Wladimir I. Lenin: Ein erster Schritt [„Sozialdemokrat“ Nr. 45/46, 11. Oktober 1915. Nach Sämtliche Werke, Band 18, Wien-Berlin 1929, S. 393-399] Langsam schreitet die Entwicklung der internationalen sozialistischen Bewegung in der Epoche der durch den Krieg verursachten unglaublich schweren Krise vorwärts. Doch bewegt sie sich gerade in Richtung auf den Bruch mit dem Opportunismus und Sozialchauvinismus. Die internationale Sozialistische Konferenz in Zimmerwald (Schweiz) vom 5.-8. September 1915 hat das deutlich gezeigt. Im Laufe eines ganzen Jahres war unter den Sozialisten der kriegführenden und der neutralen Länder ein Prozess der Schwankungen und des Abwartens zu beobachten: man wagte nicht, sich selber die Tiefe der Krise einzugestehen, man scheute sich, der Wirklichkeit gerade ins Gesicht zu schauen, mit tausenderlei Mitteln wollte man den unvermeidlichen Bruch mit den in den offiziellen Parteien Westeuropas vorherrschenden Opportunisten und Kautskyanern hinausschieben. Doch die Beurteilung der Ereignisse, die wir vor einem Jahr im Manifest des Zentralkomitees (Nr. 33 des „Sozialdemokrat“) gegeben haben, erwies sich als richtig; die Ereignisse zeigten, dass sie richtig war; die Ereignisse nahmen eben ihren Gang gerade in solcher Richtung, dass auf der I. Internationalen Sozialistischen Konferenz die protestierenden Elemente der Minderheit (in Deutschland, Frankreich, Schweden, Norwegen) vertreten waren, die Leute, die den Beschlüssen der offiziellen Parteien zuwiderhandelten, d. h. faktisch als Spalter wirkten. Das Resultat der Arbeiten dieser Konferenz besteht in einem Manifest und in einer Sympathieresolution für die Inhaftierten und Verfolgten. Diese beiden Dokumente werden in vorliegender Nummer des „Sozialdemokrat“ veröffentlicht. Die Konferenz lehnte es mit 19 Stimmen gegen 12 ab, den von uns und anderen revolutionären Marxisten eingebrachten Resolutionsentwurf der Kommission zu überweisen, unser Manifest-Entwurf aber wurde zusammen mit zwei anderen zur Ausarbeitung eines gemeinsamen Manifests der Kommission überwiesen. An anderer Stelle dieser Nummer findet der Leser unsere beiden Entwürfe; ihr Vergleich mit dem angenommenen Manifest zeigt klar, dass tatsächlich eine Reihe von grundlegenden Gedanken des revolutionären Marxismus in das Manifest hineingebracht werden konnte. Das angenommene Manifest bedeutet faktisch einen Schritt vorwärts zum ideellen und praktischen Bruch mit dem Opportunismus und Sozialchauvinismus. Gleichzeitig aber leidet dieses Manifest, wie seine Analyse zeigen wird, an Inkonsequenz und Halbheit. Das Manifest erklärt den Krieg für einen imperialistischen und gibt zwei Merkmale dieses Begriffs an: das Streben der Kapitalisten jeder Nation nach Profit, nach Ausbeutung; das Streben der Großmächte nach Aufteilung der Welt und „Versklavung“ der schwachen Nationen. Das Wesentlichste von dem, was über den imperialistischen Charakter des Kriegs gesagt werden muss und was in unserer Resolution auch gesagt ist, wird hier wiederholt. In diesem Teile popularisiert das Manifest nur unsere Resolution. Popularisierung ist eine nützliche Sache, zweifellos. Wenn wir aber in das Denken der Arbeiterklasse Klarheit hineinbringen wollen, wenn wir systematischer, beharrlicher Propaganda Bedeutung beimessen, so müssen wir die Prinzipien, die popularisiert werden sollen, genau und erschöpfend festlegen. Wenn wir das nicht tun, so laufen wir Gefahr, gerade den Fehler, gerade die Sünde der II. Internationale zu wiederholen, die ihren Zusammenbruch verursacht