Lenin‎ > ‎1914‎ > ‎

Wladimir I. Lenin 19140102 Der Nationalliberalismus und das Selbstbestimmungsrecht der Nationen

Wladimir I. Lenin: Der Nationalliberalismus und das Selbstbestimmungsrecht der Nationen

[„Proletarskaja Prawda", Nr. 12. 2. Januar 1914 (20. Dezember 1913). Nach Sämtliche Werke Band 17, Moskau-Leningrad 1935, S. 206-208]

Von der Absicht geleitet, Herrn Mogiljanski, der sich verrannt hatte, zu Hilfe zu eilen, brachte die Redaktion der liberalen „Rjetsch" unlängst (Nr. 340) eine nicht gezeichnete, d. h. offiziell redaktionelle Erklärung zu der wichtigen Frage des nationalen Selbstbestimmungsrechts.

Einer direkten Antwort ausweichend, versicherte Herr Mogiljanski, dass seine Ansicht „mit der Ablehnung des nationalen Selbstbestimmungsrechts nichts gemein hat". Nun erklärt die „Rjetsch" offiziell, dass der § 11 des Programms der Kadetten-Partei „auf die Frage des freien kulturellen Selbstbestimmungsrechtes eine direkte, exakte und klare Antwort gibt".

Das von uns unterstrichene Wort ist besonders wichtig, weil sowohl im ersten Aufsatz des Herrn Mogiljanski als auch in der Antwort des Herrn Donzow sowie in der Polemik des Herrn Mogiljanski gegen Herrn Donzow gerade von der „kulturellen" Selbstbestimmung nicht die Rede war. Es war vom politischen Selbstbestimmungsrecht der Nationen, d.h. von dem Rechte der Nationen auf Lostrennung die Rede, während unter der „kulturellen Selbstbestimmung" (eine sinnlose, schwülstige Ausdrucksweise, die der ganzen Geschichte der Demokratie widerspricht) die Liberalen in Wirklichkeit nur den freien Gebrauch der Muttersprache verstehen.

Die „Rjetsch" behauptet jetzt, dass die „Proletarskaja Prawda" Selbstbestimmung mit „Separatismus", mit der Lostrennung einer beliebigen Nation hoffnungslos verwechsle.

Auf wessen Seite ist hier eine hoffnungslose (oder vielleicht absichtliche…) Verwechslung?

Werden unsere aufgeklärten „konstitutionellen Demokraten" in Abrede stellen, dass in der ganzen Geschichte der internationalen Demokratie, namentlich seit der Mitte des XIX. Jahrhunderts, unter der nationalen Selbstbestimmung eben die politische Selbstbestimmung, d. h. das Recht auf Lostrennung, auf Bildung eines selbständigen Nationalstaates verstanden wird?

Werden unsere aufgeklärten „konstitutionellen Demokraten" in Abrede stellen, dass der Londoner Internationale Sozialistische Kongress im Jahre 1896, als er das feststehende demokratische Prinzip wieder bestätigte (worauf sich der Kongress selbstredend nicht beschränkte), ebenfalls nur die politische und nicht irgendeine „kulturelle" Selbstbestimmung im Auge hatte?

Werden unsere aufgeklärten „konstitutionellen Demokraten" in Abrede stellen, dass z. B. Plechanow, als er bereits im Jahre 1902 über die Selbstbestimmung schrieb, darunter eben die politische Selbstbestimmung verstand?

Gebt doch, meine Herren, gefälligst eine ausführliche Aufklärung und enthaltet dem „Pöbel" nicht die Früchte eurer „Aufklärung" vor!

Zur Sache selbst erklärt die „Rjetsch":

Die K.-D. haben es in der Tat niemals auf sich gekommen, das Recht auf ,Lostrennung der Nationen' vom russischen Staate zu verteidigen."

Herrlich! Wir danken für die Aufrichtigkeit und für die uneingeschränkt grundsätzliche Erklärung! Wir machen die „Rossija", die „Nowoje Wremja", die „Semschtschina' und andere auf diese „ausnehmend loyale" Erklärung des Offiziosus der Kadetten aufmerksam!

Aber nehmt es nicht übel, meine Herren Kadetten, wenn man euch eben deshalb Nationalliberale nennen muss. Gerade hier ist eine der Grundlagen eures Chauvinismus und eures ideell-politischen Blocks mit den Purischkewitsch (oder eurer ideell-politischen Abhängigkeit von ihnen). Die Herren Purischkewitsch und ihre Klasse erziehen die unaufgeklärte Masse in dem „festen" Bewusstsein des „Rechts", „festzuhalten und nicht loszulassen". Die Herren Kadetten haben die Geschichte studiert und wissen vorzüglich, zu welchen … gelinde gesagt … pogromartigen" Handlungen die praktische Anwendung dieses „Urrechts" oft führte. Ein Demokrat könnte nicht Demokrat bleiben (von der proletarischen Demokratie gar nicht zu sprechen), ohne gerade dm großrussischen Massen und gerade in russischer Sprache die nationale „Selbstbestimmung" im politischen und nicht im „kulturellen" Sinne systematisch zu predigen.

Der Nationalliberalismus wird allerorts eben dadurch (gekennzeichnet, dass er sich gänzlich auf den Boden der Beziehungen (und Grenzen) stellt, die von der Klasse der Purischkewitsch bestimmt und durch die Purischkewitsch-Methoden (oft entgegen den Erfordernissen der wirtschaftlichen Entwicklung und der „Kultur") verteidigt werden. Das bedeutet in Wirklichkeit die Anpassung an die Interessen der Fronherren und an die schlimmsten nationalistischen Vorurteile der herrschenden Nation an Stelle einer systematischen Bekämpfung dieser Vorurteile.

Kommentare