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Wladimir I. Lenin 19140325 Die englischen Liberalen und Irland

Wladimir I. Lenin: Die englischen Liberalen und Irland

[„Putj Prawdy", Nr. 34, 25. (12.) März 1914. Nach Sämtliche Werke Band 17, Moskau-Leningrad 1935, S. 301-304]

Das, was jetzt im englischen Parlament im Zusammenhang it dem Gesetzentwurf über die irische „Homerule" (Selbstverwaltung oder, richtiger, Autonomie für Irland) vorgeht, ist hervorragend interessant sowohl vom Gesichtspunkt der Klassenverhältnisse als auch vom Gesichtspunkt der Klärung der nationalen und der Agrarfrage. England hat Irland jahrhundertelang unterjocht, hat die irischen Bauern zu unerhörten Hungerqualen und zum Hungernde getrieben, hat sie von Grund und Boden vertrieben, hat Hunderttausende und Millionen gezwungen, ihre Heimat zu verlassen und nach Amerika auszuwandern. Zu Beginn des XIX. Jahrhunderts hatte Irland eine Bevölkerung von Millionen, jetzt hat es bloß Millionen Einwohner. Irland ist arm an Einwohnern geworden. Im Laufe des XIX, Jahrhunderts sind 5 Millionen Iren nach Amerika ausgewandert, und in den Vereinigten Staaten leben jetzt mehr Iren als in Irland!

Die unerhörten Nöte und Qualen der irischen Bauern sind der lehrreichen Musterbeispiele dafür, wie weit die Großgrundbesitzer und liberalen Bourgeois einer „herrschenden" Nation gehen. England hat seine glänzende" ökonomische Entwicklung, das „Aufblühen" seiner Industrie und seines Handels bedeutendem Maße auf Heldentaten gegen die irische Bauernschaft begründet, die an die russische Feudalherrin Saltytschicha erinnern1

England ist „aufgeblüht", Irland starb aus und ist ein unentwickeltes, halb wildes, rein agrarisches Land, ein Land der Pachtbauern geblieben. Doch wie sehr auch die „aufgeklärte liberale" Bourgeoisie Englands die Versklavung Irlands und Elend verewigen wollte, die Reform rückte trotzdem unausweichlich heran, um so mehr als die revolutionären Ausbrüche des Kampfes des irländischen Volkes für die Freiheit und für und Boden immer bedrohlicher wurden. Im Jahre 1861 bildete sich die irische revolutionäre Organisation der Fenier. Die nach Amerika ausgewanderten Iren unterstützten sie auf jede nur mögliche Weise.

Seit dem Jahre 1868, seit der Regierung Gladstones, dieses Helden der liberalen Bourgeois und der stumpfsinnigen Kleinbürger, beginnt die Epoche der Reformen in Irland, eine Epoche, die sich glücklich bis in die gegenwärtige Zeit, d. h. über fast ein halbes Jahrhundert hinzog. O, die weisen Staatsmänner der liberalen Bourgeoisie verstehen es ausgezeichnet, sich mit ihren „Reformen" „langsam zu beeilen"!

Karl Marx lebte damals schon über fünfzehn Jahre in London und verfolgte den Kampf der Iren mit größtem Interesse und größter Sympathie. Am 2. November 1867 schrieb er an Friedrich Engels:

Diese Demonstration der englischen Arbeiter für Fenianismus habe ich auf alle Art zu provozieren versucht … Ich habe früher die Trennung Irlands von England für unmöglich gehalten. Ich halte sie jetzt für unvermeidlich, obgleich nach der Trennung Föderation kommen mag."

In einem Briefe vom 30. November desselben Jahres kommt Marx wieder auf dieses Thema zurück:

Fragt sich nun, was sollen wir den englischen Arbeitern raten? Nach meiner Ansicht müssen sie Repeal der Union" (Aufhebung der Union Irlands mit England) „(kurz den Witz von 1783, nur demokratisiert und den Zeitumständen angepasst) zu einem Artikel ihres Pronunziamento machen. Es ist dies die einzig legale und daher die einzig mögliche Form der irischen Emanzipation, die in das Programm einer englischen Arbeiterpartei aufgenommen werden kann."

Und weiter weist Marx nach, dass die Iren Selbstverwaltung und Unabhängigkeit von England, eine Agrarrevolution und Schutzzölle gegen England brauchen.