hat, d. h. wir geben Raum für Zweideutigkeiten und falsche Auslegungen. Kann man z. B. leugnen, dass der in der Resolution zum Ausdruck gebrachte Gedanke von der Reife der objektiven Voraussetzungen des Sozialismus von wesentlicher Bedeutung ist? In der „populären“ Darstellung des Manifests ist dieser Gedanke ausgelassen; der Versuch, die klare und präzise prinzipielle Resolution mit dem Aufruf zu einem einheitlichen Ganzen zu verschmelzen, ist misslungen. „Die Kapitalisten aller Länder … behaupten, der Krieg diene der Verteidigung des Vaterlandes … Sie lügen …“ So fährt das Manifest fort. Diese direkte Erklärung, der Grundgedanke des Opportunismus in diesem Kriege, die Idee der „Vaterlandsverteidigung“ sei eine „Lüge“, ist wiederum nur Wiederholung des wesentlichsten Gedankens aus der Resolution der revolutionären Marxisten. Und wiederum haben wir hier eine leidige Halbheit, eine Art von Scheu, von Angst, die ganze Wahrheit auszusprechen. Wer wüsste es denn jetzt nach einem Jahr Krieg nicht: die Tatsache, dass die Lüge der Kapitalisten nicht nur in der kapitalistischen Presse (dazu ist sie eben eine kapitalistische Presse, um die Lüge der Kapitalisten wiederzugeben), sondern auch im größten Teil der sozialistischen Presse Aufnahme und Unterstützung fand, – dies hat sich als das wirkliche Unheil für den Sozialismus erwiesen. Wer wüsste es nicht: nicht die „Lüge der Kapitalisten“ war es, die die gewaltigste Krise des europäischen Sozialismus hervorrief, sondern die Lüge der Guesde, Hyndman, Vandervelde, Plechanow, Kautsky. Wer wüsste es nicht: die Lüge solcher, gerade solcher Führer enthüllte mit einem Male die ganze Macht des Opportunismus – er riss sie im entscheidenden Moment mit sich fort. Man sehe, was sich daraus ergibt. Um der Popularität willen sagt man den breiten Massen, dass die Idee der Vaterlandsverteidigung in diesem Kriege eine Lüge der Kapitalisten sei. Aber die Massen in Europa sind ja keine Analphabeten, und fast alle Leser des Manifests hörten und hören gerade diese Lüge aus Hunderten von sozialistischen Zeitungen, Zeitschriften, Broschüren, die sie immer wieder Plechanow, Hyndman, Kautsky und Co. nachsprechen. Was sollen die Leser des Manifests denken? Was für Gedanken werden ihnen bei dieser sinnfälligen Demonstrierung der von den Verfassern des Manifests an den Tag gelegten Ängstlichkeit in den Kopf kommen? Hört nicht auf die kapitalistische Lüge von der Vaterlandsverteidigung, – lehrt das Manifest die Arbeiter. Schön. Fast alle werden antworten oder bei sich denken: die Lüge der Kapitalisten regt uns seit langem nicht mehr auf, aber nun die Lüge der Kautsky und Co. … Weiter greift das Manifest noch einen wesentlichen Gedanken unserer Resolution auf, wenn es erklärt, die sozialistischen Parteien und die Arbeiterorganisationen der verschiedenen Länder hätten die sich aus den Kongressbeschlüssen von Stuttgart, Kopenhagen und Basel ergebenden Verpflichtungen mit Füßen getreten, ebenso habe das Internationale Sozialistische Büro seine Pflicht nicht erfüllt, und zwar habe diese Pflichtverletzung in der Bewilligung der Kriegskredite, im Eintritt in die Ministerien und in der Anerkennung des „Burgfriedens“ bestanden. (Das Manifest spricht von sklavischer Unterwerfung unter den Burgfrieden, d. h. es beschuldigt Guesde, Plechanow, Kautsky und Co., die Propaganda für den Sozialismus durch die Propaganda sklavischer Ideen ersetzt zu haben.) Es fragt sich, ob dies konsequent ist: in einem „populären“ Manifest von der Pflichtversäumnis einer Reihe von Parteien