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Wladimir I. Lenin 19140131 Ist eine obligatorische Staatssprache notwendig?

Wladimir I. Lenin: Ist eine obligatorische Staatssprache notwendig?

[„Proletarskaja Prawda", Nr. 14 (32) 31. (18.) Januar 1914. Nach Sämtliche Werke Band 17, Moskau-Leningrad 1935, S. 222-224]

Die Liberalen unterscheiden sich von den Reaktionären dadurch, dass sie wenigstens für die Elementarschule das Recht auf den Unterricht in der Muttersprache anerkennen. Aber sie sind darin mit den Reaktionären vollkommen einig, dass es eine obligatorische Staatssprache geben muss.

Was bedeutet eine obligatorische Staatssprache? Praktisch bedeutet das, dass die Sprache der Großrussen, die die Minderheit der Bevölkerung Russlands bilden, der ganzen übrigen Bevölkerung Russlands aufgezwungen wird. In jeder Schule soll der Unterricht in der Staatssprache obligatorisch sein. Die gesamte amtliche Geschäftsführung muss unbedingt in der Staatssprache und nicht in der Sprache der örtlichen Bevölkerung erfolgen.

Womit wird die Notwendigkeit der obligatorischen Staatssprache von denjenigen Parteien gerechtfertigt, die sie verteidigen?

Die „Beweisgründe" der Schwarzhunderter sind natürlich kurz und bündig: alle Fremdstämmigen sind mit harter Faust anzupacken, und es darf ihnen nicht gestattet werden, sich „breitzumachen". Russland muss ungeteilt bleiben, und alle Völker müssen sich dem großrussischen Prinzip unterordnen, da die Großrussen angeblich die Aufbauer und Mehrer des russischen Landes waren. Deshalb muss die Sprache der herrschenden Klasse die obligatorische Staatssprache sein. Die Herren Purischkewitsch hätten nichts dagegen, die „Hunde-Mundarten", in denen die annähernd 60 Prozent der Gesamtbevölkerung bildende nicht großrussische Bevölkerung Russlands spricht, überhaupt zu verbieten.

Die Stellung der Liberalen ist viel „kultivierter" und „feiner". Sie sind dafür, dass die Muttersprache in gewissen Grenzen (z. B. in den Elementarschulen) zugelassen werde. Aber gleichzeitig treten sie für die obligatorische Staatssprache ein. Das sei notwendig im Interesse der „Kultur", im Interesse des „einheitlichen" und „unteilbaren" Russland.

Die Staatlichkeit ist die Bestätigung der Kultureinheit … Einen Bestandteil der Staatskultur bildet unbedingt die Staatssprache … Der Staatlichkeit liegt die Einheit der Macht zugrunde, und die Staatssprache ist das Werkzeug dieser Einheit. Die Staatssprache besitzt eine ebenso zwingende und allgemein verpflichtende Kraft wie alle übrigen Formen der Staatlichkeit …

Wenn es Russland beschieden sein soll, einheitlich und ungeteilt au bleiben, so muss mit aller Entschiedenheit die staatliche Zweckmäßigkeit der russischen Schriftsprache verteidigt werden."

Das ist die typische Philosophie des Liberalen in der Frage der Notwendigkeit dar Staatssprache.

Die oben zitierten Sätze haben wir dem Aufsatz des Herrn S, Patraschkin in der liberalen Zeitung „Djen" entnommen. Das Organ der Schwarzhunderter, die „Nowoje Wremja", hat den Autor für diese Gedanken aus begreiflichen Gründen mit einem saftigen Kuss belohnt. Herr Patraschkin spricht hier „ganz vernünftige Gedanken" aus, erklärte die Zeitung Menschikows (Nr. 13 588)1. Die Schwarzhunderter loben fortwährend auch die nationalliberale „Russkaja Mysl" für solche „vernünftige" Gedanken. Und wie sollten sie sie nicht loben, da doch die Liberalen mit Hilfe von „kulturellen" Begründungen das propagieren, was den Leuten von der „Nowoje Wremja" so gut gefällt?

Die russische Sprache ist erhaben und gewaltig, sagen uns die Liberalen. Wollt ihr denn wirklich nicht, dass jeder, der in einem beliebigen Grenzgebiete Russlands lebt, diese erhabene und gewaltige Sprache beherrsche? Seht ihr denn nicht, dass die russische Sprache die Literatur der Fremdstämmigen bereichern und ihnen die Möglichkeit bieten wird, an den großen Kulturwerken teilzuhaben usw.?

Das ist alles richtig, ihr Herren Liberalen, antworten wir ihnen. Wir wissen besser als ihr, dass die Sprache der Turgenjews. Tolstois, Dobroljubows, Tschernyschewskis erhaben und gewaltig ist. Wir wünschen dringender als ihr, dass unter den unterdrückten Klassen aller Russland bewohnenden Nationen, ohne Unterschied, eine engere Gemeinschaft und eine brüderliche Einheit zustande komme. Und wir sind selbstverständlich dafür, dass jeder Einwohner Russlands die Möglichkeit habe, die erhabene russische Sprache zu erlernen.

Wir wollen nur eines nicht; das Element der Nötigung. Wir wollen die Menschen nicht mit Stockhieben ins Paradies treiben. Denn mögt ihr noch so viel schöne Phrasen über die „Kultur" hersagen – die obligatorische Staatssprache ist mit Nötigung und Einbläuen verbunden. Wir glauben, dass die erhabene und gewaltige russische Sprache es nicht nötig hat, dass jemand sie unter Stockhieben zu erlernen gezwungen werde. Wir sind überzeugt, dass die Entwicklung des Kapitalismus in Russland und die gesamte Entfaltung des sozialen Lebens überhaupt zur Annäherung der Nationen führt. Hunderttausende Menschen werden von einem Ende Russlands in das andere geworfen, die nationale Zusammensetzung der Bevölkerung wird gemischt, Absonderung und nationale Eigenbrötelei müssen verschwinden. Diejenigen, die infolge ihrer Lebens- und Arbeitsbedingungen auf die Kenntnis der russischen Sprache angewiesen sind, werden sie auch ohne Stockhiebe erlernen. Die Nötigung (der Prügelstock) aber wird nur dazu führen, dass der erhabenen und gewaltigen russischen Sprache der Eingang in die übrigen nationalen Gruppen erschwert wird und vor allen Dingen die Feindseligkeiten verschärft, Millionen neuer Reibereien geschaffen sowie die Gereiztheit und das gegenseitige Nichtverstehen vermehrt werden usw.

Wer braucht das? Das russische Volk, die russische Demokratie brauchen das nicht. Das russische Volk erkennt keinerlei nationale Unterdrückung, auch keine „im Interesse der russischen Kultur und Staatlichkeit" ausgeübte an.

Das ist der Grund, warum die russischen Marxisten sagen, dass das Nichtvorhandensein einer obligatorischen Staatssprache bei Zulassung des Schulunterrichts in allen örtlichen Sprachen und Einfügung eines Grundgesetzes in die Verfassung, das jedwede Privilegien einer Nation sowie jegliche Verletzung der Rechte einer nationalen Minderheit für null und nichtig erklärt, notwendig ist.

1 Lenin analysiert hier den Artikel S. Patraschkins (Grigorjews) „Eine machtvolle Sprache" in der Zeitung „Djen" vom 21. (8.) Januar 1914 und die Notiz in der Rubrik „Zeitungen- und Zeitschriften-Rundschau" der „Nowoje Wremja" vom 22. (9.) Januar 1914.

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