Wladimir I. Lenin: Über die Diktatur des Proletariats1 [Geschrieben Anfang 1920 Zum ersten Mal veröffentlicht 1925 im „Lenin-Sammelbuch“ Nr. 3. Nach Sämtliche Werke, Band 25, Wien-Berlin 1930, S. 1-10] Eine Broschüre über diese Frage muss in vier Hauptteile zerfallen: A. Die Diktatur des Proletariats als neue Form des proletarischen Klassenkampfes (oder mit anderen Worten: als neues Stadium des Klassenkampfes mit neuen Aufgaben), B. Die Diktatur des Proletariats als Zerstörung der bürgerlichen und Schaffung der proletarischen Demokratie. C. Die Diktatur des Proletariats und die Besonderheiten des Imperialismus (oder des imperialistischen Stadiums des Kapitalismus) D. Die Diktatur des Proletariats und die Sowjetmacht, Die Disposition dieser vier Teile ist folgende: I. (A) Die Diktatur des Proletariats als neue Form des proletarischen Klassenkampfes
II. (B) Die Diktatur des Proletariats als Zerstörung der bürgerlichen und Schaffung der proletarischen Demokratie.
III. (C) Die Diktatur des Proletariats und die Besonderheiten des Imperialismus
IV. (D) Die Diktatur des Proletariats und die Sowjetmacht
1 Das Manuskript „Über die Diktatur des Proletariats“ ist einer von fünf Entwürfen einer von Lenin geplanten Broschüre, zu deren Fertigstellung er aber nicht gekommen ist. Zum ersten Male wurden diese Entwürfe und der Konspekt im „Lenin-Sammelband“ Nr. 3 nach den Manuskripten veröffentlicht, die sich im Archiv des Lenin-Instituts befinden. Sie tragen folgende Überschriften: 1. Einige Seiten der Frage der Diktatur des Proletariats. Die Frage der Diktatur des Proletariats. 2. Einige theoretische Seiten der Frage der Diktatur des Proletariats. 3. Themata über die Diktatur des Proletariats. 4. Über die Diktatur des Proletariats. 5. Plan einer Broschüre über die Diktatur des Proletariats. Das wichtigste dieser Manuskripte ist das vierte, das einen endgültigen Plan der beabsichtigten Broschüre darstellt. Offenbar ist in Lenins Aufsatz „Wirtschaft und Politik in der Epoche der Diktatur des Proletariats“ von dieser Broschüre die Rede. In der kurzen Einleitung zu diesem Aufsatz schreibt Lenin: „Zum zweiten Jahrestag der Sowjetmacht beabsichtigte ich eine kurze Broschüre über das im Titel genannte Thema zu schreiben. Aber im Drange der Tagesarbeit gelang es mir nicht, über die Vorbereitung einzelner Teile hinauszukommen. Deshalb beschloss ich, es mit einer kurzen konspektartigen Darlegung der meiner Ansicht nach wesentlichsten Gedanken über diese Frage zu versuchen.“ Offenbar sind die erwähnten Manuskripte jenes vorbereitende Material, das der von Lenin geplanten Broschüre über die Diktatur des Proletariats zugrunde liegen sollte und das teilweise in den Artikel „Wirtschaft und Politik in der Epoche der Diktatur des Proletariats“ aufgenommen worden ist. 2 Lenin meint hier folgende Stelle aus einem Brief Karl Marx' vom 5. März 1852 an Weydemeyer: „Was ich neu tat, war, nachzuweisen: 1. dass die Existenz der Klassen bloß an bestimmte, historische Entwicklungskämpfe der Produktion gebunden sei; 2. dass der Klassenkampf notwendig zur Diktatur des Proletariats führe; 3. dass diese Diktatur selbst nur den Übergang zur Aufhebung aller Klassen und zu einer klassenlosen Gesellschaft bilde.“ („Neue Zeit“, Jahrgang 25, Bd. 2, S. 164.) 3 Weiter nichts. Die Red. 4 Das Referat über die soziale Revolution hielt Kautsky am 22. und 24. April 1902 in Amsterdam und Delft. Dieses Referat erschien später als Broschüre unter dem Titel: Karl Kautsky, „Die soziale Revolution“, Berlin, Buchhandlung „Vorwärts“, 1903. Lenin meint hier folgende Stelle aus dieser Broschüre: „Fast möchte ich sagen, sie (die kommende Revolution. Die Red.) wird weniger einer plötzlichen Empörung gegen die Obrigkeit und mehr einem lang dauernden Bürgerkrieg gleichen, wenn man mit dem letzten Wort nicht die Begriffe von wirklichen Kriegen und Gemetzeln verbände.“ 5 Lenin meint folgende Stelle aus dem Brief Marx’ vom 13. Dezember 1870 an Kugelmann: „Wie aber der Krieg immer ende, er hat das französische Proletariat in den Waffen geübt, und das ist die beste Garantie der Zukunft.