Lenin‎ > ‎1915‎ > ‎

Wladimir I. Lenin 19151011 Die revolutionären Marxisten auf der internationalen sozialistischen Konferenz vom 5.-8. September 1915

Wladimir I. Lenin: Die revolutionären Marxisten auf der

internationalen sozialistischen Konferenz vom 5.-8. September 19151

[Sozialdemokrat Nr. 45/46, 11. Oktober 1915. Nach Sämtliche Werke, Band 18, Wien-Berlin 1929, S. 400-404]

Der auf dieser Konferenz geführte Ideenkampf ging zwischen einer geschlossenen Gruppe von Internationalisten, revolutionären Marxisten, und den schwankenden quasi-Kautskyanern, die den rechten Flügel der Konferenz bildeten. Der Zusammenschluss der genannten Gruppe ist eine der wichtigsten Tatsachen und einer der größten Erfolge der Konferenz. Nach einem ganzen Kriegsjahr erwies sich die von unserer Partei vertretene Richtung als die einzige in der Internationale, die mit einer vollkommen bestimmten Resolution – ebenso mit einem auf ihr beruhenden Manifest-Entwurf – hervorzutreten und die konsequenten Marxisten aus Russland, Polen, Lettland, Deutschland, Schweden, Norwegen, aus der Schweiz und aus Holland zu vereinigen vermochte.

Welche Argumente wurden von den Schwankenden gegen uns ins Feld geführt? Die Deutschen gaben zu, dass wir revolutionären Schlachten entgegengehen, aber – sagten sie – solche Dinge, wie Verbrüderung in den Schützengräben, politische Streiks, Straßendemonstrationen, Bürgerkrieg, dürfe man nicht in die ganze Welt hinausschreien. Das tue man, aber davon spreche man nicht. Und andere fügten hinzu: das sei eine Kinderei, eine bloße Krawallmacherei.

Für diese bis zur Lächerlichkeit, bis zur Unanständigkeit widerspruchsvollen und ausweichenden Reden bestrafen die deutschen Halb-Kautskyaner sich selbst durch Annahme einer Erklärung, worin den Mitgliedern der Russischen Sozialdemokratischen Arbeiter-Fraktion die Sympathie ausgedrückt und die Befolgung des von ihnen gegebenen Beispiels für notwendig erklärt wurde, – obgleich ja gerade sie, diese Mitglieder der RSDA-Fraktion unser Zentralorgan, den Sozialdemokrat verbreitet hatten, der den Bürgerkrieg „in alle Welt hinausschrie“.

Ihr folgt dem schlechten Beispiel Kautskys, antworteten wir den Deutschen: In Worten bekennt ihr euch zu der herannahenden Revolution, in der Tat aber verzichtet ihr darauf, den Massen offen von der Revolution zu sprechen, sie zur Revolution aufzurufen, auf das konkreteste die Kampfmittel anzugeben, die von der Masse im Verlauf der Revolution erprobt und zur festen Regel erhoben werden. Aus dem Auslande – den deutschen Philistern schien es entsetzlich, dass man vom Auslande her über revolutionäre Kampfmittel zu reden sich erlaube! – riefen Marx und Engels im Jahre 1847 in dem berühmten „Manifest der Kommunistischen Partei“ zur Revolution auf, sie sprachen klar und offen von der Anwendung der Gewalt und erklärten die Verheimlichung der revolutionären Ziele, der Aufgaben und Methoden des Kampfs für eine Sache, die zu „verschmähen“ sei. Die Revolution von 1848 bewies, dass allein Marx und Engels mit der richtigen Taktik an die Ereignisse herangegangen waren. In Russland, mehrere Jahre vor der Revolution von 1905, schrieb Plechanow, damals noch Marxist, in der alten „Iskra“ von 1901 in einem Artikel, der als Ausdruck einer von der ganzen Redaktion geteilten Auffassung keine Unterschrift trug, über den kommenden Aufstand und über so bestimmte Mittel zu dessen Vorbereitung, wie z. B. Straßendemonstrationen, ja sogar über solche technische Methoden, wie die Anwendung von Drahtverhauen im Kampf gegen Kavallerie2. Die Revolution in Russland bewies, dass allein die alten „Iskra-Leute“ mit der richtigen Taktik an die Ereignisse herangegangen waren. Auch jetzt gilt: eines von zweien. Entweder haben wir wirklich die feste Überzeugung, dass der Krieg in Europa eine revolutionäre Lage schafft, dass die ganze ökonomische und sozialpolitische Situation der imperialistischen Epoche zur Revolution des Proletariats führt. Dann ist es unsere unbedingte Pflicht und Schuldigkeit, den Massen die Notwendigkeit der Revolution klar zu machen, zur Revolution aufzurufen, die entsprechenden Organisationen zu schaffen und ohne jede Scheu, in der konkretesten Weise über die verschiedenen Methoden des gewaltsamen Kampfes und über seine „Technik“ zu sprechen. Diese unsere unbedingte Pflicht ist nicht davon abhängig, ob die Revolution genügend stark sein und ob sie im Zusammenhang mit dem ersten oder mit dem zweiten imperialistischen Krieg ausbrechen wird usw. Oder aber wir haben diese Überzeugung nicht, dass die Situation revolutionär ist, und dann hat es keinen Zweck, das Wort vom Krieg gegen den Krieg im Munde zu führen. Dann sind wir in Wirklichkeit national-liberale Arbeiterpolitiker von Südekum-Plechanowscher oder von Kautskyscher Färbung.

