 1848 trat Deutschland in die Reihe der revolutionären Nationen … Das neue Jahrhundert beginnt mit Ereignissen, die uns auf den Gedanken bringen, dass wir einer weiteren Verschiebung des revolutionären Zentrums entgegengehen, nämlich: seiner Verschiebung nach Russland … Russland, das soviel revolutionäre Initiative aus dem Westen geschöpft hat, ist jetzt vielleicht selbst imstande, für diesen zu einem Quell der revolutionären Energie zu werden. Die auflodernde russische revolutionäre Bewegung wird vielleicht das gewaltigste Mittel werden, um jenen Geist des feigen Philistertums und der nüchternen Politikasterei auszutreiben, der sich in unseren Reihen breit zu machen beginnt: sie wird von neuem die Kampfeslust und die leidenschaftliche Hingabe an unsere großen Ideale zur hellen Flamme auflodern lassen. Russland hat längst aufgehört, für Westeuropa einfach das Bollwerk der Reaktion und des Absolutismus zu sein. Jetzt ist wohl gerade das Umgekehrte der Fall. Westeuropa wird zum Bollwerk der Reaktion und des Absolutismus in Russland … Mit dem Zaren wären die russischen Revolutionäre vielleicht schon längst fertig geworden, wenn sie nicht gleichzeitig auch gegen seinen Verbündeten – das europäische Kapital – kämpfen müssten. Hoffen wir, dass es ihnen diesmal gelingen werde, mit beiden Feinden fertig zu werden, und dass die neue ,Heilige Allianz' schneller zusammenbrechen werde als ihre Vorläufer. Wie aber auch der gegenwärtige Kampf in Russland ausgehen mag, Blut und Leid der Märtyrer, deren er leider mehr als genug erzeugen wird, werden nicht vergeblich sein. Sie werden die Triebe der sozialen Umwälzung in der ganzen zivilisierten Welt befruchten und sie zu üppigerem und schnellerem Wachstum bringen. Im Jahre 1848 waren die Slawen der strenge Frost, der die Blüten des Völkerfrühlings knickte. Vielleicht ist es ihnen jetzt bestimmt, zu dem Sturme zu werden, der das Eis der Reaktion brechen und den Völkern einen neuen, glücklichen Frühling bringen wird.“ (Karl Kautsky, „Die Slawen und die Revolution“, „Iskra“ Nr. 18, vom 10. März 1902.)2 Das schrieb vor 18 Jahren über die revolutionäre Bewegung in Russland ein hervorragender Sozialist, mit dem wir jetzt so entschieden brechen mussten. Diese Worte bringen mich auf den Gedanken, dass unsere Partei heute unter Umständen in eine sehr gefährliche Lage geraten kann, nämlich in die Lage eines Menschen, der überheblich geworden ist. Das ist eine ziemlich dumme, beschämende, lächerliche Lage. Es ist bekannt, dass dem Missgeschick und Verfall von politischen Parteien sehr oft ein Zustand vorausging, wo für diese Parteien die Möglichkeit der Selbstüberhebung bestand. In der Tat, die Erwartungen, die an die russische Revolution geknüpft werden und die ich mit den Worten unseres heutigen schlimmsten Feindes kennzeichnete, – diese Erwartungen sind unermesslich groß. Die glänzenden Erfolge und Siege, die wir bis jetzt errungen haben, wurden unter Verhältnissen erzielt, wo die Hauptschwierigkeiten von uns noch nicht überwunden werden konnten. Damals hatten wir militärische Aufgaben zu lösen und mussten den schärfsten, aktivsten Kampf gegen die Reaktion, gegen die Großgrundbesitzer und zaristischen Generale führen. Auf diese Weise traten an die Stelle der Aufgaben, die das Wesen der sozialistischen Umwälzung ausmachen, die Aufgaben der Organisierung des Kampfes gegen die tagtäglichen Äußerungen der kleinbürgerlichen Anarchie, Zusammenhanglosigkeit, Zersplitterung, d. h. gegen alles, was zum Kapitalismus zurückschleppt. Sowohl in wirtschaftlicher als auch in politischer Hinsicht wurden jene Aufgaben in den Hintergrund gedrängt. Wir hatten keine Möglichkeit, sie energisch anzupacken. Deshalb muss jene Gefahr, auf die uns die zitierten Worte hinweisen, von jedem einzelnen Bolschewik und von der Partei der Bolschewiki in ihrer Gesamtheit aufs ernsteste in Rechnung gestellt werden. Die Beschlüsse unseres letzten Parteitags müssen um jeden Preis durchgeführt werden. Das müssen wir begreifen. Das aber bedeutet, dass uns eine ungeheure Arbeit bevorsteht und dass es viel größerer Anstrengungen bedarf als bisher. Gestattet mir, mit dem Wunsch zu schließen, dass unsere Partei auf keinen Fall zu einer überheblichen Partei werde. 1 Die Karikatur, die Lenin hier erwähnt, wurde ihm von E. Stassowa geschickt. Sie stammt von dem bekannten Karikaturenzeichner Karrik. 2 Von Karl Kautsky autorisierte Rückübersetzung. Die Red. |