“ 6 Hier ist offenbar die „Beseitigung“ der Parteien, nicht aber der Partei gemeint. Lenin hat folgende Stelle aus der Broschüre Kautskys „Die Diktatur des Proletariats“ (Wien 1918) im Auge: „Im Bürgerkrieg kämpft jede Partei um ihre Existenz, droht dem Unterliegenden völlige Vernichtung. Dieses Bewusstsein macht Bürgerkriege leicht so grausam. Namentlich eine Minderheit, die sich nur durch militärische Macht am Ruder hält, neigt dazu, ihre Gegner in blutigster Weise niederzuhalten und sie in wilder Schlächterei zu dezimieren, wenn sie in einem Aufstande bedroht wurde und es ihr gelang, ihn niederzuschlagen.“ 7 Gemeint ist der Aufsatz von Engels: „Die Bauernfrage in Frankreich und Deutschland“, der zum ersten Mal in der „Neuen Zeit“, Nr. 10, Jahrgang 13, 1894/95, Bd. I, erschienen ist. 8 Lenin meint das 4. Kapitel des Buches von K. Kautsky „Die Agrarfrage. Eine Übersicht über die Tendenzen der modernen Landwirtschaft und Agrarpolitik der Sozialdemokratie“, Stuttgart 1899, wo von der Neutralität der Bauernschaft die Rede ist. 9 In dem Briefe an A. Bebel vom 18. bis 28. März schrieb Engels über das Gothaer Programm: Das alles haben unsere Leute den Lassalleanern zu Gefallen getan. Und was haben die anderen nachgegeben? Dass ein Haufen ziemlich verworrener rein demokratischer Forderungen im Programm figurieren, von denen manche reine Modesache sind, wie z. B. die „Gesetzgebung durch das Volk“, die in der Schweiz besteht und mehr Schaden als Nutzen anrichtet, wenn sie überhaupt was anrichtet. Verwaltung durch das Volk, das wäre noch etwas. Ebenso fehlt die erste Bedingung aller Freiheit: dass alle Beamte für alle ihre Amtshandlungen jedem Bürger gegenüber vor den gewöhnlichen Gerichten und nach gemeinem Recht verantwortlich sind. Davon, dass solche Forderungen wie: „Freiheit der Wissenschaft – Gewissensfreiheit, in jedem liberalen Bourgeoisprogramm figurieren und sich hier etwas befremdend ausnehmen, davon will ich weiter nicht sprechen.“ 10 Lenin meint folgende Stelle aus Engels’ „Anti-Dühring“: „In beiden Fällen ist der wirkliche Inhalt der proletarischen Gleichheitsforderung die Forderung der Abschaffung der Klassen. Jede Gleichheitsforderung, die darüber hinausgeht, verläuft notwendig ins Absurde.“ 11 Lenin meint folgende Stelle aus dem Buche Engels’: „Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates“: „ … die demokratische Republik weiß offiziell nichts mehr von Besitzunterschieden, In ihr übt der Reichtum seine Macht indirekt, aber um so sicherer aus. Einerseits in der Form der direkten Beamtenkorruption, wofür Amerika klassisches Muster, andererseits in der Form der Allianz von Regierung und Börse, die sich um so leichter vollzieht, je mehr die Staatsschulden steigen und je mehr Aktiengesellschaften nicht nur den Transport, sondern auch die Produktion selbst in ihren Händen konzentrieren und wiederum in der Börse ihren Mittelpunkt finden.“ 12 Gegen. Die Red. 13 Lenin meint hier Briefe und Schriften von Marx und Engels, in denen sie im Laufe von Jahrzehnten die „Verbürgerlichung“ der aristokratischen Oberschicht der Arbeiterklasse in England brandmarkten, Lenin führt in seinem Aufsatz „Der Imperialismus und die Spaltung der Sozialisten“ ausführliche Zitate aus den Werken von Marx und Engels an, die gegen die bürgerliche „Ehrenhaftigkeit“ und „Käuflichkeit“ der englischen Arbeiterführer gerichtet sind, die die Stützen des Opportunismus in der englischen Arbeiterbewegung sind. Eine Aufzählung der Werke von Marx und Engels, in denen sie diese Frage behandeln, findet man in Band XIX dieser Ausgabe. 14 Die Arbeiterleutnants der Kapitalistenklasse. Die Red. 15 Lenin meint den Artikel von V. Schiff „Die Radikalisierung der englischen Arbeiter“ in der Nr. 477 des „Vorwärts“ vom 18. September 1919. Schiff schreibt dort: „… es wäre gerade vom deutschen Standpunkt aus höchst bedauerlich, wenn dabei die eine Größe der Neo-Moskowiter vergessen würde: sie sind die letzte revolutionäre Macht, der es noch gegönnt ist, der sonst allmächtigen Reaktion der Entente-Regierungen zu trotzen.