Die französischen Delegierten erklärten gleichfalls, dass nach ihrer Überzeugung die gegenwärtige Lage der Dinge in Europa zur Revolution führen werde. Aber, sagten sie, wir sind nicht hierher gekommen, um „die Formel der III. Internationale zu geben“, dies zum ersten; zum zweiten aber: der französische Arbeiter „glaubt niemandem und an nichts“; er ist verdorben und übersättigt durch die anarchistische und hervéistischen Phrase. Das erste Argument ist unvernünftig, da in dem gemeinsamen Kompromiss-Manifest immerhin „die Formel“ der III. Internationale „gegeben“ ist, wenn auch eine inkonsequente, unvollständige, nicht zu Ende gedachte. Das zweite Argument ist sehr wichtig, als ernsthafter, sich auf Tatsachen stützender Einwand, nämlich als Berücksichtigung der besonderen Lage Frankreichs – nicht im Sinne der Vaterlandsverteidigung und der feindlichen Invasion, wohl aber im Sinne der „wunden Punkte“ in der französischen Arbeiterbewegung. Aber aus diesem zu berücksichtigenden Moment würde sich nur ergeben, dass die französischen Sozialisten vielleicht langsamer zu den gesamteuropäischen revolutionären Aktionen des Proletariats stoßen könnten, aber keineswegs, dass diese Aktionen unnötig seien. Die Frage, mit welcher Schnelligkeit, auf welchem Wege und unter welchen besonderen Formen das Proletariat der verschiedenen Länder den Übergang zu revolutionären Aktionen zu vollziehen imstande sei – diese Frage wurde auf der Konferenz überhaupt nicht aufgeworfen und sie konnte auch nicht aufgeworfen werden. Dazu fehlen noch die Unterlagen. Einstweilen heißt es für uns, gemeinsam die richtige Taktik zu propagieren, die Ereignisse werden dann schon das Tempo der Bewegung und die (nationalen, lokalen, gewerkschaftlichen) Modifikationen der allgemeinen Richtung der Bewegung angeben. Wenn das französische Proletariat durch die anarchistische Phrase verdorben ist, so ist es auch durch den Millerandismus verdorben, und es ist nicht unsere Sache, diese Korruption dadurch zu steigern, dass wir im Manifest nicht alles klar aussprechen.

Kein anderer als Merrheim selbst ließ einen charakteristischen und absolut richtigen Satz fallen:

Die Partei (die sozialistische), Jouhaux (der Sekretär der General-Konföderation der Arbeit) und die Regierung – das sind drei Köpfe unter einem Hut.“

Das ist wahr. Das ist eine Tatsache, die durch die Erfahrung eines ganzen Jahres im Kampfe der französischen Internationalisten gegen die Partei und gegen die Jouhaux bestätigt worden ist. Aber hier gibt es nur einen Ausweg: man kann nicht gegen die Regierung kämpfen, ohne gegen die Parteien der Opportunisten und gegen die Häupter des Anarchosyndikalismus zu kämpfen. Die Aufgaben dieses Kampfes aber wurden in dem gemeinsamen Manifest, zum Unterschied von unserer Resolution, nur angedeutet, nicht aber bis ins letzte dargestellt.