zu sprechen – bekanntlich handelt es sich um die stärksten Parteien und Arbeiterorganisationen in all den vorgeschrittensten Ländern, in England, Frankreich und Deutschland – und dann diese frappierende, unerhörte, nie dagewesene Tatsache nicht weiter zu erklären? Pflichtverletzung bei der Mehrheit der sozialistischen Parteien und beim Internationalen Sozialistischen Büro selbst! Was ist denn das? Zufall und Zusammenbruch einzelner Personen? Oder ist das die Wende einer ganzen Epoche? Ist ersteres der Fall, lassen wir einen solchen Gedanken in den Massen aufkommen, so bedeutet das unsere Lossagung von den Grundsätzen der sozialistischen Lehre. Ist das zweite der Fall, – wie bringt man es dann fertig, davon nicht offen zu sprechen? Ein Moment von welthistorischer Bedeutung, Zusammenbruch der ganzen Internationale, Umschwung einer ganzen Epoche, – und wir fürchten uns, den Massen zu sagen, dass man die ganze Wahrheit suchen und finden muss, dass man seine Gedanken zu Ende denken muss, dass es unsinnig und lächerlich wäre, den Zusammenbruch des Internationalen Sozialistischen Büros und einer Reihe von Parteien voraussetzen zu wollen, ohne diese Erscheinung mit der langjährigen Geschichte von Entstehung, Wachstum, Reife und Überreife der gesamteuropäischen opportunistischen Richtung in Verbindung zu bringen, die ihre tiefen ökonomischen Wurzeln hat, – tief im Sinne eines unlösbaren Zusammenhangs nicht mit den Massen, sondern mit einer bestimmten Schicht der Gesellschaft. Zum „Kampf für den Frieden“ übergehend, erklärt das Manifest: „Dieser Kampf ist der Kampf für die Freiheit, für die Völkerverbrüderung, für den Sozialismus“ – und weiter wird auseinandergesetzt, im Kriege brächten die Arbeiter Opfer „im Dienste der herrschenden Klassen“, es gelte aber vielmehr „für die eigene Sache“ (im Manifest doppelt unterstrichen), „für die heiligen Ziele des Sozialismus“ Opfer zu bringen; in der Sympathieerklärung für die verhafteten und verfolgten Kämpfer aber heißt es, dass „die Konferenz sich feierlich verpflichtet, diese lebenden und diese toten Kämpfer durch Nachahmung des von ihnen gegebenen Beispiels zu ehren“, und dass sie sich die Aufgabe stellt, „den revolutionären Geist im internationalen Proletariat zu wecken“. Alle diese Gedanken sind eine Wiederholung jenes wesentlichen Gedankens unserer Resolution, dass der Kampf für den Frieden ohne revolutionären Kampf eine leere, verlogene Phrase ist, dass der einzige Weg zur Erlösung von den Gräueln des Kriegs im revolutionären Kampf für den Sozialismus besteht. Aber auch hier wieder Halbheit, Inkonsequenz, Ängstlichkeit: die Massen werden aufgefordert, das Beispiel der revolutionären Kämpfer nachzuahmen, es wird erklärt, dass die fünf zur Verschickung nach Sibirien verurteilten Mitglieder der Russischen Sozialdemokratischen Arbeiter-Fraktion die „glorreichen revolutionären Traditionen Russlands“ fortgesetzt haben, es wird die Notwendigkeit verkündet, „den revolutionären Geist zu wecken“, und … von den revolutionären Kampfmitteln wird mit keinem direkten, offenen, bestimmten Wort gesprochen. Sollte unser Zentralkomitee das an Inkonsequenz und Ängstlichkeit leidende Manifest unterschreiben? Wir glauben, ja. Unsere abweichende Meinung – die abweichende Meinung nicht nur des Zentralkomitees, sondern des gesamten linken, internationalen, revolutionär-marxistischen Teils der Konferenz – wird offen bekundet, und zwar ebenso in der besonderen Resolution wie in dem besonderen Manifest-Entwurf und wie in einer besonderen Erklärung zur Abstimmung