Dies war das Programm, das Karl Marx den englischen Arbeitern im Interesse der Freiheit Irlands, der Beschleunigung der gesellschaftlichen Entwicklung und der Freiheit der englischen Arbeiter vorschlug; denn die englischen Arbeiter konnten die Freiheit nicht erringen, solange sie halfen (oder auch nur erlaubten) , ein anderes Volk in Sklaverei zu halten.

Doch leider! Die englischen Arbeiter erwiesen sich kraft einer ganzen Reihe besonderer historischer Ursachen im letzten Drittel des XIX. Jahrhunderts als von den Liberalen abhängig und vom Geiste der liberalen Arbeiterpolitik durchtränkt. Sie erschienen nicht an der Spitze der Völker und Klassen, die für die Freiheit kämpfen, sondern im Schlepptau der verächtlichen Lakaien des Geldsacks, der Herren englischen Liberalen.

Und die Liberalen zogen ein halbes Jahrhundert lang die Befreiung Irlands hinaus, die noch heutigentags nicht vollendet ist! Der irische Bauer begann sich erst im XX. Jahrhundert aus einem Pächter in einen freien Bodenbesitzer zu verwanden, doch die Herren Liberalen zwangen ihm die Ablösung auf Grund „gerechter" Schätzung auf. Millionen und Millionen zahlt er an Tribut und wird er noch lange Jahre den englischen Gutsbesitzern als Belohnung dafür zahlen, dass sie ihn jahrhundertelang geplündert und in ständige Hungersnot getrieben haben. Die englischen liberalen Bourgeois nötigen die irischen Bauern, den Großgrundbesitzern das alles mit barem Geld zu lohnen …

Jetzt passiert das Gesetz über die „Homerule" (Selbstverwaltung) Irlands das Parlament. Nun gibt es aber in Irland die nördliche Provinz Ulster; sie ist zum Teil von Einwanderern aus England bevölkert, von Protestanten, zum Unterschied von katholischen Iren. Und da erhoben die englischen Konservativen mit dem Großgrundbesitzer und Erzreaktionär Purischkewitsch … wollte sagen Carson, an der Spitze ein wütendes Geschrei gegen die Autonomie für Irland. Das hieße die UlsterIeute in die Botmäßigkeit Andersgläubiger und Fremdstämmiger stellen! Lord Carson drohte mit dem Aufstand und organisierte bewaffnete Banden von Reaktionären.

Das ist selbstverständlich nur eine leere Drohung. Von einem Aufstand einer Handvoll Hooligans kann keine Rede sein. Von einer Unterdrückung der Protestanten durch ein irisches Parlament (dessen Macht durch ein englisches Gesetz umgrenzt wäre) könnte gleichfalls nicht die Rede sein, es handelt sich einfach darum, dass die reaktionären Großgrundbesitzer die Liberalen einschüchtern wollen.

Und die liberalen Feiglinge fügen sich den Reaktionären, geben ihnen nach und schlagen vor, in Ulster eine besondere Volksabstimmung (ein sogenanntes Referendum) zu veranstalten und die Reform für Ulster auf sechs Jahre aufzuschieben!

Der Kuhhandel zwischen den: Liberalen und den Reaktionären geht weiter. Die Reform kann warten: haben die Iren ein halbes Jahrhundert gewartet, so werden sie auch weiter warten, man kann doch die Grundherren nicht „kränken"!

Natürlich, wenn sich die Liberalen an das Volk Englands, an das Proletariat wendeten, würde sich die reaktionäre Bande Carsons im Nu verflüchtigen und verschwinden. Die friedliche und vollständige Freiheit Irlands wäre gesichert.

Dass sich aber die liberalen Bourgeois an das Proletariat gegen die Großgrundbesitzer um Hilfe wendeten – ist das denkbar? Die Liberalen in England sind doch auch Lakaien des Geldsacks, die nur fähig sind, vor den Carson zu kriechen.

1Saltytschicha, die Menschenfresserin" wurde die Gutsbesitzerin Daria Nikolajewna Saltykowa (1730–1801) im Landkreis Podolsk, Gouvernement Moskau, genannt, die wegen ihrer unmenschlichen Grausamkeit gegenüber den Bauern berüchtigt war.

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