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Wladimir I. Lenin 19140305 Noch etwas über den „Nationalismus"

Wladimir I. Lenin: Noch etwas über den „Nationalismus"

[„Putj Prawdy", Nr. 17. 5. März (20. Februar) 1914. Nach Sämtliche Werke Band 17, Moskau-Leningrad 1935, S. 266-268]

In unserer Zeit", wo Versuche gemacht werden, einen zweiten Fall Beilis zu konstruieren, empfiehlt es sich, die Agitation der Nationalisten des öfteren in Augenschein zu nehmen. Der vor kurzem abgehaltene zweite Kongress der Vertreter des „Allrussischen Nationalverbandes"1 hat besonders anschaulich gezeigt, welcher Art diese Agitation ist.

Es wäre ein großer Fehler anzunehmen, diese Agitation sei bedeutungslos, da dieser ganze „Allrussische Verband" mit seinen 21 Delegierten aus allen Enden Russlands bedeutungslos und fiktiv (illusorisch) sei. Bedeutungslos und illusorisch ist der „Allrussische Nationalverband", aber seine Propaganda wird von allen Rechtsparteien und allen offiziellen Institutionen unterstützt; sie wird in jeder Dorfschule, in jeder Kaserne und in jeder Kirche betrieben.

Hier eine Zeitungsmeldung über eines der Referate, das auf der Konferenz vom 2. Februar gehalten wurde:

Das Mitglied der Reichsduma Sawenko hielt einen Vortrag über die ,Mazeperei', wie die ukrainische Bewegung im Jargon der Nationalisten genannt wird. Der Vortragende hält die separatistischen Bestrebungen (d. h. das Streben nach Lostrennung vom Staate) unter den Weißrussen und Ukrainern für besonders gefährlich. Ganz besonders die ukrainische Bewegung stellt eine große und konkrete Gefahr für die Einheit Russlands dar. Das nächstliegende Programm der Ukrainer läuft auf den Föderalismus und die Autonomie der Ukraine hinaus.

Die Ukrainer verknüpfen ihre Hoffnungen auf die Verwirklichung der Autonomie, auf die Zertrümmerung Russlands in dem künftigen Krieg mit Österreich-Ungarn und Deutschland. Auf den Trümmern des großen Russland werden unter dem Zepter der Habsburger innerhalb der Grenzen Österreich-Ungarns ein autonomes Polen und eine autonome Ukraine gegründet werden.

Sollte es den Ukrainern in der Tat gelingen, dreißig Millionen Kleinrussen vom russischen Volke loszureißen, dann wird das Ende des großen russischen Reiches kommen." (Beifall.)

Warum steht dieser „Föderalismus" weder der Einheit der Vereinigten Staaten Nordamerikas, noch der der Schweiz im Wege? Warum steht die „Autonomie" der Einheit Österreich-Ungarns nicht im Wege? Warum hat die „Autonomie" die Einheit Englands mit vielen seiner Kolonien sogar auf lange hinaus gefestigt?

Herr Sawenko hat den von ihm verteidigten „Nationalismus" besonders ungeschlacht zum Ausdruck gebracht, so dass er die Widerlegung seiner Ideen ungemein leicht macht. Die Autonomie der Ukraine „bedroht", wohlgemerkt, die Einheit Russlands, während das allgemeine Wahlrecht und die Autonomie seiner einzelnen Gebiete Österreich-Ungarn festigen! Wie sonderbar! Werden die Leser und die Zuhörer der „nationalistischen" Predigt nicht darauf kommen, warum die Festigung der Einheit Russlands durch eine Autonomie der Ukraine nicht möglich ist?

Der gutsherrliche und bürgerliche Nationalismus ist bestrebt, durch die Hetze gegen die „Fremdstämmigen" die Arbeiterklasse zu zersplittern und zu demoralisieren, um sie so leichter einzuschläfern. Die klassenbewusstem Arbeiter antworten darauf mit der praktischen Verfechtung der vollen Gleichberechtigung und der Einheit der Arbeiter aller Nationalitäten.

Wenn die Herren Nationalisten die Weißrussen und die Ukrainer als Fremdstämmige bezeichnen, so vergessen sie hinzuzufügen, dass die Großrussen (die einzigen „Nichtfremdstämmigen") in Russland nicht mehr als 43 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachen. Also sind die „Fremdstämmigen" in der Mehrheit! Wie kann die Minderheit die Mehrheit festhalten, ohne dieser Mehrheit die Vorteile der politischen Freiheit, der nationalen Gleichberechtigung und der lokalen und Gebietsautonomie zu gewähren?

Durch die Hetze gegen die Ukrainer und andere wegen ihres Separatismus", wegen ihres Strebens nach Lostrennung, verfechten die Nationalisten das Privileg der großrussischen Gutsherren und der großrussischen Bourgeoisie auf „ihren" Staat. Die Arbeiterklasse ist gegen alle Privilegien, daher verficht sie das Recht der Völker auf Selbstbestimmung.

Die klassenbewussten Arbeiter predigen keine Lostrennung; sie kennen die Vorteile großer Staaten und der Vereinigung großer Arbeitermassen. Die großen Staaten können jedoch nur bei voller Gleichberechtigung der Nationen demokratisch sein, und eine solche Gleichberechtigung bedeutet auch das Recht auf Lostrennung

Der Kampf gegen die nationale Unterdrückung und gegen die nationalen Privilegien ist mit der Verfechtung dieses Rechts untrennbar verbunden.

1 Der Zweite Kongress des Allrussischen Nationalverbandes, wurde am 15. (2.) Februar 1914 in Petersburg eröffnet. Es nahmen an ihm 21 Delegierte teil. Auf dem Kongress referierten Ladomirski über die Tätigkeit des Verbandes in den Jahren 1912 und 1913, Professor P. I. Kowalewski und Akazatow über die Tätigkeit des Nationalklubs, A, I. Sawenko über den Kampf gegen den „Mazepinismus", wie der Referent die ukrainische nationale Bewegung nannte (nach dem ukrainischen Kosakenhetman Iwan Mazepa, dem Anführer der ukrainischen wohlhabenden Bauernschichten in den Kämpfen gegen Moskau im 17. Jahrhundert); G. Poppel über die russische Sache im Baltikum, D. N. Tschichatschow über die Tätigkeit der IV. Reichsduma, Sawenko über die „Nationalisierung" (d, h. Übergang in die Hände der russischen Kapitalisten) des Kreditwesens u. a.

In nichtöffentlichen Sitzungen wurden zu den vom Parteitag entgegengenommenen Referaten Resolutionen beschlossen: über den Kampf gegen den „Mazepinismus", der „durch die Jesuiten und die österreichische Polizei" gefördert werde, über die obligatorische Einführung der russischen Sprache als Staatssprache im Weichselgebiet, ferner über die Organisierung von Filialen der Galizisch-russischen Gesellschaft im ganzen Lande, um über die Verfolgung der Russen und der Anhänger der orthodoxen Kirche in Österreich-Ungarn zu informieren. Am 18. (5.) Februar wurde der Kongress geschlossen.

Lenin verwendet in seinem Artikel den Zeitungsbericht über den Kongress, der in der „Rjetsch" vom 16. (3.) Februar 1914 unter der Überschrift „Der Kongress der Nationalisten" enthalten war.

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