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Wladimir I. Lenin 19150800 Zwei Briefe an A. M. Kollontai

Wladimir I. Lenin: Zwei Briefe an A. M. Kollontai

[Geschrieben im Sommer 1915. Zum ersten Mal veröffentlicht im Jahre 1924 im russischen „Lenin-Sammelbuch" Nr. 2. Nach Sämtliche Werke, Band 18, 1929, S. 235-237]

I.

Liebe Genossin! Mit der Konferenz der „Linken" geht es vorwärts. Eine erste „Vorkonferenz" hat bereits stattgefunden1 und die zweite, die entscheidende, steht vor der Tür"2 Es wäre höchst wichtig, die linken Schweden (Höglund) und Norweger zu gewinnen.

Wollen Sie so gut sein, uns zu schreiben, 1. ob wir mit Ihnen (bzw. ob Sie mit dem ZK.) solidarisch sind, andernfalls: in welchen Punkten nicht, und 2. ob Sie es übernehmen, die „linken" Skandinavier zu gewinnen.

Ad 1. Unsere Haltung ist Ihnen aus dem „Sozialdemokrat" bekannt. In den russischen Fragen werden wir nicht für die Einheit mit der Fraktion Tschcheidse sein (was Trotzki wie das OK. und wie Plechanow und Co. wollen: siehe den „Krieg"), denn das hieße einfach „Nasche Djelo" decken und verteidigen. In den internationalen Angelegenheiten werden wir nicht für die Annäherung an Haase-Bernstein-Kautsky sein (weil sie in der Tat die Einheit mit den Südekums wollen und sie decken möchten, weil sie sich mit linken Phrasen aus der Schlinge ziehen und an der alten verfaulten Partei nichts ändern möchten). Wir können nicht für die Losung des Friedens eintreten, weil wir sie für eine durch und durch konfuse, pazifistische und spießbürgerliche Losung halten, die nur für die Regierungen von Nutzen ist (die möchten jetzt mit der einen Hand „für den Frieden" sein, um aus der Sackgasse herauszukommen) und die den revolutionären Kampf bremst.

Nach unserer Ansicht müssen die Linken mit einer gemeinsamen grundsätzlichen Deklaration auf den Plan treten, enthaltend 1. die unbedingte Verurteilung der Sozialchauvinisten und Opportunisten, 2. ein revolutionäres Aktionsprogramm (ob man sagt: Bürgerkrieg oder revolutionäre Massenaktionen, – das ist nicht gar so wichtig), 3. Ablehnung der Losung der „Vaterlandsverteidigung" usw. Eine grundsätzliche Deklaration der „Linken", abgegeben im Namen einiger Länder, hätte gigantische Bedeutung (natürlich nicht im Sinne der Zetkinschen Banalität, die sie auf der Frauenkonferenz in Bern durchgesetzt hat: Zetkin hat den Punkt von der Verurteilung des Sozialchauvinismus umgangen!!! Vielleicht aus dem Wunsch nach „Frieden" mit den Südekums und Kautskys??).

Wenn Sie mit dieser Taktik nicht einverstanden sind, so schreiben Sie sofort ein paar Worte.

Wenn aber ja, so übernehmen Sie die Übersetzung 1. des ZK.-Manifests („Sozialdemokrat" Nr. 33) und 2. der Berner Resolutionen („Sozialdemokrat" Nr. 40) ins Schwedische und Norwegische, setzen Sie sich mit Höglund in Verbindung, – ob die auf dieser Grundlage (wegen Einzelheiten, versteht sich, werden wir nicht auseinandergehen) eine gemeinsame Deklaration (oder Resolution) auszuarbeiten bereit sind. Eile tut hier doppelt und dreifach not.

Ich warte also auf Antwort. Alle möglichen Grüße.

Ihr Lenin

II.

Liebe A. M.! Wir haben uns über die Erklärung der Norweger und Ihre Bemühungen bei den Schweden sehr gefreut. Verteufelt wichtig wäre ein gemeinsames internationales Auftreten der linken Marxisten! (Eine prinzipielle Erklärung ist die Hauptsache und einstweilen allein möglich.)

Roland-Holst, ebenso Rakowski (haben Sie seine französische Broschüre gesehen?3) und auch Trotzki sind nach meiner Meinung allesamt die schädlichsten „Kautskyaner", und zwar in dem Sinne, dass sie alle in den verschiedensten Formen für die Einheit mit den Opportunisten sind, dass sie alle in den verschiedensten Formen den Opportunismus beschönigen, dass sie alle (auf verschiedene Art) den revolutionären Marxismus durch den Eklektizismus ersetzen.