Ein Italiener, der sich gegen unsere Taktik erklärte, meinte: „Eure Taktik kommt entweder viel zu spät“ (denn der Krieg hat schon begonnen) „oder viel zu früh“ (denn der Krieg hat die Bedingungen für die Revolution noch nicht geschaffen); außerdem empfehlt ihr ja eine „Änderung des Programms“ der Internationale, denn unsere ganze Propaganda hat sich stets „gegen die Gewaltanwendung“ gerichtet. Es fiel uns nicht schwer, darauf mit einem Zitat aus Jules Guesdes „En garde“ („Auf der Wacht“3) zu antworten, wonach kein einziger einflussreicher Führer der II. Internationale jemals die Gewaltanwendung und überhaupt die unmittelbar revolutionären Kampfmethoden negiert hat. Sie alle haben stets erklärt, dass der legale Kampf, der Parlamentarismus und der Aufstand miteinander verknüpft sind und unvermeidlich ineinander übergehen müssen, je nach Änderung der Bedingungen der Bewegung. Übrigens führten wir noch aus demselben Buche „En garde“ ein Zitat aus einer Rede von Guesde aus dem Jahre 1899 an, in der er von der Wahrscheinlichkeit eines Kriegs wegen der Märkte, der Kolonien usw. spricht und zugleich vermerkt: wenn in einem solchen Kriege ein französischer, ein deutscher und ein englischer Millerand auf der Bildfläche erscheinen würde, „was würde da mit der internationalen Solidarität des Proletariats geschehen?“ Guesde hat sich mit dieser Rede im Voraus selbst das Urteil gesprochen. Was aber das „Unzeitgemäße“ der Revolutionspropaganda betrifft, so beruht dieser Einwand auf einer bei romanischen Sozialisten gewohnten Begriffsverwirrung: sie verwechseln den Beginn der Revolution mit der offenen und direkten Propaganda der Revolution. In Russland datiert niemand den Anfang der Revolution von 1905 früher als vom 9. Januar; aber revolutionäre Propaganda im allerengsten Sinne, als Propagierung und Vorbereitung von Massenaktionen, Demonstrationen, Streiks, Barrikaden, wurde schon jahrelang vorher geführt. So führte z. B. die alte „Iskra“ seit Ende 1900 eine solche Propaganda, wie Marx sie schon 1847 eingeleitet hatte, zu einer Zeit, da vom Beginn einer Revolution in Europa noch nicht die Rede sein konnte.

Wenn die Revolution einmal begonnen hat, dann „anerkennen“ sie auch die Liberalen und andere ihrer Feinde, – anerkennen sie oftmals zu dem Zwecke, sie zu beschwindeln und zu verraten. Die Revolutionäre begreifen – vor Eintritt der Revolution, in Voraussicht der Revolution – ihre Unvermeidlichkeit, machen den Massen diese ihre Notwendigkeit klar und erläutern ihnen die Wege und Methoden der Revolution.

Die Ironie der Geschichte fügte es so, dass gerade Kautsky und seine Freunde, die geradeswegs die Einberufung der Konferenz Grimm aus den Händen zu nehmen versucht hatten, die geradeswegs die Konferenz der Linken zu sprengen versucht hatten (Kautskys nächste Freunde machten sogar Reisen zu diesem Zweck, was von Grimm dann auf der Konferenz enthüllt wurde), – dass gerade sie die Konferenz nach links stießen. Die Opportunisten und Kautskyaner beweisen durch ihre Praxis die Richtigkeit der von unserer Partei eingenommenen Haltung.

1 Der Artikel „Die revolutionären Marxisten auf der Internationalen Sozialistischen Konferenz vom 5.-8. September 1915“ wurde bald nach dieser Konferenz geschrieben und im Oktober 1915 im „Sozialdemokrat“ abgedruckt. In dem Artikel wird die Haltung der wirklich revolutionären Minderheit dieser ersten Zimmerwalder Konferenz jener der zentristischen, kautskyanischen Mehrheit entgegengestellt. […] Der vorliegende Artikel Lenins ist eine der Kundgebungen der Zimmerwalder Linken gegen die Zimmerwalder Rechte. [Aus Anm. 68 der „Ausgewählten Werke“, Band 5]

2 Es handelt sich offenbar um Plechanows Artikel „Über Demonstrationen“ in Nr. 14 der „Iskra“ vom 1. Januar 1902.

3 Das von Lenin angeführte Zitat ist Guesdes Rede auf dem Sozialistischen Parteikongress 1899 entnommen.

Kommentare