“ 16 Lenin meint das Referat F. Adlers „Die Aufgaben der Arbeiterräte und die politische Lage“ auf der Konferenz der Arbeiterräte Österreichs in Wien, Juli 1919. Als Adler in seinem Referat die Frage der Möglichkeit des Übergangs der Macht in die Hände des österreichischen Proletariats streifte, musste er erklären: „Es hat tatsächlich in Deutschösterreich seit dem Umsturz im Oktober keinen Moment gegeben, wo es dem Proletariat nicht möglich gewesen wäre, die Macht zu ergreifen. An der Möglichkeit der Errichtung einer sozialistischen Herrschaft habe ich niemals gezweifelt, und es haben dies auch nicht jene Genossen, die man als die rechtsstehenden in der Partei bezeichnet, getan. Aber die Frage, die für den ernsthaften und gewissenhaften Vertreter proletarischer Interessen aufgetaucht ist, war nicht nur die, ob die Möglichkeit besteht, die Macht zu ergreifen, sondern vor allem, ob es im Interesse des Proletariats gelegen ist, unter diesen bestimmten historischen Bedingungen die Macht tatsächlich zu ergreifen. Denn es kommt nicht nur darauf an, dass man die Macht ergreift, sondern vor allem auch darauf, wie lange man die Macht zu behaupten in der Lage ist. Man kann dies machen, wie man es in München gemacht hat; man kann es auch vernünftiger machen, und trotzdem kann es scheitern. Wenn wir also einen derartigen Schritt einmal machen müssen und wir als sozialistisches Proletariat, durch die Umstände gedrängt, in Deutschösterreich die Macht in die Hand nehmen müssten, dann werden wir es nicht tun in dem Bewusstsein, eine Episode sozialistischer Herrschaft herbeizuführen, sondern wir werden es tun, wenn wir wissen, dass es historisch möglich und für das Proletariat in Deutschösterreich zweckentsprechend ist. Deshalb sind wir Sozialdemokraten auf dem Standpunkt gestanden, dass es uns viel lieber gewesen wäre, wenn wir während dieser ganzen Zeit und auch noch in diesem schönen Monat Juli, wo der Friede geschlossen wird, an der Regierung überhaupt nicht beteiligt wären, sondern wenn jene die Verantwortung während dieser ganzen Periode, die der Niederlage gefolgt ist, übernommen hätten, die die Schuld am Kriege gehabt haben, wenn jene das auch ausgelöffelt hätten, was sie dem Volke in Deutschösterreich eingebrockt haben. Wir waren der Meinung, dass wir unter diesen Umständen nichts sehnlicher zu wünschen hätten, als dass eine bürgerliche Regierung diese Verantwortung allein trägt. Aber das Bürgertum war im November und auch noch später in einer derartigen Lage, dass es sich vor der Macht gefürchtet hat und alles lieber getan hätte, als in diesem Staat die Verantwortung allein zu übernehmen. So oft wir dies zu erkennen gegeben haben, entstand bleicher Schrecken im Bürgertum. Das Bürgertum wollte nicht herrschen, weil es weiß, dass es in Österreich soweit heruntergekommen ist, dass es in der gegenwärtigen Zeit nicht herrschen kann. Nun befinden wir uns in der schwierigen Lage, dass das Bürgertum nicht herrschen will und nicht herrschen kann, das Proletariat aber, wenn es die Herrschaft übernehmen würde, auch nicht auf die Dauer herrschen könnte – oder wenigstens während dieser Zeit des Überganges unbedingt eine politische Niederlage erlitten hätte.“ 17 Nichts. Die Red. 19 Lenin meint folgende Schriften: a) P. Struve „Kritische Bemerkungen zur Frage der wirtschaftlichen Entwicklung Russlands“, Petersburg 1894, und b) E. Bernstein „Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie“. Verlag Dietz, 1899. Eine ausführliche kritische Analyse des Buches von P. Struve lieferte Lenin in seiner Arbeit „Der ökonomische Inhalt der Lehre der Narodniki und ihre Kritik in dem Buche des Herrn Struve. Eine Widerspiegelung des Marxismus in der bürgerlichen Literatur“. Das Buch Bernsteins, das teilweise aus Aufsätzen besteht, die er in der „Neuen Zeit“ veröffentlicht hatte, rief eine heftige Kritik Rosa Luxemburgs („Sozialreform oder Revolution“, Leipzig 1899), G. Plechanow („Bernstein und der Materialismus“, „Neue Zeit" vom 19. 7. 1898, „Cant gegen Kant oder das geistige Vermächtnis des Herrn Bernstein“ („Sarja“ Nr. 2/3 vom Dezember 1901) und K. Kautskys („Bernstein und das sozialdemokratische Programm. Eine Antikritik von K. Kautsky“, Stuttgart, Dietz, 1899) hervor. |