Ihre Kritik an dem Deklarationsentwurf scheint mir zu zeigen (wenn ich nicht irre), dass keine ernsten Meinungsverschiedenheiten zwischen uns bestehen. Ich halte es für theoretisch falsch und praktisch schädlich, die verschiedenen Typen des Kriegs nicht zu unterscheiden. Wir können nicht gegen nationale Befreiungskriege sein. Sie nehmen als Beispiel Serbien. Stünden aber die Serben allein gegen Österreich, – wären wir dann etwa nicht für die Serben?

Der Kernpunkt ist jetzt der Kampf zwischen den Großmächten um die Neuaufteilung der Kolonien und um die Unterwerfung der kleinen Mächte.

Ein Krieg Indiens, Persiens, Chinas usw. mit England oder Russland? Wären wir etwa nicht für Indien gegen England etc. Dies als „Bürgerkrieg" zu bezeichnen wäre nicht exakt; wäre offensichtlich an den Haaren herbeigezogen. Es ist außerordentlich schädlich, den Begriff des Bürgerkriegs übermäßig zu dehnen, weil dadurch der Kern der Sache verwischt wird: Krieg der Lohnarbeiter gegen die Kapitalisten des gegebenen Staates.

Gerade die Skandinavier mit ihrer Verneinung des „Kriegs" schlechthin verfallen augenscheinlich in spießbürgerlichen und kleinstaatlichen4 Pazifismus. Das ist nicht marxistisch. Dagegen, wie auch gegen ihre Ablehnung der Miliz, muss man kämpfen.

Nochmals Gruß und Glückwunsch zu der norwegischen Deklaration!

Ihr Lenin

1 Die „Vorkonferenz" fand Mitte Juli 1915 in Bern statt. Auf der Konferenz wurden organisatorische Fragen in Zusammenhang mit der Vorbereitung der (Zimmerwalder) Internationalen Sozialisten-Konferenz erörtert. Anwesend waren außer Vertretern der italienischen Sozialistischen Partei und der Schweizer Sozialdemokratie auch Vertreter des OK. (P. Axelrod) und des ZK, (G. Sinowjew). Der italienische Sozialist Morgari informierte die Konferenz über die Ergebnisse seiner Reise zu den Mitgliedern des Internationalen Sozialistischen Büros, auf dessen Einberufung die Italienisch-Schweizerische Konferenz in Lugano gedrängt hatte. Die Führer des Internationalen Büros verweigerten kategorisch die Einberufung. – Die Hauptfrage der Vorkonferenz war die Zusammensetzung der Konferenz. Da die offizielle Initiative zur Einberufung der Internationalen Konferenz von italienischen und schweizerischen Sozialisten ausging, deren Standpunkt jedoch von einem konsequenten Internationalismus weit entfernt war, sprach sich die Mehrheit der Vorkonferenz (gegen die Stimme des Vertreters des ZK. der SDAPR.) für die Einladung „derjenigen Parteien oder Parteiteile, überhaupt derjenigen Arbeiterorganisationen" aus, „die dem Prinzip des Klassenkampfes und der internationalen Solidarität treu geblieben sind, die Bewilligung der Kriegskredite ablehnen" usw. Faktisch aber waren die Organisatoren der Konferenz bestrebt, deren Zusammensetzung möglichst zu erweitern, um auch Kautsky und seine Gesinnungsgenossen hinzuziehen zu können. Es ist zu beachten, dass die Konferenz bald nach Erscheinen des Manifests von Kautsky, Haase und Bernstein „Gegen Annexionen" stattfand. Der Vertreter des ZK. der Bolschewiki vertrat den Standpunkt, dass zur Konferenz nur die wirklich internationalistischen Elemente hinzugezogen werden sollten, die sich zu dieser Zeit bereits in den meisten Ländern in den offiziellen sozialdemokratischen Parteien herausgebildet hatten. Die Mehrheit lehnt diesen Antrag ab.

2 Gemeint ist die Zimmerwalder Konferenz.

3 Es handelt sich um die Broschüre von Charles Dumas und P. Racovski: „Les socialistes et la guerre" („Die Sozialisten und der Krieg"), erschienen in Bukarest 1915 (russische Ausgabe 1919 in Petrograd).

4Lenin schreibt hier (deutsch): „kleinstätisch".

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