für das Kompromiss-Manifest. Wir haben aus unseren Anschauungen, unseren Losungen, unserer Taktik nicht in einem einzigen Punkte ein Hehl gemacht. Auf der Konferenz wurde die deutsche Ausgabe der Broschüre: „Sozialismus und Krieg“ verteilt. Unsere Anschauungen haben wir verbreitet, wir verbreiten sie und wir werden sie weiter verbreiten, in nicht geringerem Maße, als das Manifest verbreitet werden wird. Dass dieses Manifest einen Schritt vorwärts macht zum wirklichen Kampf gegen den Opportunismus, zur Spaltung und zum Bruch mit dem Opportunismus, – ist Tatsache. Es wäre Sektiererei, wollte man darauf verzichten, gemeinsam mit der Minderheit der Deutschen, Franzosen, Schweden, Norweger und Schweizer diesen Schritt vorwärts zu tun, solange wir uns die volle Freiheit und die volle Möglichkeit wahren, die Inkonsequenz zu kritisieren und Besseres zu erstreben*. Es wäre eine schlechte Kriegstaktik, wollte man es ablehnen, mit der wachsenden internationalen Bewegung des Protestes gegen den Sozialchauvinismus gemeinsam zu marschieren, nur weil diese Bewegung sich langsam entwickelt, weil sie „nur einen“ Schritt vorwärts geht, weil sie bereit und gewillt ist, morgen wieder einen Schritt rückwärts zu gehen und mit dem alten Internationalen Sozialistischen Büro ihren Frieden zu machen. Die Bereitschaft zur Aussöhnung mit den Opportunisten ist einstweilen bloßer Wunsch, nicht mehr. Werden die Opportunisten auf den Frieden eingehen? Ist er objektiv möglich, dieser Friede zwischen den Strömungen des Sozialchauvinismus, des Kautskyanismus und des revolutionären internationalen Marxismus, die durch immer tiefere Gegensätze voneinander getrennt werden? Wir denken: nein, und wir werden auch weiter unsere Linie verfolgen, ermutigt durch ihren Erfolg auf der Konferenz vom 5.-8. September. Denn der Erfolg unserer Linie ist unzweifelhaft. Man vergleiche die Tatsachen. Im September 1914 das Manifest unseres Zentralkomitees – es schien ganz vereinsamt dazustehen. Im Januar 1915 die internationale Frauenkonferenz mit ihrer armseligen pazifistischen Resolution, der das OK blindlings folgt. Im September 1915 schließen wir uns als internationale Linke zu einer ganzen Gruppe zusammen, treten mit eigener Taktik auf, bringen in einem gemeinsamen Manifest eine Anzahl unserer Grundideen zum Ausdruck, beteiligen uns an der Bildung einer Internationalen Sozialistischen Kommission (ISK), d. h. faktisch eines neuen Internationalen Sozialistischen Büros, gegen den Willen des alten Büros, auf Grund eines Manifests, in dem die Taktik des alten geradeswegs verurteilt wird. Die Arbeiter Russlands, die in ihrer erdrückenden Mehrheit noch 1912-1914 unserer Partei und ihrem Zentralkomitee Gefolgschaft leisteten, werden jetzt aus der Erfahrung der internationalen sozialistischen Bewegung ersehen, dass unsere Taktik auch auf breiterer Arena bekräftigt wird, dass unsere Grundgedanken von einem immer größer werdenden, – von dem besten Teile der proletarischen Internationale geteilt werden. * Das aber „das OK“ und die Sozialrevolutionäre das Manifest unterzeichnet haben aus Diplomatie, unter Aufrechterhaltung aller ihrer Verbindungen – und all ihrer Verbundenheit – mit „Nascha Sarja“, mit Rubanowitsch und der Julikonferenz der Volkssozialisten und Sozialrevolutionäre Russlands (1915), – das schreckt uns nicht. Wir haben Möglichkeiten genug, die faule Diplomatie zu bekämpfen und zu entlarven. Sie selber entlarvt sich immer mehr. „Nascha Sarja“ und die Fraktion Tschcheïdse helfen uns Axelrod und Co. zu entfernen. |